Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Uneinigung Europas

Wenn Europa schon untergehen muss, dann bitte an einem Spätsommertag am Strand, mit ein paar Wolken zur Dekoration am Himmel und ein paar Pfirsichkernen neben sich, damit bei all den Banken und Politikern dieses Kontinents nicht alles hohl ist.

Ein kleines Loblied auf die Plattentektonik für drei Findelkinderchöre, allegro ma non troppo

Manchmal, wenn man etwas Zeit hat, also an einem See liegt, nur ein Handtuch dabei hat und lieber im heißen Wind aus der Poebene trocknet, kaum dass man den Fluten entstiegen ist, schaut man so in den Himmel, wo sich eine fasrige Wolke dahinschleppt, wie das Rückgrat eines ausgestorbenen Urtiers, und man denkt sich so:

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So sieht das aus, wenn die Banken mit diesem Kontinent fertig sind. Oder auch, so etwas hängt in großen Mengen in den Garderoben, wenn Politiker bei Chefvolkswirten den Kotau machen, dann fällt das Niederwerfen und Staubschlucken nicht so schwer, so rückgratlos wie sie dann sind, und mit etwas Glück hängt auch noch das Hirn dran, dann merkt man es auch gar nicht so. Das ist ein böser und natürlich unsachlicher Gedanke, also scheucht man ihn von dannen, und schaut sich anderweitg um. Man ist ja nicht indiskret, man gafft nicht andere Leute an. Allein der Villenbesitzer, der im Bademantel herunterkommt, ist nicht zu übersehen, der legt sich gewissermaßen dazu und telefoniert aufgeregt mit seinem Anlageberater, und weil man das gerade auch nicht erträgt – man wäre zu gern Villenbesitzer anstelle des Villenbesitzers – dreht man den Kopf und sieht die Pfirsichkerne.

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So in etwa sehen deutsche und italienische Staatsanleihen aus, die einen sind noch scheinbar intakt und die anderen schon von der Witterung abgelutscht, aber beide sind sie, seien wir ehrlich, Ramsch am Strand, ungenießbar und ausgespuckt. In der FAZ war gestern übrigens ein Gastbeitrag eines Chefvolkswirts und eines sog. Wirtschaftsweisen, die die Einführung inflationsgeschützter Staatsanleihen forderten, also von Pfirsichen für Anleger, denen stets nach jedem Biss und bei jeder fauligen Stelle neues Pfirsichfleisch nachwachsen sollte, auf Kosten der Pfirsichhändler. Traumhafte Vorstellung für Anleger.

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Und im Bundestag sind sie vor solchen Planspielen gerade dabei, die Abgeordneten auf Linie zu bringen, zugunsten von Milliardenrettungsschirmen, die noch gar nicht abgesegnet sind und schon wieder vergrößert werden sollen. Mit neuen, höheren Schulden. Wenn man daran denkt, klingt der lachende Schrei der Möwen heute besonders hässlich, gemein und zynisch. Eine Welle brandet heran, wirbelt achtlos kleine Steinchen durcheinander, wirft die einen ans Ufer und zieht die anderen in die Tiefe.

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Daheim sind bei einigen vermutlich nicht nur die Gewinne seit 2008 wieder weg, sondern auch die Sicherheiten, die inzwischen gekauft wurden. Wenn in Italien die kostenlosen Zeitungen am Straßenrand anfangen, das Loblied auf Gold zu singen, kann etwas nicht stimmen. Dann kommt die nächste Welle und macht mit den Steinchen, was sie will, sofern sie überhaupt einen Willen hat: Das Schicksal der Steine und Pfirsichkerne entscheidet sich nicht in der Welle, sondern im Wind, der sie erschaffen hat, und gegen den der Flügelschlag der Möwen machtlos ist. Der Wind wird selbst getrieben von der Hitze über dem Flachland, die heiße Luft in die Berge schiebt, unter dem knallblau glühenden, weitgehend wolkenlosen Himmel mit seinem abgenagten Gerippen, die ein Nichts sind unter der Sonne, die alles entscheidet und nichts.

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Aber so abgeschnitten von allen Informationen, wie man hier am Strand liegt, hat man Zeit für das eine, für die Blicke auf verliebte italienische Paare und Themen von sogar begrenzter Relevanz, wie etwa die Frage, was diese Zeit im Rückblick sagen wird. In, sagen wir mal, 20 Jahren, also in einer Zukunft, die ungefähr so weit entfernt ist wie die Beschlüsse, die zum Euro, zum Stabilitätspakt, den diversen Abstimmungsproblemen und letztlich zu dieser Krise führten, die damals nach Waigel und Kohl absolut auszuschließen war. Auch 2031 wird noch Sommer sein, es wird Banken geben, die immer gewinnen, und Politiker, die Wahlen verlieren und eventuell dann zu den Banken wechseln, und Menschen, die sich um ihren Besitz fürchten. Und es wird mehr Wissen über unsere Zeit geben. Der Mensch von 2031 kennt den Wert der aktuellen Krisenpolitik, so wie wir inzwischen wissen, wie glaubhaft Kohl und Waigel waren.

