Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

All die schönen Reichen

Jede Zeit hat ihre Kunst, ihre Sexualmoral und ihre Ausnahmen, ihre Gifte und Torheiten - bei uns sind es neben einer angeekelten Selbstverständlichkeit des Geschlechtlichen das Hungern und das Optimieren. Das sind, relativ zu anderen Epochen betrachtet, ganz erhebliche Torheiten, und sie wollen auch nicht so schnell verschwinden.

Natürlich bist Du nicht hübsch, aber für mich gibt es nichts Schöneres als Dich.
Coco Chanel

Ich darf zu Beginn, bevor wir uns mit der Gegenwart beschäftigen, vielleicht zwei Beispiele aus der Geschichte meiner eigenen Gesellschaftsschicht bemühen, die für mich eine Frage aufwerfen: Tun wir uns weh, weil es manchmal sein muss, oder leiden wir immer, weil wir es nicht anders kennen?

Im 18. Jahrhundert war “Belladonna” ein beliebtes Untensil der Schönheitspflege. Belladonna enthält Atropin, ein Extrakt der schwarzen Tollkirsche, und damit weiss vermutlich jeder: Es ist giftig. Das trifft zu, aber eines der Anzeichen der Vergiftung ist eine Weitung der Pupillen, das wiederum erscheint uns als “schön”, und so kamen die Damen zum Belladonna, die Männer zu einem feurigen, undwiderstehlichen Blick und die Tollkirsche zu ihrem schönen lateinischen Namen: Atropa Belladonna.

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Fairerweise muss man sagen, dass schon damals die Giftigkeit des Mittelchens wohlbekannt war, und die Damen sich damit nur in entscheidenden Momenten verschönerten, wenn es wichtig war, besonders faszinierend zu erscheinen: Bälle, Empfänge, Verführungen, Hochzeiten, auf dass die Männer wie Fliegen in den grundlosen, schwarzen Seen der Pupillen ertranken. Ansonsten behalf man sich eher mit dem Halbdunkel der Räume, um die Pupillen zu weiten und eventuelle Gebrechen zu verschleiern. Gegen Hautunreinheiten halfen Gesichtsüberzüge mit wachshaltigen Kosmetika, zur Perfektion hatte man als künstlichen Leberfleck das Schönheitspflaster, und an der folgenden Syphilis dürften insgesamt mehr Menschen gestorben sein, als an den paar Tropfen Tollkirschengift.

Dann setzte sich das Bürgertum durch. Mit dem Bürgertum ändert sich alles, die Vorstellung der Ehe etwa und die Moral, aber auch der Griff der silbernen Teekannen. Man gibt die massiv silbernen Griffe des Rokoko auf und verwendet fast schwarzes Ebenholz, obwohl Silberprodukte im 19. Jahrhundert sehr viel billiger und die Kannen erheblich schwerer werden. Diese Veränderung ist allein durch das Schönheitsideal der Zeit zu erklären: Möglichst weiss und bleich müssen Haut und Hände der Bürgersfrauen sein, und gegen einen schwarzen Holzgriff erscheint Haut beim repräsentativen Tee sehr viel heller, als gegen einen glänzenden Silbergriff. Zu jenem Zwecke gibt es damals sogar schwarzes Porzellan, und wer sich wundert, warum das Porzellan der Biedermeierzeit so bunt ist, findet im Kontrast zur Haut eine logische Erklärung.

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Das klingt erst mal klüger als die Verwendung eines Nervengifts zur Pupillenerweiterung, lässt aber noch die Hautbleichung ausser Acht: Jene Zeit ist es, die vom altbekannten Cerasso, einer seit der Antike verwendeten Bleimischung, abkommt und statt dessen – es ist die Zeit der chemischen Erfindungen – auf ungleich effektivere und giftigere Quecksilbermischungen umsteigt. Und es erscheint mir nicht ganz zufällig, dass die Literatur des atropingetränkten Rokoko so viele herzrythmusbeschleunigte, lebhafte Damen kennt, während das quecksilberverseuchte Biedermeier gerne von Frauen erzählt, die schnell ohnmächtig werden, Migräne haben und Schwindel empfinden.

