Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

In der Kirche der giftigen Hirne

Mit Zwang erreicht man auch in Monopolen nicht alles - diese Erfahrung mussten die Kirchen in den letzten Jahrzehnten machen. Immerhin haben manche daraus die richtigen Lehren gezogen, und versuchen es heute mit Freiräumen, die sie ohne Vorbedingung anbieten. Das hat durchaus seinen Reiz in Zeiten, da andere ohne Anstand und Pietät versuchen, mit ihren Gewaltmonopolen neue Zwänge durchzusetzen.

Et nox sicut dies illuminabitur et nox illuminatio mea in deliciis meis.
Exsultet

Wir waren zu dritt, die anderen nur zu zweit. Ausserdem stand nichts an der Tür, und eigentlich war der Raum gross genug für alle. Genau genommen ist der Raum riesig, Hunderte haben unten Platz und nochmal hundert auf der Empore. Draussen regnete es, drinnen sind Besucher ganz normal. Aber die anderen beiden, ein älterer Herr und eine alte Dame, waren vor uns hier, knieten ganz vorne und hörten sich eine Aufnahme an. Ein paar Kerzen hatten sie angezündet, und es war ziemlich offensichtlich, dass sie jetzt, Mehrheit hin, riesiger Raum her, nicht gestört werden wollten. Ich wollte eigentlich ein wenig von diesem Raum und seiner Konzeption und Ausmalung erzählen, aber das ging jetzt nicht: Vorne im Kirchenschiff kam von der Kassette das Ave Maria, und die beiden, der Herr links und die Dame rechts aussen, murmelten wohl leise mit. Also blieben wir hinten, und ich erklärte die Grundlagen der Baugeschichte. Ganz leise. Nach ein paar Minuten stand die Dame auf, nicht ohne vorher den Herrn anzuschauen, kniete am Rand der Bank nieder und verliess dann hastig die Kirche. Ein paar Minuten später erhob sich dann auch der Mann, löschte die Kerzen, und ging. Wir waren allein mit der Aufnahme des Ave Maria aus den Lautsprechern, in einer grandiosen, fränkischen Rokokokirche eines Deutschordenstiftes. Ein Monument der Grösse der katholischen Kirche: Ein Kunstwerk, drei kulturbegeisterte Atheisten, und eine Kassettenaufnahme.

Bild zu:  In der Kirche der giftigen Hirne

Kirchen müssen nicht Werbung machen. Niemand muss Werbung machen; die Kirchen werden auch so bezahlt, und in der freien Wirtschaft kann man auch vor die Hunde gehen. Wer das nicht möchte, muss sich um Kundschaft kümmern. Das betrifft TV-Sender, die Werbung machen, damit man sich scheinbar kostenlos Filme anschaut. Das betrifft auch Branchen wie Pornographie, die lange Zeit nur warten mussten, bis sich die Kunden heran trauten: Heute wird so gut wie alles pornographisch beworben, die echten Pornographen müssen ihre Videos im Netz verschenken in der Hoffnung, dass dann noch jemand kauft. Nie war es billiger, ein Wüstling zu sein. Und nie waren so wenige Menschen in den Kirchen. Nur die Audioaufnahme, auf die ist Verlass, solange noch etwas da ist, ein Mesner, ein Programm, das sie einschaltet.

Ich kenne in meiner Altersgruppe und einem unvermeidlich bayerisch-katholischen Umfeld exakt noch eine einzige Person, die halbwegs regelmässig in den Gottesdienst geht. Und sich über die Predigten beschwert und am Sonntag gerne an den See kommt, weil da wenigstens die Kirche schöner ist, als in München. Der Rest ist am Sonntag immer für alles zu haben. Auch für eine Kirche, wenn darin ein Konzert und kein Gottesdienst stattfindet, oder ich mich bereit erkläre, ein wenig zu erklären, wie das gedacht war, diese Kirche, deren Mitglieder sie sind. Bei ihren Grosseltern hätte die Gemeinde getuschelt, wenn sie nicht jeden Sonntag da gewesen wären. Bei ihnen gibt es keine Gemeinde mehr, die tuscheln könnte. Und es gibt auch nichts, womit die Kirche ernsthaft werben könnte, zu gut, zu erfahren sind die anderen Anbieter auf dem Markt der Lebenserfüllung. Die laufen einem nach. Die Kirche erwartet, dass man sich unterwirft. Fast immer. Aber nicht am Donnerstag Abend.