Vermutlich werden sie sagen, dass in jenen Sommertagen des Jahres 2011 die Idee eines geeinten Europas tatsächlich vor die Hunde gegangen ist. Zumindest dieses Europas, das die letzten 20 Jahre betrieben wurde: Wirtschaftlich, lobbyistisch, marktgetrieben und privatisiert. Vielleicht werden sie gar nicht mehr wissen, wie Europa davor sein konnte, als man es noch mit Städtepartnerschaften verband, mit Weinfesten auf deutschen Plätzen und Theatergruppen über der Cote d’Azur, mit jungen Lehrerinnen aus Schottland und unehelichen Politikerkindern in Frankreich. Es gab eine Zeit, da schmeckte Europa nach Ferne und ein klein wenig Exotik, da sah es aus wie eine hübsche Stadt woanders mit Sängerkreisen und Bürgermeistern mit Ratsketten und ziemlich viel Alkohol, wo es am Rhein auf beiden Seiten so schön war. Rückblickend wird man 2031 sagen müssen, dass aus diesem Europa der Verständigung und Versöhnung irgendwann auch eines der Konglomerate und Kartelle wurde, und die Möglichkeiten der Menschen schnell hinter den Chancen des Kapitals und der Unternehmen zurückblieben. Man kann Schüler vier Wochen an die Riviera schicken, oder Schweine mit Subventionen zur Schlachtung und Verarbeitung nach Süditalien. Man kann Lichter der Versöhnung über Gräbern anzünden und Glühbirnen verbieten. Man kann ein Europa der Regionen fordern und Milliarden in diesen Regionen versenken, wenn man die eigene Landesbank dorthin treibt. Man kann die Sonne über dem unschönen 20. Jahrhundert und diesem geschundenen Kontinent aufgehen lassen. Und man kann zuschauen, wie alles in Finsternis versinkt.

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Was es fraglos tut, wenn jetzt die alten Geschichten der deutschen Besatzung wieder hervorgekramt werden, weil, effektiv betrachtet, die Griechen keine souveräne Nation mehr sind, sondern alternativlos Getriebene. Vielleicht wird man 2031 zum Schluss kommen, dass die grundlegenden Fehler nicht 2011 gemacht wurden, sondern in all den Jahren davor, weil alle meinten, von Staatsschulden, Lobbyentscheidungen, Markttreiben und Klientelpolitik profitieren zu können; die einen gewannen Wahlen und die anderen machten Gewinne, die einen exportieren weltmeisterlich und die anderen kauften mit weltmeisterlichen Schulden. Vielleicht wird man 2011 gar nicht als Jahr des Fiaskos sehen, sondern etwas abgeklärter als das Jahr, in dem nach einigen Rettungsversuchen das Fiasko so groß wurde, dass man es nicht mehr negieren konnte und sich besser darauf einstellte: Alle verloren etwas, die einen mehr, die anderen weniger und manche überhaupt nichts. Und nach der Währungsreform ging es, wie schon 1948 oder auch bei den Argentiniern gleich wieder aufwärts. Das versöhnt, und meistens blieben die Villenbesitzer von damals auch die Villenbesitzer von heute, und die ausgespuckten Pfirsichkerne der Geschichte sind nun mal die Spielbälle der Wellen. Und nicht die Bewahrer der Geschichtsschreibung.

Ach so, Europa. Naja, wie immer es auch ausgehen wird: Man wohnt nebeneinander. Villenbesitzer werden in Italien auch weiterhin bayerische Kraftfahrzeuge ordern, und Bayern werden unverbrüchlich an den See im Süden fahren. Dieses Europa wird nicht durch Banken und Politiker gemacht, sondern durch Erdplatten und deren Verschiebung, und nachdem wir gerade gesehen haben, wie wenig dieses Europa mit seiner ganzen Technik gegen eine Bürgerkriegspartei in Libyen ausrichten kann, muss man vor einem echten Konflikt keine Angst haben. Vermutlich werden die üblichen Dummheiten wie Flugreisen für Golfprolls auf Prollinseln eine Weile eher nicht finanzierbar sein, und Neudispokreditreiche werden an letzten Grün eingelocht. Aber so eine Bahnfahrt nach Verona wird bezahlbar bleiben, das wird die Welt wieder etwas vergrößern und Europa attraktiv machen, weil es ohnehin keine Alternativen gibt. Die fernen Chinesen werden bis 2031 genug mit der Kolonialisierung der USA zu tun haben. Es wird sicher schlimm werden, aber immerhin ist man 2031 in einem anderen Europa bei gleichbleibender Gesamtdummheit individuell klüger, wenn man etwas mehr Einsicht als ein ausgespuckter Pfirsichkern am Strand hat.