Vorbemerkung: Ausgelaugt von Buchmessenerlebnissen nimmt der normale Autor dieses Blogs eine Auszeit bei angenehmeren Kloakeninhalten und dem Gurgeln der maroden Rohre in seinem alten Gemäuer, und überlässt es der Dramaturgin Venezia Fröscher, hier die Leserschaft fundiert in einem Gastbeitrag mit dem Thema Aufführungspraxis und vielen Youtubelinks zu erfreuen:
Das Zubehör eines Sängers: Ein großer Brustkorb, ein großer Mund, 90% Gedächtnis, 10% Intelligenz, sehr viel schwere Arbeit und ein gewisses Etwas im Herzen.
Enrico Caruso
Als Entspannungs- und Verblödungstaktik stellte ich letztens den Flimmerkasten an und wurde zufällig Zeuge, wie die Öffentlich-Rechtlichen ihrem Bildungsauftrag nachkamen: Sie strahlten die Verleihung eines Klassikpreises zur besten Sendezeit aus. „Erstaunlich”, dachte ich, „und dass mal nicht zu einer Tageszeit, zu der sonst garantiert niemand durch das kulturelle Programm belästigt wird.”
Ich goss mir noch ein Gläschen Côte du Rhône ein, biss genüsslich in meine Bruschetta und richtete mich gemütlich auf meinem Chesterfield zu einem Abend mit Wein, Musik und Gesang ein. Aber gleich in der ersten Sendesekunde wurde ich jäh aus meinen Bildungsträumen gerissen. Was war das? Ich hatte es anders gelernt. Aber das Fernsehen belehrte mich nun, die Polonaise aus Tschaikowskys Eugen Onegin sei für „einen Moderator und zwei Komparsen komponiert worden”. Ich stellte mich auf meinem Sofa auf einen „heiteren” Fernsehabend ein.
Die Minuten tröpfelten dahin, zogen sich, wurden elastisch und dehnbar. Sehr dehnbar. Dafür verkleinerte sich die Weinmenge in der Flasche. Ganz erstaunlich. Längere Minuten und Stunden und Tage und immer weniger Wein. Dann war es vorbei, und ich zog Resümee: Eine Flasche Rotwein reicht nicht. Es gab viele Töne. Und ich hatte Lust auf eine Reise in die Rezeptionsgeschichte der Kunstmusik. Hätte das Publikum vor 100 Jahren diese anpreisende Art der musikalischen Interpretation ebenso mit Applaus gepriesen? Trotz aller Bemühungen, der Veranstaltung eine Anmutung von kulturellem Anspruch zu geben, war es eine Werbeaktion für die bei den großen Plattenfirmen, und die unter Exklusivvertrag stehenden Künstler der Klassikszene.
Dem Publikum wurden die „Stars” der klassischen Musikszene kredenzt, und das Publikum aß brav die Kost auf. Ein Musiker, der das verkaufssteigernde Prädikat „Star” besitzt, enthält zwangsläufig alle Komponenten einer niveauvollen musikalischen Darbietung. Es ist wie im Supermarkt: Wo Bio draufsteht, ist garantiert Öko drin. Mir kamen die Musiker wie kulturelle Masttiere vor. Aphoristisch erwähnte es Carl Valentin passend: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.”
Eben diese Arbeit will das Publikum beim Künstler auch sehen. Der Schwierigkeitsgrad des Musikmachens will gespürt, miterlebt und körperlich nachvollzogen werden. Die Musikinterpretation wird damit zu einem physischen Kraftakt. Wie ein Gladiator scheint der Künstler in das Musikamphitheater zu steigen. Kraftvoll lässt er sein Instrument erklingen, jeder Ton ein sonorer Schönklang mit tonrundem Stimmkörper. Wert wird fast ausschließlich auf die Intensität in der Tongebung gelegt, weniger auf Eleganz, Raffinement und Kunstfertigkeit in der Interpretation.
Musik sollte mehr sein. Ein Notentext will ausführende Interpretation, sonst bliebe er lediglich eine Folge hieroglyphischer Kritzeleien auf Papier. Er muss Klang werden. Hierfür braucht es seitens des „Übersetzers”, also des Musikers, Stilempfinden und Technik. Zumal ein Komponist auch nicht nur einfach Melodien notiert hat. Einem Notentext sind weitaus mehr Angaben zu entnehmen. Tempo oder Lautstärke. Und sollte man dem Notentext tatsächlich, wie in den Niederschriften des Barock, so gut wie ausschließlich die Tonhöhen entnehmen können, dann weiß Musiker dank seiner stilistischen Sicherheit, was er zu tönen hat.
