Merdre!
König Ubu hat recht. Was für die schlechteren Kreise die Belastung, ist für die besseren Kreise die Verpflichtung. Und so, wie die einen sich dann gerne wegdrücken, neigen die anderen dazu, Ausreden zu finden. Der eine beschwert sich über teure Fussballkarten, der andere hat gerade leider wegen Mama keine Zeit für den Gottesdienst. Der eine jammert über steigende Lebensmittelpreise, der andere hat Angst, sich beim Bestellen in einem Restaurant voll mit arroganten Feinschmeckern zu blamieren. Gerade Vermögenden, denen früher vieles wurscht sein konnte, werden heute dann immer neue Must Haves und Qualitäten abverlangt, der richtige Wagen, die richtige Uhr, die richtige Schule. Man sollte sich mit Wein auskennen, aber leider bin ich nicht nur ignorant, sondern auch Abstinenzler. Man sollte Instrumente spielen können, aber mehr als den CD-Spieler kann ich nicht bedienen. Das ist, öffentlich eingestanden, zwar etwas peinlich, aber dafür habe ich Gastautoren für Musik und Alkohol.
Ja, und die Bälle. Also, in meiner Jugend kam man ja ohnehin nicht aus der kleinen, dummen Stadt an der Donau hinaus. Man machte den Tanzkurs, wann und wo ihn die Eltern schon gemacht hatten. Man hatte ein paar Bälle, wo man hingegangen ist, und der Höhepunkt war ein Ball, organisiert von einer Bank, deren Direktor eine S-Klasse und eine zarte Tochter hatte, die ich kannte, und irgendjemand muss uns für ein gutes Paar gehalten haben. Ein paar Mal haben wir auch getanzt, und der Rest der Geschichte wäre fast schon Schleichwerbung über den Komfort der Rückbank eines Mercedes Baureihe 126 und geht Sie, liebe Leser, obendrein auch überhaupt nichts an. Im Übrigen gehe ich nicht mehr auf solche Veranstaltungen. Ich weiss aber, dass man das von Unsereins erwartet, und weil es andere ja tun, habe ich eine Bekannte – nennen wir sie La Cenerentola – um einen Gastbeitrag gebeten, wie das heute in Zeiten der Baureihe 221 so ist, und die lokale Bank längst nicht mehr die Ausrichtung übernimmt.
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Zum dreijährigen Jubiläum dieses wunderbaren Salons, den ich von Anfang an gerne frequentiert habe, wenn auch mit mädchenhafter Zurückhaltung, durfte HansMeier555 seine Leidenschaft für den Feudalismus ausleben. Ich teile diese Leidenschaft durchaus – wenn auch auf andere Art. Ich spiele gerne Prinzessin, bis heute, und nicht nur im Karneval.
Vermutlich ist es ein typisch weibliches Phänomen: es sind schließlich vor allem ältere Damen, die in der Regenbogenpresse jedes Detail über die Herrlichkeiten des europäischen Adels verfolgen, und einer vergangenen Zeit nachhängen – ähnlich, wie die Spanier an ihren nordafrikanischen Enklaven hängen, und sich Investmentbanker heutzutage an ihre Boni klammern. Derart bleibt den letzten Resten des Feudalismus zumindest eine kleine Zahl Anhänger erhalten. Denn wie sollte sich ein „oben“ definieren, wenn es kein andächtig aufschauendes „unten“ gibt? Gut für die europäischen Fürstenhäuser und Adelsgeschlechter, bedauerlicherweise allerdings keine Arena, an der moderne Durchschnittsbürger teilnehmen könnten. Aber auch für jene, die mehr wollen als nur durchs Pressefenster zuzuschauen, gibt es Gelegenheiten – wenn man sie denn sucht. Bälle zum Beispiel sind eine glänzende Möglichkeit, für ein Wochenende Prinzessin zu spielen, und dabei sogar noch eine ganze Menge zu lernen, wenn man nur genau hinschaut. Ballkulturen nämlich unterscheiden sich zum Teil ganz erheblich.
