Die Holländer entscheiden sich für Krieg oder Frieden nach Aufstieg und Sturz der Aktienpreise.
Earl of Middleton
Das Goldene Zeitalter in Holland: Rembrandt! Prunkstilleben! Porzellan! Tee! Die ostindische Kompanie! Die Börse in Amsterdam! Märchenhafter Reichtum in einer an ökonomischen Interessen ausgerichteten Republik! Die Grundlagen der modernen Wirtschaft! Wie uns Aktien damals schon reich machten! Was für tolle Ideen man hatte, um Vermögen zu erwirtschaften! So in etwa stellt sich Klein-Hänschen, wenn er das Studium der Betriebswirtschaftslehre beginnt, das goldene Jahrhundert in den Niederlanden von 1600 bis 1700 vor, und in aller Regel ist da auch keiner, der ihm in seinen kompakten Stundenplan ein paar Wochen Auseinandersetzung mit der historischen Realität zwingen möchte. Die nämlich würde ergeben, dass dieses „Goldene Zeitalter” nicht so einfach zu umschreiben ist, wie das manche Marktpropagandisten – oder vielleicht auch einfach nur Ahnungslose – gerne tun.
Die Existenz prunkvoller Tafelbilder mit all dem Luxus und Überfluss der Handelsnation lässt nicht zwingend darauf schliessen, dass die Zeiten wirklich so angenehm waren, wie es dargestellt wird. Wenn heute beispielsweise globale Geschäfte illustriert werden, nimmt man natürlich eher den forschen, lauten, und wenn ich das hier so sagen darf, in seinem ganzen Wesen nicht gesellschaftsfähigen Investor, der auf seinen Profit hofft, und sicher nicht die Zustände in einem chinesischen Zulieferbetrieb oder die erbärmliche Existenz der Grubenarbeiter im Kongo, die auch Teil der Geschichte sein könnten. So ähnlich ist es auch mit dem Goldenen Zeitalter. In dessen Realität gab es nicht nur sich als „Republiken” bezeichnende Staatssysteme und Patrizier, die sich als Demokraten in Marmor meisseln oder als Nachtwache der bürgerlichen Freiheit in Öl pinseln liessen, sondern auch Sklavenhandel, Wirtschaftskriege und Korruption. All der gemalte Ruhm der Niederlande, der heute in Museen ausgestellt ist, ist zu einem grossen Teil auch Wunschdenken der herrschenden Klasse. Propaganda, könnte man auch sagen. Unter Auslassung weniger erfreulicher Begleitumstände. So kann man heute vielleicht noch fragwürdige Blogtexte schreiben, aber der Kulturhistoriker hat es gerne etwas ehrlicher.
Womit wir zu dem führenden Repräsentanten dieses hochgelobten ökonomisch-rational-goldenen Systems kommen: Johan de Witt. Er stammt aus einer reichen Patrizierfamilie und kann als Inbegriff des niederländischen Reichen jener Tage gelten: Geschäftstüchtig, klug, geschickt im Verhandeln und schnell im Zugreifen, strategisch denkend und obendrein ein Verkaufstalent. Diese Fähigkeiten machten ihn in der Zeit von 1650 bis 1672 zur wichtigsten politischen Figur des Landes. Eine Kunstsammlung hatte er natürlich auch, und wir kennen einige Bilder von ihm, wie etwas das hier, das ihn zusammen mit seinem ebenfalls einflussreichen Bruder zeigt – und diesmal ist das Sujet nicht beschönigend, sondern ehrlich:
(Quelle: Wikipedia, Bild gemeinfrei, Original im Rijksmuseum Amsterdam)
Goldenes Zeitalter eben!
Wobei ich vielleicht auch etwas vorsichtig wäre, dieses spezielle Kapitel zu sehr auszubreiten, wenn ich ein Freund der aktuellen Umverteilungsraubzüge wäre. Denn das sich hier lautstark äussernde Goldene Zeitalter hat so ein paar Ähnlichkeiten mit unserer eigenen Epoche: Diese beiden verstümmelten Leichen sind ein schönes Beispiel dafür, was auch in zivisierten Gesellschaften und Goldenen Zeitaltern passieren kann, wenn man die Umverteilung zu eigenen Gunsten und Lasten der Allgemeinheit zu sehr forciert und dann von einer Krise kalt erwischt wird.
