Es sind heute viele Leute in Versailles
Marie Antoinette
Prinzipiell ist es ja angenehm, wenn man sich um geregelte Arbeit nicht in Form einer demotivierenden Suche bemühen muss, sondern sie vom Chef offeriert bekommt. Dieses Zufallen von Tätigkeiten, dieses „ach ja, da war dann halt der und der und brauchte dieses und jenes, da hab ich halt mal zugesagt und es taugt schon” ist bekanntlich jene Art der Berufszuweisung, die man in Westvierteln gern sieht, belegt sie doch, dass es nicht darauf ankommt, was man kann, sondern nur darauf, dass man zu den hier häufig auftretenden richtigen Zeitpunkten am einzig richtigen Ort war; dort, wo man schon immer war. Oder, anders gesagt: Meritokratien braucht man in Oligarchien nicht, und es ist natürlich auch eine feine Sache, wenn in Zeiten der Moderne dergleichen nicht mehr bei der Gartenparty, sondern im Internet passiert. Gestern beispielsweise hat Wolfgang Blau, seines Zeichens Chef bei Zeit.de seinen Bekannten bei Google+ so ein Angebot nahegebracht. Er hat – öffentlich ausgeschrieben natürlich – eine Assistentenstelle zu vergeben. Assistent des Onlinechefs der Zeit, das klingt jetzt schon so, als könnte eine normale Diplomatentochter oder der abwegige Sohn eines Medizingeräteherstellers etwas damit anfangen – es ist immerhin die Zeit, die wird auch am Tegernsee auf die Tische gelegt. Im Gegensatz zu den allermeisten Medienberufen kann Frau Mama so etwas bei Kreutzkamm am See erwähnen, ohne knallrot zu werden.
Wie auch immer, auf den zweiten Blick verliert dieses Angebot doch so einiges vom Prestige, das man damit in Verbindung bringen würde: Abgeschlossenes Hochschulstudium, gerne auch schon Berufserfahrung, international sowieso und Powerpoint und Excel und Reisekostenabrechnungen und Organisation und in Berlin und vorerst nur 2 Jahre und nur Teilzeit und
damit ist es auch schon wieder vorbei mit den angenehmen Hoffnungen, der gerade fertig gewordenen Kunstgeschichtlerin oder dem Drittstudiengangpsychologievielleichtdochabbrecher könnte unter einem fraglos guten Namen ein gutes Auskommen erwachsen. Die Tochter einer meiner Lieblingskonditorinnen am Tegernsee möchte nicht in dieses Handwerk gehen, sondern Journalistin werden – würde ich ihrer Mutter dieses Angebot zu Gehör bringen, wäre sie in der Hotelfachschule eingesperrt und festgekettet, bevor sie ihren ersten Probebeitrag für den Miesbacher Merkur über das Waldfest hätte abliefern können. Und dabei meint Frau Mama es sicher nur gut, denn wer den Beruf kennt, ahnt auch: Was sich für Leute aus Mittweida attraktiv lesen mag, wird am Tegernsee durchgerechnet und abgelehnt. Zwei Jahre Teilzeit in Berlin in den Medien, das heisst Zuschussbetrieb, da kommt nicht so viel rein, dass sich das Kind selbst tragen könnte, wenn es auch nur minimale Tegernseeansprüche – 2 Zimmer in einem nicht verrufenen Viertel, Auto, jedes zweite Wochenende daheim wegen der Wäsche und Resozialisierung – geltend machen möchte.
Das Angebot entspricht nicht im Mindesten dem, was man meint erwarten zu können, wenn man noch aus der alten Zeit vor dem Fall der Mauer, aus dem alten Westen kommt. Aus jener Epoche also, da man den armen Menschen im Osten dauernd vor Augen führen musste, was für eine lockere Sause der Kapitalismus ist, wenn man auf dessen Sonnenseite steht. Man wurde mit dem Gefühl erwachsen, dass nach dem Abitur das Studium käme und dann irgendwann ein Beruf mit normalen Bedingungen, wie sie eben üblich sind, mit einem normalen Einkommen und einer Basis durch die Eltern, die, alles zusammengenommen, ein Leben nicht schlechter als das der Vorgeneration erlaubten. Natürlich verdient man als Einsteiger nicht zu viel, aber dann geht es aufwärts, und der Bestand befreit einen von unerfreulichen Erlebnissen wie Miete oder finanzieller Erpressbarkeit durch den Arbeitgeber. Die Vorstellung, die wir hatten, und die uns das System auch gerne mitgegeben hat, war die einer sich lohnenden Leistung vom ersten Arbeitstag an. Eine lange, gerade Linie nach oben.
