Nach dem Menschenfleisch und der tafel- und höllenfahrtsbegleitenden Musik ploppen nun sanft die perligen Flaschen bei Christoph Raffelt, der sich als Weinkenner mit den Tücken und Freuden der Champagnerproduktion auseinandersetzt.
„Wie lieb und luftig perlt die Blase
Der Witwe Klicko in dem Glase!”
Wilhelm Busch, Die fromme Helene
Spätestens wenn im November im Weinregal der Discounter ein Teil des Angebots zugunsten des Champagners weichen muss, wissen wir, bald ist Weihnacht und Neujahr. Nun gut, die Marzipan- und Printengalore war schon Wochen vorher da und auch sonst können wir uns dem Übermaß an Weihnachtsartikeln kaum entziehen – spätestens am Heiligen Abend dürfte man den Anblick eines Spekulatius als Nötigung werten.
Doch irgendwann an diesen Festtagen, der Braten duftet schon im Ofen, ist die Zeit gekommen, einen guten Tropfen als Aperitif hervorzuzaubern – eben jene Flasche, auf die wir uns schon lange gefreut haben. Wie entsagungsreich war die Zeit vom Kauf des Champagners bis zu seiner Öffnung, eine Zeit, die wir mit günstigem Cava und Prosecco überbrücken mussten, um nun endlich zur feierlichsten Zeit des Jahres eine Veuve Monsigny öffnen zu dürfen. Eine Flasche dieses edelsten aller Getränke – so heißt es in den Marketingabteilungen der Luxusgüterkonzerne – in unseren Händen; am liebsten lassen wir es laut knallen, es gibt ein Aaaah und Oooh und dann schäumt das gezuckerte Ziel unserer Begierde in den Gläsern. Ein Fest ist es dann ganz bestimmt, zumindest für jene, die sich das ganze Schaumweinjahr mit dem oben angesprochenen Prosecco begnügt haben. Und wenn man den Rebensaft die Kehle herunterrinnen lässt, fällt das etwas Zuviel an Süße im Champagner gar nicht mehr auf – im Prosecco hatten wir ja schon reichlich davon.
Nun ist aber so eine Flasche Veuve Monsigny nicht unbedingt jedermanns Sache. Selbst wenn wir uns bezüglich der Qualität in Schweigen hüllen, stammt doch der Wein offensichtlich aus nicht ganz so noblem Hause und ist auch der Preis letztlich ein Problem. Denn eigentlich ist er für einen Champagner zu günstig, und das weiß der Gast, dem ich etwas Besonderes kredenzen möchte. Garnelen kann ich dort gut kaufen, das fällt nicht weiter auf, denn die stelle ich nicht samt Verpackung auf den Tisch. Und wenn ich auch noch die mit dem Biolabel nehme, bin ich zusätzlich auf der nachhaltig sicheren Seite. Natürlich wäre es ebenso möglich – mir selbst ist das einmal passiert -, dass der Gastgeber den Wein blind serviert und betont, es handle sich um Champagner, um dann nachher die Provenienz zu lüften. Das allerdings ist nicht sonderlich fair, da die Gäste natürlich immer die vermeintlich gute Qualität bestätigen werden, wenn wir davon ausgehen, dass sie wissen, wie man sich benimmt – was ich an dieser Stelle schlicht voraussetze.
Warum nicht also gleich zur großen Witwe greifen, zur originalen Veuve Clicquot? Auch wenn es weh tut, denn, oh Gott, der Champagner kostet mehr als das Dreifache der Handelsmarke namens Veuve Monsigny, doch schließlich ist Weihnacht und so oft macht man eine solche Flasche ja nicht auf und dann weiß man wenigstens, was man hat.
