Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Darüber spricht man weiterhin nicht.

Nach drei Jahren Stützen der Gesellschaft bei der FAZ ist es an der Zeit für einen kleinen Rück- und Ausblick, damit wir wissen, wo wir stehen, wohin die anderen ziehen und wir selbst idealerweise angenehm verbleiben.

Der Millionärsanteil der Bewohner des Tegernsees ist höher als der Hartz-IV-Anteil der Berliner.

Seit drei Jahren, 383 Beiträgen und über 67.000 Kommentaren schreibe ich mit einigen Gastautoren an den Stützen der Gesellschaft.

Drei Jahre sind, gemessen an der Geschichte des deutschen besseren Bürgertums, keine besonders lange Zeit. Vor allem, weil die grossen, historischen Umbrüche dieser Klasse, die in Kriege, Katastrophen und Revolutionen münden, zumindest in den besseren Lagen Deutschlands weitgehend ausgeblieben sind. In dieses geschichtliche Wenig bis Nichts habe ich dieses Blog hineingeschrieben, eine kleine, indiskrete Bestandsaufnahme einer Schicht, deren Erfolge und Debakel 2012 kaum anders als 2009 erscheinen. Die idealtypische, penibel geputzte Altstadt, in der ich mich um ein Bürgerhaus kümmere, das den Alten Westen definierende Westviertel, in dem ich aufgewachsen bin, und die Millionärsenklave des Tegernsees, an der oft meine Seele baumelt, das alles ist so wie immer. Alles liegt in einer Wohlstandsregion von der Donau bis zum Alpenrand, und sollte sich anderswo etwas ändern  – man könnte es hier trefflich ignorieren.

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Historiker wissen, dass diese Perspektive eines fetten, zufriedenen Frosches in der Nahrungssuppe des Tegernsees nur begrenzt zur Erkenntnis der Veränderungen beiträgt. Und der Frosch wiederum weiss sehr genau, dass jede Art der besseren Perspektive für ihn eher unerfreulich wäre: Um das ganze Elend der jenseitigen Welt und deren Zwänge zu sehen, müsste er schon sehr hoch hinaus. Ein Frosch kann weit springen, aber nicht fliegen, die Erdanziehung ist sein Feind und der Aufschlag wäre unerfreulich. Auf mich und mein Umfeld bezogen: Wenn ich von meiner stuckverkrusteten Altstadtwohnung an den Tegernsee fahre, nehme ich das Störende – Blockbebauung an der Autobahn, Umlandgewerbe von München, das architektonische Nichts des Flughafens – als kurze Unerfreulichkeit wahr. Man sieht hin und wieder wirklich Dinge, die man nicht sehen möchte, und ist froh, wenn dann die ersten Berge auftauchen, die von Garching ablenken. Selbst in dieser Wohlstandszone nimmt man nur das Schönste mit, und lässt das relativ Unschöne achtlos beiseite.

Es ist nicht so, dass ich von der Existenz des Hasenbergls oder Neuperlachs nichts wüsste. Ich war da schon. Wenn ich mit dem Zug nach Frankfurt fahre, erlebe ich dort am Bahnhof mehr soziales Elend als in all den Jahren am Tegernsee. Und dann gibt es auch noch Berlin, Moskau, die kasachische Provinz, Kuala Lumpur und Regionen, in denen sich die Oberschicht ohne Fahrer, Hubschrauber und Leibwächter nicht aus ihren ummauerten Bezirken trauen kann. Für den Frosch in seiner Brühe ist das eine Welt im dauernden Ausnahmezustand, alles scheint aus den Fugen zu sein, nichts ist so, wie man das von daheim kennt. Und weil das Leben hier auch ohne „das da draussen“ funktioniert, ignorieren wir das nach Kräften.

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Ich sass gestern drei Stunden unten am See auf einer Bank, brutzelte in Richtung Sonnenbrand und habe nebenbei einen ganz anderen Beitrag geschrieben, oder besser, zu schreiben versucht. Ich wollte mit dem Selbstmord ein lästiges und kontroverses Altthema endlich abarbeiten und ins Archiv legen. Die Wahrheit ist, dass ich nicht besonders weit gekommen bin, denn immer wieder kamen – natürlich nicht arbeitende – Zeithaber vorbei, guckten auf mein hier eher ungewöhnliches Notebook und machten den immer gleichen Witz, ich hätte hier ja ein schönes Büro. Und ich witzelte zurück und sagte, naja, die Hölle Frankfurt sei schon voll und habe mich wieder ausgespuckt, und so müsste ich jetzt bis zum Ende aller Zeiten am See bleiben. Und dann haben wir gelacht und uns noch einen schönen Tag gewünscht. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Bei knapp 6000 Zeichen – es ging gerade um die Frage, ob man einen Tod im Wasser schicklich sei – sagte ich mir: Ich sitze hier im Sonnenschein, tippe ein wenig auf einem Spielzeugnotebook, die Leute kommen vorbei und denken sich: Oh! Da arbeitet einer! Faszinierend! An einem Tag wie heute, wo alle anderen ihre Hunde ausführen und auf dem Steg liegen und über Albatrüffel reden – arbeitet der. Mitten unter uns. Den reden wir an. Haha.