In einer schönen, grossen und reichen Stadt des Südens nun gibt es heute eine Zeitschrift, deren Chefredakteurin ihren Mitarbeiterinnen zwecks Einhaltung körperlicher Idealmasse das Essen verbietet. Es ist eine dieser Zeitschriften, die das Dauernuckeln an der kohlensäurefreien Wasserflasche ebenso fördert wie Minimaldiäten und pseudowissenschaftliche Indices, um dann zu jeder Zeit und am besten auch noch jenseits der 50 in Kleider zu passen, die dem Rest der Menschheit den Anblick der Folgen von Mangelernährung zu ersparen. Eine Bekannte hat dort wieder gekündigt, und was sie erzählt, klingt nach einer kollektiven Mischintoxination von Belladonna und Quecksilber mit allen Nebenwirkungen. Und würde man heute nicht auch Bücher mit öffentlich zur Schau getragener Bulimie verkaufen können, würde ich sagen: Ein Tollhaus. Wie kann man nach einem Viertel Jahrtausend immer noch so dumm sein? Wie kann sich das so ausbreiten, wie kann das Unkulturgut so tief und breit einsinken? Wieso muss das vom kurzfristig vergifteten Adel über das dauerverseuchte Bürgertum zum verbindlichen Lebensstil für alle werden, deren Vorfahren vieles erdulden mussten, aber wenigstens nicht jene Exzesse, über die man nach einiger Zeit zurecht den Kopf schüttelt? Und kann man sich dann überhaupt noch über die neuere deutsche Literatur aus Frauenhand wundern, in der keine Heldin nicht wenigstens eine ordentliche Essstörung und ein paar Selbstmordversuche mitmacht?

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Als sich das bürgerliche Lager anschickte, zur bestimmenden Klasse zu werden, gab es diese Idee, vom verlotterten Adel die ein oder andere theoretische Tugend zu nehmen, und all die unnatürlichen Fehlentwicklungen zu vermeiden. Das hat offensichtlich nur begrenzt funktioniert, die Marotten stehen nicht nur allen offen, sie werden auch breit genutzt und kultiviert. Mir könnte es egal sein – dass “Fruchtbombe am Furkapass und Mirabellenmassaker in Meran: Die 1000 besten Tortenrezepte des Alpenraums, aufgeschrieben in einem unterhaltsamen Reiseroman von einem bumberlg’sunden Reisenden ohne Sexproblem” kein Bestseller werden würde, war mir schon immer klar – aber diese andere Einstellung, die nähert sich meinem Refugium. Es begann damit, dass der “rüstige Rentner” verschwand und der “aktive Lebensgeniesser” auftauchte. Dem rüstigen Rentner war es noch egal, wenn er wie eine Kreuzung aus Helmut Kohl und Norbert Blühm aussah, der aktive Lebensgeniesser kann, neben mir am See sitzend, über die richtigen Golfschuhe genauso sprechen wie über Schönheits-OPs für den Mann. Die er nicht braucht, aber er kennt doch jemanden, und deshalb weiss er auch, wer das in Bad Wiessee kann und wer nicht. Das sind so die Momente beim Essen am Strandbad, da wünschte man sich, man hätte einen anderen Platz gesucht und könnte sich noch in der Illusion wiegen, es gäbe ein Alter, in dem der Bodymass-Index keine Bedeutung mehr hätte.

Man wird gewissermassen von den Flügeln her aufgerollt. Auf der einen Seite jene, denen die Essstörung von der Patchworkfamilie und den Medien in die Wiege gelegt wurde, auf der anderen Seite jene, die schon alles haben und finden, dass sie auch fünf Jahre jünger ausschauen könnten, weil das Geld, das haben sie ja. Keine Perücken wie im Rokoko, aber jede Woche zum Friseur. Die Frau geht zur Wellness, der Mann geht mir, da gibt es inzwischen ja auch so Angebote für die Männer. So ein strahlendes Gewinnerlächeln kommt nicht mehr so sauber unter den Tränensäcken rüber, kann man da etwas tun? Man kann. Man kann es als eine Art der Gleichberechtigung betrachten, als Herdentrieb, als Zeitgeist, als Modetorheit, vor allem aber als etwas, das gekommen ist, um zu bleiben. Vielleicht ist das ja etwas für den deutschen Literaturbetrieb: Roman über die Innenansicht eines bösen, reichen Opa im Sportwahn mit Bulimie, krassen Sexpraktiken und Hang zu minderjährigen Prostituierten, um sich zu beweisen.

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Es ist, als würde jemand, eine unerklärliche Macht, an den Stellschrauben der Massengesellschaft drehen, als würden manche Schichten sich dem Druck sofort hingeben und andere langsam nachrutschen, sei es nun aus freien Stücken oder in Folge des Konkurrenzdrucks, der keinen Platz mehr für eher runde und selbstzufriedene Menschen kennt. Für eine Oberschicht sind solche Tendenzen nicht weniger als die Infragestellung ihrer Position: Wozu ist man eigentlich oben, wenn man sich dort dem gleichen und dauerhaften Optimierungsdruck aussetzt, der ansonsten stets das Kennzeichen jener ist, die so etwas aufgrund mangelnder Privilegien nötig haben. Man träufelt kein Belladonna mehr in die Augen, man nimmt kein Quecksilber mehr zum Tee, es ist auch gar nicht nötig: Das Gift, das uns die Torte verweigern lässt, ist längst in unserem Hirn.

Entschuldigen Sie mich bitte. Teezeit! Ich glaube, ich gehe jetzt erst mal die wohlgenährte Konditorenverkäuferin besuchen.