Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Ein ganzer Mann

Hoch, weiblich und vor allem historisch korrekt: Für bürgerliche Opernfreunde sind Kastratenrollen auch heute noch mitunter fast eine Zumutung, widersprechen sie doch gewohnten Mustern des Aufführungsbetriebs. Venezia Fröscher kennt jedoch gute Gründe, warum man sich besser wieder an den nur scheinbar weibischen Originalklang gewöhnen sollte.

Keine Weibsperson bei hoher Strafe darf Musik aus Vorsatz lernen.”
Papst Clemens IX, 1668

Praeludium

Don Alphonso (in einem Teufelskostüm im Stil der spanischen Hofmode):

Ein wahrhaft überirdisches Vergnügen!
Wäre es, könnte man unbelastet auch über schwerste Themen schreiben. Allein, mitunter versagt mir die digitale Feder. Die Finger verkrampfen sich zu Klauen. Es zieht die Zehennägel ein, dass die Füsse als Klumpen zurückbleiben. Sehen Sie (deutet auf den rechten Bocksfuss), das passierte, als ich nacheinander über Ikea, Alban Berg, Kinderkriegen und eine Testfahrt im Opel Astra schreiben wollte. Das zahlt keine Krankenversicherung, kein Eurorettungsfonds, kein Bankenretter! Die haben gerade andere Sorgen. Jedenfalls, eine schwere Behinderung reicht mir, und nachdem mir ein gewisses Thema sicher auch jede Menge Schmerzen, diesmal (mit einer typischen Gebärde) wo-an-ders bereiten würde – hat sich dankenswerterweise die junge Dramaturgin Venezia Fröscher bereit gefunden, die entsprechenden Schritte und Sch… Sch… (verzieht das Geschicht) Schnitte beim Thema der musikalisch von mir sehr geschätzten Kastraten und warum das so sein muss vorzunehmen.

Bild zu: Ein ganzer Mann

Geht etwas verklemmt ab, die Autorin Venezia Fröscher betritt im Rokokokostüm die Blogbühne, es zupft eine Viola da Gamba, und sie hebt an:

Sinfonia

Da saß ich nun, ich theaterunschuldiges Ding, damals noch Studentin der Musikwissenschaft. Man hatte mich gefragt, ob ich nicht für ein freies Opernprojekt als Regieassistentin arbeiten wolle. Irgendwie war mein Name bis zu diesem barockbegeisterten Regisseur durchgedrungen: „Venezia, das Souvenir ihrer Eltern eines Italienurlaubs, die will Theater.” Und nun saß ich in dieser riesigen Industriehalle, fußballfeldgroß, neben mir am Regiepult jener barockaffine Regisseur und zwei dicke Klavierauszüge. Erster und zweiter Teil von Alessandro Scarlattis Oper Caino overo il primo omicidio aus dem Jahr 1707. Der erste Mord der Menschheit sollte also in dieser kulturfernen Industriehalle inszeniert werden. Vor mir standen zwei Damen, die Sängerinnen von Kain und Abel, rechts auf dem später rotlackierten Orchesterpodest thronte ein einsamer Cembalist.

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Entfesselte Koloraturen, energetisch wie Wasserfälle, fluteten den Raum; Melodiebögen tanzten schwerelos und graziös. Die beiden Brüder, jung, spielerisch, noch sorgenfrei traten mir musikalisch vor Augen: Kain und Abel, ihre Stimmen leuchteten klar und warm wie ein Frühlingstag, eingebettet in das zarte Geflecht der Cembalobegleitung. Ein Wohllaut voller Eleganz, Leidenschaft und Filigranität. „Halb zog er mich, halb sank ich hin” – dieser Scarlatti, dieses Feuerwerk an barocker Musik verwandelte die kalte Industriehalle in den ästhetischsten und wärmsten Ort auf Erden. Von da an war ich ihnen verfallen: sowohl den Barockopern und Oratorien als auch ihren Alt- und Sopranstimmen, die eine männliche Figur verkörperten. So wurden Kastraten und Countertenöre zu meinen persönlichen Helden. Männer in meiner Umgebung schüttelten mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht die Köpfe: „Was willste denn mit denen? Das sind doch keine Männer.” „Das denkt ihr.” – ist dann immer meine Antwort.