In Deutschland reicht das Angebot von privat organisierten Parties in langen Kleidern (respektive Smoking) bis hin zu formellen Anlässen, wo gesetzte Damen noch ein Auge auf die Jugend im Backfisch-Alter haben. Im Vereinigten Königreich, so habe ich mir sagen lassen, gibt es tatsächlich Bälle, wo eine Minderheit der Herren die Abendgarderobe (oben) mit Kilt (unten) kombiniert, und überhaupt ist auf großen Festen europaweit natürlich auch die Galauniform mit Dekoration zulässig.
In Wien wiederum sind Bälle ein Volksvergnügen. Zwar wird die Kleiderordnung unnachgiebig durchgesetzt, und läßt keinerlei Raum für Individualisten. Die Balleröffnung vermittelt eine Vorstellung vom längst in Irrelevanz versunkenen Hofzeremoniell, die Jungherren mit Handschuhen, die Jungdamen in Weiß, der präzise choreographierte Einzug der hochdekorierten Ehrengäste und bedeutenden Persönlichkeiten illustriert eine spezielle Facette des österreichischen Titelwahns – aber teilnehmen kann im Prinzip jeder. Arbeiterfamilien sparen jahrelang auf das weiße Kleid und die Ballkarten, damit die Tochter einmal im Leben debütieren kann. Auch ist die Vielfalt der Bälle so groß, daß sich für jeden eine Gelegenheit findet – im Zweifel auch für Individualisten.
In Polen wiederum mischen sich die große Vergangenheit der alten, bedeutungsvollen Familien mit den umwälzenden Folgen des Sozialismus. Glücklich, wer beim Balltourismus auf Gastgeber trifft, die ihren Freunden auch die eigene Kultur und Vergangenheit nahebringen wollen, indem sie als Rahmenprogramm zu einer Schlittenfahrt durch die masurischen Sümpfe einladen.
Wer irgendwann mal Tolstoi gelesen hat, hat sich vermutlich auch irgendwann mal in der Behaglichkeit eines deutschen Wohnzimmers vorgestellt, wie das wohl gewesen sein muß: im tiefsten Winter nachts mit Schlitten von einem Herrenhaus zum nächsten zu fahren, sei es als Vergnügen an sich, sei es um die nächsten Freunde zu treffen. Mittlerweile weiß ich: es muß wunderbar gewesen sein. Das Tiefschwarz einer ländlichen Nacht, ohne Laternen, Scheinwerfer und Reflektoren ist überall und jedes Mal erneut eine Überraschung für den Stadtbewohner – entfaltet aber ganz besonderen Zauber, wenn sich der flackernde Lichtschein und eigenartige Geruch der Fackeln dazu gesellen. Ein komplettes Feuerzeug ging im Kampf auf, die Fackeln nicht erlöschen zu lassen. Nach vorne sah man fast nichts, hörte nur das Schnauben der robusten Pferdchen im Zweiergespann, nach hinten hingegen sah man in der klirrend kalten Luft den Schweiß der Tiere des nächsten Gefährts verdampfen. Irgendwo tobten Hunde um uns herum, kläfften gelegentlich, verschwanden dann wieder im Wald rechts und links, wo es immer wieder leise raschelte.