Was daraus geworden ist, sieht man an all den neuen Themen, die Mütter gerade zu besprechen haben: Ein gnadenloses Schulsystem namens G8, Nachhilfe als Wachstumsmarkt, ein verschultes Studium mit wenig Raum zur Persönlichkeitsentfaltung, aber die Forderung nach jeder Menge Zusatzfähigkeiten, die es früher einfach nicht gegeben hat, immer bitte auch etwas Erbsenzählerei und Organisation für einen Halbtagsjob, der sich Assistenz nennt und sich die zwei Jahre hinzieht, als andere noch ruhig studierten und dann in das Berufsleben eintraten. Keine gerade Linie nach oben mehr, sondern erst mal eine Gerade, die nur so lange horizontal bleibt, solange die Eltern mitfinanzieren. Weil es möglich ist, weil genug andere da sind, die es für weniger machen und Rostock wirklich nicht schön ist, und bei einer Assistenz ist es vielleicht auch gar nicht so wichtig, aus welchem sozialen Umfeld die Bewerber stammen. Man nimmt dann eben die mit den besten Leistungen und sucht sich jene mit „der besten persönlichen Erscheinung” heraus. Am Ende schaut man bei Google immer noch, ob der Onkel der Botschafter in Übersee ist.
Dieses System ist nicht im Mindesten gerechter oder gleicher als früher, es bietet nicht mehr Chancen, es verlangt einfach nur mehr für geringere Gegenleistungen. Wer den Einstieg geschafft hat, bekommt gerne Führungskräftecoachings und anderes, was einen auf eine um so bessere Zukunft vorbereiten soll: In der Gegenwart wenig Anerkennung für viel Leistung, später einmal der schnelle Aufstieg und das hohe Einkommen. Ein wenig ähnelt das der alten Ideologie der Kirchen, die ein schönes Jenseits versprachen. Oder auch jedem beliebigen Ponzi System. Und es trägt nicht eben zur Charakterbildung bei: Wer sich abrackern muss, um dann spät die hohen Zuwächse zu erreichen, denkt unschön strategisch. Wird berechnend. Schaut zuerst auf den eigenen Vorteil. Der Zwang, sich erst später schnell bereichern zu müssen, macht das Verhalten neureich, ohne dass es wirklich eine Garantie für diesen Reichtum gäbe. Eine nach den Wertmassstäben der Klasse höchst fragwürdige Generation wird da herangezüchtet, die, wenn sie es erst einmal geschafft hat, vermutlich die eigenen Zugewinne unter Prämissen realisieren wird, die für die Betroffenen der nächsten Generation auch nicht nett sind.
Anders gesagt, der Generationenvertrag der besseren Kreise wird hier ausgehebelt. Man mag die alten besseren Söhne und Töchter abgelehnt haben, weil sie keine Angst und keine Zukunftssorgen kannten, und mühelos dort weitermachten, wo ihre Eltern die Wege geöffnet hatten: Vermutlich sind das im persönlichen Umgang immer noch die besseren Oberschichten, als die durchoptimierten Leistungsfetischisten, die einen anderen Zustand als die Dauerkrise am Rande der Überlastung als nicht normal empfinden und davon ausgehen, dass alle anderen dann eben auch Opfer zu bringen haben. Gerade eben macht eine DIW-Untersuchung zum Reichtum oder was bei anderen an dessen Stelle ist in Deutschland die Runde, nach der in den letzten 10 Jahren 80% der Haushalte an verfügbarem Einkommen verloren, und die obersten 20% massiv dazugewonnen haben: Das eine sind auch die Kinder der besseren Kreise mit Startproblemen, und die anderen sind ihre Eltern. Angesichts solcher Entwicklungen sehe ich grosse Chancen bei Aktien aus dem Bereich Psychopharmaka.
Wie schon öfters in der jüngeren Geschichte Deutschlands wird man auch hier spät, zu spät zum Schluss kommen, dass Elitenzüchtung durch Kruppstahlhärtung keine guten Erfolge zeitigt. Die Umverteilung sorgt allein dafür, dass das Vermögen dort bleibt, wo es schon ist, und dortselbst nicht mehr durch das Gehalt, sondern durch Schenkung direkt zwischen den Generationen weitergegeben wird. Wer das Pech hat, nicht in diesen Kreisen zu leben, wird sich nochmal mehr anstrengen müssen, um dem Einkommensverlust zu entkommen. Wie man es dreht und wendet: Ich finde bei diesem Spiel einfach keine Gewinner. Vielleicht sinken die Lohnstückkosten, aber die sind hier bei Torten eher irrelevant, und woanders sollte man eher Brot essen, wenn man keinen Kuchen hat – ich hoffe, das war jetzt eine politisch korrekte Aussage. Ändern wird man daran vermutlich wenig können, selbst wenn am See die meisten Profiteure zustimmen werden, dass so ein unbezahlbar schönes Wochenende in der warmen Novemberluft nur dann wirklich schön ist, wenn die Kinder nicht den ganzen Tag von Zukunftssorgen berichten.