On a long enough timeline, the survival rate for everyone drops to zero.
Fight Club
Einer der Erben eines grossen Prominenten des Tegernsees beklagte im Alter von 92, dass es mit dem Tennisspielen nicht mehr richtig geht. Oben auf der Neureuth ist fast täglich ein pensionierter Arzt in vergleichbarem Alter, der dort seine Yogaübungen macht, weil er die Neureuth noch schafft, im Gegensatz zu anderen Bergen der Region. Und letzthin traf ich am Einstieg des Sommerwegs hoch zur Hirschberghütte ein Rentnerehepaar mit zwei sehr hübschen Airdale Terriern, die sich hier auf 1400 Meter anerkennend über das grösste 28er Ritzel an meinem Bergrad äusserten. Für sie sei das 34er ja doch eine Erleichterung. Keine Frage: In den Bergen merkt man das Alter. Und man redet auch offen über die Gebrechen, die es mit sich bringt, mit Blick auf die Abgaswolke im Norden, unter der München liegen muss. Man sieht das von hier nur selten genau. Im Gegensatz zur Zugspitze, dem Karwendel, dem Alpenhauptkamm oder dem Starnberger See verhüllen den Münchner seine Emissionen.
Und das ist vielleicht auch ganz gut so, wenn man hier gepflegt über die Vergänglichkeit des Irdischen plaudern will. Um ehrlich zu sein: Nie habe ich mehr Klagen über die nachlassende Gesundheit im Alter gehört, nie habe ich mich lustvoller selbst daran beteiligt. Hier bin ich bei bester Gesundheit körperlich eingeschränkt, hier darf ich es sein, denn Berge und Seen zeigen einem dauernd die Grenzen auf. Man kann dagegen ankämpfen und erfahren, dass es doch noch geht. Man kann Gipfel besiegen, Pässe erstrampeln und weit im kalten Wasser schwimmen, sogar der Weg zum Bäcker ist eine Herausforderung, denn ich wohne auf der ersten Erhebung der Alpen, und die Bäckerei ist unten an der Mangfall. 18% Steigung. Da pfeift das Lüngerl ganz ohne Rauchwaren und Münchner Smogglockenabgase. Man erkennt hier stets, was noch geht. Und was nicht mehr gehen wird. Man kann schon froh sein, wenn man 2011 nicht noch langsamer als 2010 auf den Buchstein gekrochen, gekrabbelt und gestöhnt ist. Nicht umsonst stehen hier allenthalben Marterl herum, die von Qualen und Tod erzählen – das ist immer ganz nah.
Hin und wieder jedoch bewegen auch wir uns nach draussen, nach München vielleicht oder gar Hamburg, wo es keine Berge gibt, und keine Marterl, aber Fitnesseinrichtungen und Optimisten. Tschakka! Sie haben den Hexenschuss ignoriert und vorerst besiegt. Dem haben sie es aber gezeigt. Der kommt so schnell nicht wieder. Tschakka! Sie werden schon mit dem Haltungsschaden fertig. Tschakka! Auf zu neuen Höchstleistungen im Gym! Tschakka! Man achtet auf fett- und salzarme Ernährung. Tschakka! Die neueste Bürostuhlmode kommt 2011 aus dem Reitsport. Tschakka! Ja der Bandscheibenvorfall, das ist eine hässliche Sache, später einmal, nicht jetzt, diese Woche passt es grad gar nicht, da ist nämlich Präsentation. Tschakka! Wir haben zum Kranksein keine Zeit. Sie sind der Herzinfarkt? Tut mir leid, der Chef hat zwar 80 Stunden Arbeit die Woche, aber keine Termine frei. Haben Sie überhaupt Referenzen? Und so weiter. Und so fort.
Nun wäre ich der letzte, der die drei gebrochenen Rippen nach dem Sturz in den Radlenker als gesundheitsfördernde Massnahme betrachten würde. Und bei mir ist es seitdem so, dass mich jede Ablaufrinne daran erinnert, langsam zu tun und länger lachen zu können. Das tut nämlich sakrisch weh, wenn die unteren Rippen morsch sind. Ich kann mich an jede Kurve erinnern, über die ich mich mit dem Rodel auf zur Nahinspektionen des Tannenwaldes machte, und oben am Leonhardstein gibt es eine etwas vom Weg abkommende rote Markierung, die nicht nur blutrot ist, sondern meinblutrot. Dieses Naturumfeld hier ist bestenfalls wurschtig, was aus dem Menschen wird, und ich glaube auch, dass mangelnder Respekt hier brutal bestraft wird. Wer sich hier nicht um seine Gesundheit kümmert, zahlt dafür einen hohen Preis. Und zwar mit Sofortkasse, denn Abgrund, Felsen und Schwerkraft warten nicht. In der normalen, führenden Managerarbeitswelt dagegen macht man es genau andersrum.