Atto primo – Der männliche Körper

Spätestens mit der romantischen Oper verdrängte der Tenor den barocken Kastraten. Nun war er, diese „hohe-C-Schleuder” à la Caruso, Alfredo Kraus, Pavarotti oder Jonas Kaufmann, der virile Liebhaber und der tonschöne Held auf der Opernbühne. Was wäre eine Wagneroper ohne den Heldentenor? Ein Trauerspiel. Der Tenor wurde zur männlichen Paraderolle der romantischen Oper. Für ihn lohnt es sich seitens der Operndamenwelt zu kämpfen, zu morden, zu rächen, zu leiden und sogar zu sterben. Ein Tenor verkörpert in der romantischen Opernwelt das, was beispielsweise einem Brad Pitt oder Sean Connery attestiert wird: Männlichkeit. Der attraktive Mann, der Frauenheld, ist energetisch, potent, muskelstark und stimmlich sonor. Denn es ist die Stimme, die uns Auskunft über die Körperbeschaffenheit und das Geschlecht gibt.

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Diese Wahrnehmung von Stimme und Körper funktioniert für uns dabei über bürgerlich-naturalistische Maßstäbe. Wir kategorisieren anhand der biologischen Körperbeschaffenheit, was männlich oder weiblich ist, und koppeln dabei das jeweilige Geschlecht gleichzeitig an bestimmte Kleidung, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und eine bestimmte Stimmhöhe. Das ist der Grund, weshalb wir einen Mann eben nur dann als männlich begreifen, wenn er eine nicht weiblich hohe Stimme hat. Dies trifft auch auf den in hohen Lagen singenden Tenor zu, der trotz aller Höhe nie in den Stimmbereich einer Frau wechselt. Dieses Zuordnungssystem gilt für die Alltagwelt, wie für das Opernrepertoire des späten 18. bis 20. Jahrhunderts und die Popmusik. Die Wise Guys trällern es beispielsweise auf ihren CDs: „Bässe sind die Krone der Schöpfung aller Sänger, Bässe kommen tiefer und bleiben abends länger.” Je tiefer, je männlicher. Die Kategorisierung von Stimme und Geschlechtlichkeit ist variabel, weil sie vom jeweiligen Welt- und Menschenbild einer Epoche abhängig ist.

Atto secondo – Das Weib habe zu schweigen

Andere Epochen, andere Männlichkeiten und andere Stimmhöhen. In den Pausen von Barockopernveranstaltungen höre ich es mit einiger Regelmäßigkeit: Verwirrt reflektieren die Opernbesucher über das gerade gehörte Musikerlebnis. „Und wer ist nun wer? Ist das eine reine Frauenoper; da muss es doch auch einen Mann geben?” Als Kenner des eher bürgerlichen Opernrepertoires des 19. Jahrhunderts wähnt man sich betrogen: Es taucht nicht der bekannte Tenor auf, und zu allem Überfluss singt der einzige männliche Held von der guten Seite mit einer weibischen Stimme. Die Bösewichte sind sowieso schon immer alle in der tieferen Stimmregion unterwegs gewesen. Plötzlich sind alle Konventionen hinfällig, die uns helfen, das richtige Geschlecht der jeweiligen Stimme zuzuordnen. Unsere Kategorien von Stimme und Körper greifen hier nicht mehr, denn wir befinden uns im Barock und da gelten andere Zuweisungen.