Johan de Witt stieg zum Machthaber der Niederlande auf, indem er eine sehr wirtschaftsfreundliche Politik betrieb. Um die Monopolgeschäfte der Ostindischen Kompanie zu erhalten, führten die Niederlande unter seiner Führung zwei erbitterte und letztlich erfolgreiche Seekriege gegen England. Innenpolitisch war es de Witt zur gleichen Zeit gelungen, das Adelsgeschlecht der Oranier, die davor als Statthalter der Niederlande einen Gegenpol zu den reichen Patriziern und Unternehmern spielten, auszuschalten und von der Macht fern zu halten. Auf allen wichtigen Posten waren Leute seines Vertrauens und seiner Gefolgschaft, und so war es für ihn kein Problem, die Kriegskosten zu sozialisieren, indem er Schulden auf Kosten der Allgemeinheit aufnahm. Die dadurch ermöglichten Gewinne jedoch blieben allein bei dem Handelsmonopol der Ostindischen Kompanie. Anders gesagt: Die Clique um de Witt setzte politisch durch, was ihr und ihren Wertpapieren wirtschaftlich nutzte. In der Folge wuchs das Vermögen der Patrizier stark an; heute würde man sagen: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich. Das System funktionierte, solange die Mittelschicht und die kleinen Leute auch etwas davon profitierten. De Witt machte unter dem Schlagwort „wahre Freiheit” keinen Hehl daraus, dass ihm als Staatsform eine Republik zusagte, die sich vor allem um die Wirtschaftsinteressen der Gesellschaft kümmerte. Soziale Schieflagen zwischen den Schichten und Regionen des Landes wurden für diese rational handelnde Oligarchie billigend in Kauf genommen: Wenn es der Export- und Importwirtschaft gut geht, geht es auch dem Land gut.
Das änderte sich schlagartig 1672, als der französische König Ludwig XIV. eine grosse Koalition gegen die Niederlande schmiedete und in das Land einmarschierte. Die Niederländer hatten zugunsten der Profite Kriegsschiffe gebaut und das Landheer vernachlässigt, Ludwig straf auf wenig Widerstand, und der Marsch auf Amsterdam endete erst kurz davor, als die Niederländer ihre Deiche aufbrachen und das Land überfluteten. An der davor ohnehin schon ausgereizten Börse in Amsterdam kam es zu Panikverkäufen, oder, wenn man so will, zu einem Bank Run: Handelsfirmen und Staatsanleihen wurden verschleudert, und niemand war mehr bereit, Geld für den Krieg zu leihen. Nur Gold und Silber zählte noch, denn auch der überhitzte Immobilien- und Kunstmarkt war in den Fluten abgesoffen. Die Reichen versuchten, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, der Rest des Landes hatte entweder nasse Füsse oder die französische Armee. Die Krise der Politik und die Krise der Märkte verstärkten sich gegenseitig. Und so kam es bei jenen, die daran waren, alles zu verlieren, offensichtlich zu sehr viel Wut auf jene, die man für dieses politische und wirtschaftliche Debakel verantwortlich machte: Das Regime de Witt und seine Anhänger. Die Reichen zogen ihr Geld ab, und die Bevölkerung ihr Vertrauen.
De Witt war gezwungen, eine neue Statthalterschaft der Oranier zu akzeptieren, und dann von seinen Ämtern zurückzutreten. Manche seiner engsten Anhänger wechselten die Seiten. Sein Bruder wurde mit einem vermutlich fingierten Vorwurf festgenommen und gefoltert. Johan wurde mit einem gefälschten Brief zu ihm gelockt, seine Eskorte wurde abgelenkt, und vor dem Gefängnis sammelre sich der wütende Mob, der ihm unter Anführerschaft einiger Oranier die allgemein schlechte Lage zuschrieb. Das weitere, nicht jugendfreie Geschehen umschreibt das zeitgenössische Bild. Die Herzen der Brüder wurden angeblich noch eine Weile öffentlich als Sensation ausgestellt. Einige hochgestellte Experten der Managementneuausrichtung Rädelsführer des Lynchmords erhielten Belohnungen in Form von Ämtern, die durch den Sturz der Oligarchie frei geworden waren, und die sie später für eigene Korruption nutzten. Die Oranier hatten Glück im Krieg gegen Frankreich, und selbst engste Freunde von de Witt wechselten schnell auf die Seiten der Sieger. Goldenes Zeitalter halt.
Wer jetzt glaubt, dass Zeiten derartiger Umwälzungen Gift für das Kapital sind, irrt: Die Geschäfte gingen danach wie gewohnt weiter, de Witt, Oranier, vollkommen egal, Hauptsache die Profite stimmen. Die Börse von Amsterdam verzeichnete 1688 ihre absoluten Höchststände, war damit vollkommen überbewertet, und brach erneut zusammen. Die Niederlande rutschten dadurch in eine tiefe Rezession, die Briten übernahmen einen Teil des Handels, und Frankreich zog eigene Manufakturen auf. Kein goldenes Zeitalter währt ewig, für die einen endet es aufgeschlitzt am Stock und für andere mit dem Crash. Aber immer wird es welche geben, die denken, dass Umverteilung gerecht ist, der Staat sich ansonsten gefälligst um Kernaufgaben zu kümmern hätte, und die rationalen Märkte und ihre Teilnehmer schon wissen, was sie tun und warum das alles liberal und zu unserem Besten ist.
Nur falls jemand auf die Idee kommen sollte, auch andere Kapitel dieser Epoche der Umverteilung – hier: Gedärme der Reichen in die Kochtöpfe, wie es berichtet wird – zu praktizieren, dann darf, ja muss der Staat dann eingreifen. Auf Kosten der Allgemeinheit und der Rechtsstaatlichkeit. Wie im Goldenen Zeitalter von de Witt schon proklamiert. Ich glaube gehört uzu haben, Neoliberale nennen so etwas dann “Best Practice”. Aber ich bin ja auch nur Kulturgeschichtler.