Ja, was weiß und was hat man denn dann eigentlich? Man kauft ein Marketingprodukt, eines, das voll aufgeladen ist mit allen Klischees, die die Champagne heutzutage zu bieten hat: Glamour, Eitelkeit und Exklusivität – und das Beeindruckende ist: Es funktioniert! Das hat es schon immer getan! Nur dass es früher – wie selbstverständlich auch die Riesengarnelen – den wirklich Reichen und Mächtigen vorbehalten war, dieses edle Getränk zu verkosten, ja es in Strömen fließen zu lassen. Napoleon war natürlich ein großer Fan. Vor ihm schon der Sonnenkönig. Und die Zaren erst! Die haben sich den Schaumwein, der damals noch so süß war, wie es heute keine Erben-Spätlese mehr schafft, schiffsladungsweise kommen lassen. Im Zweifel ging es an allen Absperrungen und Handelsbarrieren vorbei. Dieser perlende Wein hat immer fasziniert und dank der enorm gestiegenen Kaufkraft kann er heute selbst den Massenmarkt für sich einnehmen. Mit weit über 300 Millionen jährlich verkauften Flaschen kann man schon so manchen Menschen glücklich machen. Oder stolz. Oder doch zumindest kurzeitig befriedigen.
Die markante Flasche der Witwe Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin spielt auf diesem Markt der Eitelkeiten dabei eine der ersten Geigen. Man munkelt, dass der Luxusgüterkonzern Moët Hennessy Louis Vuitton (LVMH), der von sich selbst behauptet, der luxury world leader of prestigious brands zu sein, kurz der Máximo Lider des massenkompatiblen Luxusgeschmacks, jährlich 15 Millionen der orangefarbenen Flaschen umsetzt. Das fühlt sich so an, als wäre das kurz hinter Coca-Cola, allerdings wohl mit höherer Rendite. Dabei schaffen die Granden des Champagnermarketings es trotzdem, das Produkt weiterhin exklusiv erscheinen zu lassen, was natürlich über den Preis geht. Ginge es nach Qualität, Charakter oder – ich wage es kaum auszusprechen – Individualität, würde ich die Witwe, wie man sie unter Eingeweihten auch gerne nennt, im Preis nur unwesentlich höher ansetzen als das Discountpendant. Doch darauf kommt es ja nicht an, weil es dabei ja nicht um Geld geht. Vielmehr gibt man ein Statement ab. Es ist eine Weltanschauung, die da verkauft wird, sei es beim Erwerb eines solchen Champagners, sei es beim Kauf eines von F.A.Porsche gestylten Ice-Cube oder eines Shopping-Bag, sagt zumindest die Marketingdirektorin des Unternehmens, während ich in der Clicquot-Boutique im Hamburger Alsterhaus teste, wie lange ich diese orangefarbene Lebenseinstellung wohl ertragen kann. Klar wird mir in solchem Ambiente allerdings, dass ein solcher Champagner eigentlich viel besser zu einem Weihnachtsfest passt, bei dem der Event-Caterer den Braten anschneidet.
Wofür also entscheide ich mich, wenn es Champagner sein und er zu dem passen soll, was ich sonst favorisiere? Wenn ich auf dem Markt die guten, frischen Dinge kaufe und mich beim Metzger meines Vertrauens für ein Weihnachts-Roastbeef entscheide, wo das Rind noch vor kurzem auf saftigen Eifeler Wiesen herumgetollt ist, sollte ich dazu nicht auch die passenden Weine servieren? Gibt es beim Schaumwein überhaupt diese Individualität und den entsprechenden Charakter, den ich immer wieder erwähne? Natürlich! Doch man muss ihn suchen. Und es ist ja noch eine der drei schäumenden Witwen übrig, von der ich noch nicht berichtet habe. Die Dritte im Bunde ist also keineswegs die Witwe Bolte, die jetzt ins Schaumweingeschäft eingestiegen wäre, es ist vielmehr die Veuve Fourny, ansässig in Vertus, einem der Hauptorte der Côte des Blancs. Nebenbei gesagt findet sich der Name Vertus auch auf dem Etikett der Veuve Monsigny, aber das verrät nichts über den Inhalt, da die Veuve Monsigny eben nur eine Handelsmarke ist. Entsprechend dürfen dort alle Rebsorten aus allen Teilgebieten der Champagne hineinwandern, solange die grundsätzlichen Qualitätskriterien, die sich die Champagne selbst auferlegt hat, eingehalten werden.