Da gibt es Vorsorgeuntersuchungen, die vermutlich genauso sicher wie die Stresstests der Banken und Atomkraftwerke sind. Natürlich liegt den Arbeitgebern oder Selbstausbeutern die Gesundheit in der Firma am Herzen, solange es in der Firma ist, und die leistung stimmt. Da gibt es jede Menge Medikamente, mit denen man schnell den Schmerz als Symptom abschalten und ignorieren kann. Wer am Schreibtisch festgeschraubt ist, fällt natürlich nicht vom Stuhl, und gegen dieses Ziehen im Rücken gibt es erstmal Tabletten und Auflagen und Stress. So eine ordentliche Deadline hilft vielen über ein Nervenleiden hinweg. Im Manchesterkapitalismus schufteten die Arbeiter 12 Stunden am Tag für Essensmarken, während die leitenden Mitarbeiter oft in der Kur waren. Heiliger Petrus, rufe mich nicht, denn ich kann nicht gehen: Heute sind es die leitenden Mitarbeiter, die 12 Stunden am Tag arbeiten, und zur Not muss eine Zigarette oder überteuerter Ramsch aus der Tankstelle reichen. Hauptsache, es wird die heute als verbindlich angesehene Körperkapitalrendite erwirtschaftert.
Treffen sich ein alter Ex-Menschenaufschneider und ein nicht ganz so alter Ex-Menschenausgräber oben auf der Neureuth, kommt am Ende ein Soziologe heraus. Der eine beschreibt die Krankheiten, der andere ordnet historisch ein. Im Mittelalter zur Leibeigenschaft war es nämlich da unten beim Kloster Tegernsee auch schon so: Da musste man, komme was da wolle, die Leistungen für die Herrschaft erbringen. Die hatte stets Vorrang. Wie man danach sein eigenes Leben organisierte, war die Eigenverantwortung. Aber Krankheit war beim Frondienst keine Entschuldigung: Das musste man später auskurieren, die Leistung musste erbracht werden. Der menschliche Fortschritt sieht nun so aus, dass man früher bei privatgesundheitlichen Problemen jung starb, wo man sich heute von Urlaub zu Urlaub kränkelte. Frondienst dauerte nur ein paar Wochen, die Dauerleistungsbereitschaft heute wird als normal vorausgesetzt. Sicher, es gibt einen medizinischen Fortschritt, der das möglich macht. Und der Frondienst wurde abgeschafft. Unterdrückende Klosterherrschaften gibt es nicht mehr, aber einen Markt und seine Zwänge haben wir noch. Oder wieder.
Denn eigentlich war die Idee von der Grossbürgerlichkeit eine ganz andere: Da unten im Tal war vom Biedermeier über die Belle Epoque bis weit in die lodenverseuchten 60er, 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine mondäne Gesellschaft – so künden es die Lehrbücher des Königreichs Bayern und die Geschichte von Bardot und Sachs. Beschäftigt man sich mit den Gästen, die hier verweilten, liest man von Monaten des Bleibens und Erholens. Sicher, mancher starb dennoch an Typhus und anderen – heutigen – Banalitäten. Aber es sind Welten zwischen der Vergangenheit und den hektisch ein paar Mobiltelefonbildern machenden Kongressteilnehmern, die hierher gekarrt werden. Erst wenn sie wirklich alt sind, und nicht mehr gebraucht werden, kommen sie dauerhaft und sorgen dafür, dass der Altersschnitt hoch und die medizinische Versorgung bestens ist. So steht es zumindest in den Prospekten. Man könnte auch sagen: Das finale Auskurieren des Restlebens wird nicht schlechter überwacht, als schon damals in der Firma.
Natürlich kenne ich den Einwände, die jetzt kommen: Ja wo denke ich denn hin. Es geht nicht anders. Der Hexenschuss ist nicht hinnehmbar. Das Mobiltelefon muss eingeschaltet bleiben. Ausserdem macht es ja auch Spass. Der Beruf hat mit den Bandscheiben nichts zu tun. Das ist jetzt nur noch bis zum Jahresabschluss. Die Pillen gegen die Angstzustände sind prophylaktisch. Man kann jederzeit mit dem Kettenrauchen unter Druck aufhören. Und, möchte ich hinzufügen, auf den Friedhöfen der Leute, die sich für unersetzlich hielten, muss erst mal angebaut werden. Man kann jetzt nicht aufhören, weder für ein geruhsames Dasein noch für den Tod. Das alles muss warten. Und die Medizin wird sicher auch in der Lage sein, uns irgendwann so zu konservieren, dass wir bis 67 vollgasstandfest sind. Die Leibeigenen hatten ein Anrecht auf Feiertage ohne Arbeit. Da geht noch was. Zumindest schnell die Mails checken. Und so.