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Die katholische Kirche legte sich im 16. Jahrhundert selbst ein Ei, als sie den 1. Paulusbrief (1. Kor. 14,34) wörtlich nahm und jegliche frauenproduzierten Töne aus der Kirche verbannte: Mulieres in ecclesia taceant. So einfach wussten sich die klerikalen Männer den aus weltlichen Ehen berühmten Diskussionen zwischen Mann und Frau zu entledigen. Allerdings evozierte diese Entscheidung einen schwerwiegenden Nachteil: Für kirchemusikalische Werke, die eine oder mehrere hohe Stimmen – Alt oder Sopran – vorsahen, fehlten nun die entsprechenden Sänger. Auch die Knabenchöre konnten diese klaffende Lücke nicht ausnahmslos füllen. So griff der Klerus in seiner musikalischen Notlage zu einer drastischen Maßnahme: Das göttliche Motto „seid fruchtbar und mehret euch” (Genesis 1,28) ignorierend lieferten sie junge Knaben vor ihrer Pubertät an das Messer und opferten mit einem gezielten Schnitt deren Männlichkeit für einen ausbleibenden Stimmbruch. Das hieß den Erhalt einer lebenslang haltenden Sopran- bzw. Altstimme. Innerhalb des Barock erstrahlten diese scheinbar „unmännlichen” Sänger zu musikästhetischen Stilikonen. Sie waren die gefeierte und bestbezahlten Sänger auf den barocken Opernbühnen. Sporadisch fanden sie sogar noch Einsatz in Klassik und Romantik. In neuerer Zeit – der letzte Kastrat, Alessandro Moreschi, starb 1922 – macht es eine andere Gesangstechnik möglich, den hochsingenden Männern ihre Zeugungsfähigkeit zu erhalten: Der Countertenor. Im vollen Besitzt seiner Männlichkeit nutzt er seine Falsettstimme, intensiviert also seine Kopfstimme und produziert dadurch ebenso hohe Töne wie ein weiblicher Alt, manchmal sogar wie ein Sopran.

Atto terzo – Kastration als Attraktivitätsgarant

Freud psychoanalysierte durch das Fehlen des männlichen Geschlechtsorgans die Weiblichkeit: Der vorpubertäre Junge könne sich den Penismangel der Frauen und Mädchen nicht anders als durch deren Kastration erklären. Demnach wird Männlichkeit ausschließlich über das Vorhandensein des entsprechenden Geschlechtsorgans definiert. Ansonsten bliebe der Mann eine Frau. Obgleich den barocken Kastraten ein entscheidendes Merkmal der Männlichkeit fehlte, sie galten zu Barockzeiten nicht etwa als „halbe Männer” oder gar als „Frauen”. Im Gegenteil. Obwohl die Kastration meist dicke Bäuche und überlange Gliedmaßen hervorrief, dezimierte dies ganz und gar nicht sein männliches Sexappeal. Auch nicht das Fehlen des entscheidenden Geschlechtsorgans, das den Mann zum Mann macht. Innerhalb der Opernhandlung war dem Kastraten als Primo uomo, und nicht etwa als prima donna, die Rolle des Helden, des Herrschers und/oder Liebhabers der obersten Kategorie zugedacht. Seine hohe Stimmlage transportierte emotionale Intimität und Sensibilität.

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Eine Herrscherfigur im Barock, die aus ihrer diktatorischen Herrscherrolle heraustrat und innerhalb der Opernhandlung als privater Mensch gezeigt wurde, wurde – ganz logisch nach barocken Maßstäben – mit einem Kastraten besetzt. Eine der ersten Opern der Operngeschichte, Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea setzt diese Ästhetik kategorisch um: Der ausgesprochen zynische und gewalttätige Herrscher Nerone ist mit einem Altus besetzt, Poppea, seine nach bürgerlichen Vorstellungen nicht minder moralisch fragwürdige Geliebte, ist ein Sopran. Nerone ist somit eine Kastratenpartie und steht innerhalb der Opernhandlung, trotz hoher Stimme, für pure Männlichkeit und Sexappeal. Immerhin betrügt Poppea ihren Mann Ottone mit Nerone, nicht nur weil Macht sexy macht. Und das erste Liebesduett der Operngeschichte „Pur ti miro, pur ti doro” ist deswegen ein Duett zwischen Sopran- und Altstimme. Kein lesbisches Liebesduett, sondern eines voller sexueller Energie flirrendes zwischen Mann und Frau: Die beiden Stimmen imitieren des anderen Melodiemotivs, sie umgarnen sich, nähern sich in melodischen Parallelen einander an, bis sie sich umschlingen, um schließlich im Schlusston auf identischer Tonhöhe miteinander zu verschmelzen. Und da ist die Kastration überhaupt kein Hindernis.