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Am Donnerstag Abend ist die Franziskanerkirche in der dummen, kleinen Stadt an der Donau geöffnet. Das ist eigentlich schon alles. Wenn die Geschäfte schliessen, öffnen sich die gotischen Portale zu diesem eher schmucklosen, hohen und dezenten Kirchenraum, auf dem Vorplatz werden Kerzen aufgestellt, die den Weg weisen, und das Kircheninnere wird nur mit Kerzen beleuchtet. So wie früher. Ich gehe da hin, weil ich sehen möchte, wie der Raumeindruck des Mittelalters gewesen ist. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, gotische Kirchenräume in dem schwachen Kunstlicht zu sehen, für das sie geschaffen wurden, und es ist, wenn sich die Gewölbe hoch oben in der Finsternis verlieren, eine ganz andere Erfahrung. Die Kirche mit ihrer horizontalen und vertikalen Ausrichtung „funktioniert” plötzlich, wenn die richtigen Lichtakzente gesetzt werden. Die Decke verschmilzt mit dem Nachthimmel, und der Altar braucht nicht viele Kerzen, um als das Herz der Kirche zu erscheinen.

Aber das ist nur die absonderliche Sichtweise des Kunstinteressierten. Den anderen bietet die Kirche nichts. Kein Gebet, keinen Zwang, keine Audioaufnahme, keinen Klingelbeutel, keine Orgel, keinen Gesang, keine Predigt, keine starren Riten und keine Technomessen. Nichts. Sie ist einfach nur offen für jeden, der eintreten will. Es gibt keine Forderung und keinen Zwang und keinen Versuch, den Anwesenden zu was auch immer zu überzeugen, zu bleiben, oder sich zu unterwerfen. Die Kirche wird damit nicht voll. Manche – auch die ein oder andere Bekannte – treten aber an diesem Donnerstag ein und verweilen. Man kann sich nahe ans Licht setzen, oder in tiefe Dunkelheit, und tun, was man für richtig hält. Keiner verlangt etwas, keiner schreit einen an, etwas zu tun, und wem die Botschaft des Altars auch noch zu viel ist, kann sich im Nichts der Finsternis verlieren.

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Ich glaube nicht, dass damit dem Niedergang der Kirchen Einhalt geboten werden kann. Die wirklich schlimmen Fehler, die in den Verlust der tragenden Schichten mündeten, geschahen in den 80er und 90er Jahren mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, und mit den Skandalen der letzten Jahre hat sich nur eine kühle Einstellung durchgesetzt, die keinerlei Unterstützung vom Ärger über die Kirchensteuer benötigt hätte. Es ist kein Hass und keine Verachtung zurückgeblieben, sondern viel gefährlicher: Eine seltsame Gleichgültigkeit. Man kann das, man will das alles nicht mehr hören. Man hat so viel anderes, auf das man hören muss. Auch unter den Honoratioren schaut einen keiner mehr schief an, wenn man am Sonntag etwas anderes macht. Sie fühlen sich nicht mehr für das Wohlergehen der Kirchen zuständig. Aber am Donnerstag Abend wird zumindest eine Tür offen gehalten, und was man damit macht, kann man selbst entscheiden.

Das steht hier und jetzt nicht zufällig, und ich bin diesmal auch nicht hingegangen, weil ich Studien über gotische Raumkonzepte betreiben wollte, oder nur allein deshalb, weil eine Bekannte dort war, die die Ruhe schätzt. Es war diese Woche sehr schwer, einem anderen Zwang zu entgehen, dem Zwang der Kirche der giftigen Hirne und ihres Pseudogedenkens für Klicks und Awareness, es fehlten eigentlich nur die Top 100 Todessprünge in einer Klickstrecke und interaktive Letzte-SMS-Aufbereitungen – oder eventuell habe ich das auch nur übersehen. Ich ertrage das nicht. Ich schaue weg. Es widert mich an, diese Geschäftemacherei mit Leid und Elend: Ablassverkäufer, Auferstehungsprediger, Reliquienverkäufer, Heilsgeschichtenhändler, Wunderheiler der Terrorabwehr und Sicherheitszwingerarchitekten, Sonderseitenbettler und Vorratsdatenaussätzige, die heilige Hernandad der inneren Bundeswehr, die ganzen Trittbrettfahrer von Glauben und Moral und Kadavergehorsam. 10 Jahre, Anlass für eine Festspielwoche mit Dauerwerbung, ein Tartuffe abstossender und pietätloser als der andere. Also bin ich dorthin gegangen, wo man nicht angeschrien und zugemüllt wird, weil man dort verstanden hat, dass es nicht gut ist, dass man so nicht weiter kommt, und den Menschen Raum geben muss. Raum und Zeit. Dann war die Zeit um, und leider löschen sie nicht einfach die Kerzen, sondern fahren das elektrische Licht hoch: Der Rausschmeisser.

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Aber immerhin war die Türe offen, aufgemacht von Menschen, die verstehen, und ich ging heim, löschte den einen nicht netten Entwurf und schrieb über offene Türen. Man sollte nicht von denen lernen, andere anzuschreien. Man sollte nicht die Audioaufnahmen laufen lassen, bis es keiner mehr hören kann. Es reicht, einfach nur Türen offen halten, und in der Finsternis die Freiheit zu lassen, damit sich die Herzen erheben können.