Bei Fourny ist der Sitz des Familienunternehmens dagegen Programm. Die gesamten 40 Parzellen liegen in und um Vertus, einem der Orte, wo die Kreide so dicht an der Oberfläche liegt, dass sie dem Gebiet der Côte des Blancs ihren Namen gegeben hat. Es ist weiß dort und auf dem weißen Untergrund wächst am besten die weiße der drei Hauptrebsorten, der Chardonnay. Seit 1930 füllen die Fournys ihre Weine hier selber ab. Sie gehören mit ihren 8,5 Hektar zu den kleinen Erzeugern – der Charakter ihrer Weine übertrifft den der üblichen Verdächtigen jedoch um Längen. Es sind Schaumweine, die aus Trauben erzeugt werden, deren alte Rebstöcke auf möglichst natürliche Weise gepflegt und gehegt werden. Dort werden die Weine viel eher im Weinberg als im Keller gemacht – was für die Champagne immer noch ungewöhnlich ist. Die Trauben zeigen bei der Ernte schon fast Spätlesecharakter und so bergen sie eine Fülle in sich, die es dem Winzer erlaubt, den Champagner später ohne größere zusätzliche Dosage, also Auffüllen mit Zuckersirup, in den Handel zu bringen. Es sind Weine, die mit wilden Hefen vergoren werden und lange in großen Fudern auf den Hefen reifen. Dies ist eine Form der Herstellung, die ich bei einem nicht schäumenden Wein mehr oder weniger als normal voraussetze, wenn ich ein gutes Produkt erwarte. In der Champagne ist dies jedoch immer noch mehr die Ausnahme als die Regel. Doch wenn ich wegmöchte von den Bildern, die mir vom Marketing in den Kopf gepflanzt wurden, und hin zu denen, die für mich Champagne abbilden, dann bin ich hier genau richtig, an diesem Ort in dieser relativ unspektakulären Landschaft. Dann bin ich wieder bei Menschen angelangt, die Winzer sind, und nicht bei Leuten, die eher den Eindruck von Getränkedesignern machen.
Hier also finde ich das eigentlich Besondere der Champagne und das des jeweiligen Bodens, auf dem die Reben reifen. Hier wird die Kreide präsent und der Charakter der jeweiligen Rebsorte. Hier wird deutlich, wie vorteilhaft die kühle Lage ist, in der die Reben ausreifen können, ohne die so wichtige Säure zu verlieren. Wenn diese Voraussetzungen stimmen, wenn sich neben Hefe und Kreide die Frische mit der Reife verbindet, und auch nur dann, mag auch die Liebste diese Weine trinken, die sonst einen gut gemachten ehrlichen Winzersekt jederzeit vorzieht, und zwar zu Recht! Dass ein solcher Blanc de Blancs dann nur ein wenig mehr als das Doppelte eines Discount-Champagners kostet und nur zwei Drittel der Massenproduktionswitwe, mag nicht das entscheidende Kriterium sein bei diesem mit Emotionen und Bildern aufgeladenen Produkt, es trägt aber dazu bei, dass ich hier nicht nur am meisten Genuss pro Veuve bekomme, sondern auch noch zu einem Preis, den sich so ein Normalverdiener wie ich mal leisten kann, zum Fest oder als Überraschung für den Abend zu zweit. Wenn ich dann solch eine Flasche öffne, strömt endlich wieder das ins Glas, wofür es sich lohnt, Champagne zu bezahlen. So etwas setze ich den Gästen gerne vor, bevor sie sich über meinen Braten hermachen dürfen. Dass ich noch eine zweite Flasche habe, verrate ich nicht, die nehmen wir dann mit, wenn wir uns irgendwann dezent zurückziehen.