Ich schreibe das, weil es vielleicht aus einer sehr unschuldigen Weise heraus ein wenig das neutral-asoziale Klima erklärt, aus dem meine Tätigkeit in diesem Blog ensteht: Das meint niemand böse. Da liegt auch viel Freude darin, dass man jetzt genau hier ist und nirgendwo anders. Dass man diese Zeit, die Luft, das Blau und die Sonne hat, und sogar einer hier ist, der arbeiten muss. Niemand ist hier feindlich, und vermutlich wissen die meisten um den Wert und die Bedeutung von Arbeit, aber es ist, hier, jetzt, auf diesen Bänken, nicht die Norm. Selbst wenn ich erzählte, dass ich für eine angesehene Zeitung über all das hier schreibe: Das ist weit weg. Frankfurt, das Internet, das könnte auch auf dem Mond sein oder in der kleinen Magellanschen Wolke. Sicher, woanders ist es anders, so steht es ja auch in der Zeitung, und mitunter hört man auch davon über Pflegerinnen, Kindermädchen und anderes Personal. Ich denke, das ist den meisten durchaus irgendwo bewusst. Aber man vergisst so etwas im Sonnenlicht auch schnell. Und wundert sich, leicht amüsiert und freundlich, über einen Arbeitenden.

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Es gibt Tage, da fremdle ich selbst mit dieser Haltung. Und es gibt andere Tage, da ist es mir vollkommen gleichgültig, dass ich in meinem Leben nur einmal im Hasenbergl war, während ich in der Münchner Residenz den Wärterinnen erklären kann, wie der Aufbau eines barocken Schildplattkabinetts vor sich gegangen ist. Ich finde es vollkommen richtig, dass der Staat meine Opern- und Museenbesuche üppig mit eben jenen Mitteln alimentiert, die er den Besuchern von Rockkonzerten, Fussballspielen und Oktoberfesten abnimmt. In Berlin krepieren die Kastanien, weil niemand das Laub wegräumt, am Tegernsee bringen die Gemeindearbeiter Wochen damit zu, an den Strassenrändern Blumenbeete anzulegen: Ich begrüsse das sehr, still und innerlich, darüber muss man doch gar nicht reden. Es kann keinen Zweifel geben, der Staat ist gar nicht so schlecht auf die Bedürfnisse dieser Klasse eingestellt. Man kann es in ihm aushalten. Wer hier ist, denkt nicht gross daran, nach Österreich oder in die Schweiz oder London oder Monaco zu ziehen. Solange das hier kein grosses Duisburg wird, ist alles bestens.

Natürlich hat sich diese Schicht in den letzten drei Jahren unter dem Druck der Entwicklung verändert: Niemand will mehr Atomkraft oder Gentomaten, alle wollen Bio und Nachhaltigkeit und fallen auf Waldfonds herein, wie sie vor 10 Jahren den Filmfonds geglaubt haben. Von den Banken, den bürgerlichen Parteien von CSU bis Grüne, den Guttenbergs und Wulffs und der katholischen Kirche ist man auf breiter Front abgerückt. Die Klasse ist so gefestigt, dass sie sich ihre eigenen Regeln schreiben kann, und gefallene Idole leichter Hand beiseite räumt. Man zerbricht nicht an inneren Widersprüchen, man löst sie auf, wo man sie nicht ignorieren kann. Auch wenn es ihr Geld ist, das die Finanzmärkte treibt, so ist diese Schicht politisch bedeutungslos geworden, Entscheidungen werden weit weg getroffen. Also kapselt man sich mit dem ab, was geblieben ist. Sicher, es ist nicht mehr die gute Gesellschaft von früher, es gibt Scheidungen und Generationenkonflikte und neue Vorstellungen der Jungen – aber es gibt vor allem keine Alternative, die irgendwie besser wäre. Nur mehr Hektik, Stress und Ärger jenseits dieser Bestlage.

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Man befolgt die Routinen weiter, wie man schon immer weiter gemacht hat. Es gibt keinen Grund, über eine unschöne Zukunft zu reden, die man ausgrenzen und anderen zustossen lassen kann, es gibt genug andere Themen als das, was Medien momentan so berichten. In der Finanzkrise war man mehr an der Spitze des Fortschritts in den Untergang, als einem lieb sein konnte; mir scheint, als würde der Zeitgeist uns jetzt zuraunen, doch etwas zu warten, zu verweilen, die anderen die neuen Entwicklungen probieren zu lassen, und wenn das Wetter schlecht ist, Bad Tölz zu besuchen. Und wenn darüber die Gesellschaft zerbrechen sollte, weil andere lieber in Camps und Castingshows als süffige Organe der kulturellen Einigung wollen, dann hat man daran keine Schuld gehabt: Das waren die anderen, die unbedingt weiter wollten, und am Verbindenden gerüttelt haben, würde man sagen, wenn man überhaupt gezwungen wäre, darüber zu reden. Ist man aber nicht. Man könnte es vielleicht hier tun, aber man muss nicht.

Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich für drei Jahre Aufmerksamkeit, Kommentare und Zuneigung bedanken, und natürlich auch bei der FAZ für diesen publizistischen Sandkasten in Bestlage.