Es scheint, als habe der Körperkult der Konsumwelt mit all seinen perfekten Leibern nun auch Einzug in die Kunstwelt erhalten. Einer Welt, die ihre Schönheitswerte an Körperlichkeiten orientiert, ist der Ästhetizismus einer Kunstwelt verschlossen. So gelten nun auch im Kulturtempel die Maßstäbe der Konsumwelt. Bei den Helden des hohen Cs – den Tenören – ist die Verwandlung zum singenden Supermann besonders hörbar. Ohnehin ist eine Opernstimme wohl nur dann eine wirkliche, wenn sie laut und bullig klingt. Nur ein körperreicher Ton, ist ein guter Ton.
Diese Vorliebe für physisches Musizieren wirkt sich zwangsläufig auch auf das Repertoire aus. Insbesondere französische Opern, deren Ton nicht zwingend den neuen Idealen entspricht, scheinen außerhalb der „Grande Nation” ausgestorben zu sein. Wer kennt oder singt hierzulande Arien aus Lakmé von Léo Delibes oder aus Les pêcheures des perles? Nicht zu vergessen La jolie fille de perth von Bizet oder Giacomo Meyerbeers Oper L’africaine. Vielleicht, weil sich der Musikstil à la française gegen dieses kraftvoll-körperliche Musizieren verwehrt? In Frankreich des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind musikalische Äußerungen wie Coco Chanels Nr. 5 – wie ein zartes Parfum. Gleich einer Ahnung von Eau de Toilette umschweben den Hörer die Töne. Ein Klanghauch von Raffinement, Eleganz. Und immer diese Distanz. Wie in der barocken Dacapo-Arie wird hier keine direkte Emotion vermittelt, sondern ein Affekt.
Dieser „affektierte” Musikstil ist aber dem heutigen Publikumsgeschmack fremd. Die umjubelten Sänger der Vergangenheit Alain Vanzo oder Edmond Clément scheinen aus einer anderen Gesangwelt zu kommen. Ihre Interpretationen der Arien aus Les pêcheurs des perles oder Werther klingen distanziert. Entrückt in luftiger Leichtigkeit. Für heutige Ohren mag es eher wie mit halbem Stimmband oder mit halber Stimme gesungen klingen. Aber ein mezza voce oder ein Falsett ist eine Gesangstechnik – kein stimmliches Defizit. Diese Technik ist auf heutigen Konzert- und Opernbühnen so gut wie nie zu finden. „Star”-Tenöre wie Rolando Villazón, Marcelo Alvarez oder Jonas Kaufmann zeigen ein ganz anderes Verständnis von Stimme, Stil und Interpretation.
Der Wechsel vom delikaten zum körperlich-runden Tonklang vollzog sich scheinbar in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In den 1910er Jahren sang ein Beniamino Gigli die Arie aus Gounods Faust noch in jener schlanken Tonmanier. 20 Jahre später ist nicht nur die Stimme, sondern auch der interpretatorische Stil jener Arie „Salut, demeure chaste et pure” ein anderer. Dem heutigen Publikum stünde diese Art wohl weitaus näher: Klingt fast wie Vittorio Grigolo. Warum dieser Geschmackswechsel? Die Antwort wüsste vielleicht Enrico Caruso. Er war einer der ersten Sänger, der dieses runde, körperhafte Klangideal einführte. Der Pariser HNO-Arzt Alfred Tomatis machte eine Entzündung bzw. Operation an Carusos rechtem Ohr für dessen Stimm- und Stilwechsel verantwortlich. Das rechte Ohr setzte krankheitsbedingt aus. Mit dem gesunden linken Ohr aber schien der Tenor die produzierten Töne anders wahrzunehmen. Er passte seine Töne dem Hörgefühl an und dadurch änderte sich der Stimmklang. Dem großen Vorbild Caruso eiferten viele Sänger nach und das Publikum zeigte sich einverstanden.
Bekommt das Publikum also das zu hören, was es verdient? Es gab Zeiten, da stand in jedem Bildungsbürgerhaushalt ein Fortepiano. Da musizierte man fernab vom heutigen Fernseh- oder Radiokonsum. Eigenhändig eröffneten sich so die Hausgebrauchsmusiker musikalische Räume. Traf bildungsbürgerlicher Hörer dann im Konzert- oder Opernhaus auf die Profis, konnte er deren Leistungen schnell über den Vergleich zu seinen eigenen Stümpereien am Instrument beurteilen. Auf diese Weise spielten sich Paganini, Liszt und all die Virtuosen des 19. Jahrhunderts zu Legenden. Es hat zu Paganinis Lebzeiten nicht an Bemühungen gefehlt, dem Geheimnis solcher Virtuosität auf die Spur zu kommen. Paganani sagte man einen Kontrakt mit dem Teufel nach. Heute reicht schon der Kontrakt mit den Musikvermarktern.