Gut, zugegeben, es lag zuwenig Schnee, so daß unsere Schlitten Räder hatten, und die Stille wäre vermutlich mit glitzerndem Weiss noch anrührender gewesen, auf diese einzigartige Weise, die nur wirklich viel Schnee hervorbringt. Dennoch: über solche Kleinigkeiten hilft die Phantasie der passionierten Leserin spielend hinweg – und zukünftig muß ich mich bei der Lektüre nicht mehr allein auf dieselbe verlassen. Die Realität des Gasthofs danach war geradezu ernüchternd – und trotzdem noch farbig genug. Über dem gesamten Jagdhaus hing ein leiser Duft von Holzkohle, wie ich ihn seit meiner Kindheit mit Freilichtmuseen verbinde, viel polnischer Wodka vertrieb die Kälte aus den Füßen (vermutlich hätten in den Wagen Pelze besser geholfen als profane Wolldecken), und im Salon oben konnte man sich über die ehemaligen Eigentümer und wahren (ostpreussischen) Stützen der Gesellschaft weiterbilden. Sich hier die vergangene Zeiten vorzustellen ist auch deshalb so leicht, weil sie immer landwirtschaftlich geprägt waren und bis heute von manchen Segnungen der Moderne weitgehend verschont geblieben sind.
In Warschau fallen die Bruchstellen der Geschichte hingegen mehr auf. Unser Hotel gehörte zu dem glücklichen Straßenzug, der zu Kriegszeiten von Wehrmacht und SS als Quartier besetzt und daher nicht abgefackelt oder gesprengt worden war – ansonsten stehen stalinistische Monumentalbauten neben zeitgenössischen Glaskästen und postkartengerecht rekonstruierten und restaurierten historischen Gebäuden.
Die Räumlichkeiten für den Ballabend gehörten natürlich zur letzten Kategorie. Umlaufende Galerien mit Rundbögen über mehrere Etagen, eine riesige Fläche in der Mitte, Stuck und Blattgold in reichlichen Mengen, wunderschön gedeckte Tische und viele polnische Spezialitäten auf dem Buffet (die ich natürlich zwecks Horizonterweiterung alle probieren mußte). Die Gäste hingegen hätten jedem Diversity-Manager Ehre gemacht: Es gab studentische Mädchen mit Pferdeschwanz, kurzen Röcken und Blusen, junge Frauen in glamourösen Abendkleidern und alternde Matronen in gesetzter Robe. Bei den Herren sind die Unterschiede ja meist nicht ganz so augenfällig, aber auch dort gab es ganz unterschiedliche Ausprägungen modischen Muts. Dank der polnischen Tischnachbarinnen war ich nicht nur über die anwesende Prominenz bestens informiert, sondern auch über die mir völlig neuen Abläufe.
Kaum hatte man sich nämlich an den Tischen zusammengefunden – wobei nicht zu klären war, ob die Hors d’Oeuvres jetzt oder später zu konsumieren waren – stellten sich alle zur Polonaise auf. Allerdings nicht wie im deutschen Karneval. Die Herren reichten den Damen die linke Hand, und man reihte sich in Paaren hintereinander auf, bis die Schlange sich geschätzte vier Mal durch den riesigen Saal wand. Mit Einsetzen der Musik schritten die ersten Paare im Takt los. Es dauerte zwanzig Minuten, bis alle Paare einmal durch den Saal promeniert waren. Unmittelbar danach wurden die ersten Takte Walzer getanzt, dann Partnertausch und wieder einige Schritte Polonaise, dann wieder etwas Walzer, dann noch einmal Polonaise – derart bescherten mir fünfzehn Minuten Tanzen sicherlich vier Tanzpartner, wobei ich mit manchen wegen meiner nicht vorhandenen Polnischkenntnisse kaum verständigen konnte. Unterhaltsam war es trotzdem.
Erst nach der Eröffnung der Tanzfläche wurde das Buffet freigegeben, irgendwo dazwischen Reden und Begrüßungsworte (auf Polnisch, natürlich) und den Rest des Abends immer wieder fröhlicher Partnertausch bei klassischen Standardtänzen, Polonaisen und Mazurken im Wechsel – da sind die Polen ganz offenbar sehr aufgeschlossen und kommunikativ. Wunderbare Idee, wie ich finde.
Die obligatorische Tombola für wohltätige Zwecke gab es natürlich auch – wo allerdings in Deutschland Champagnerflaschen, Museumsmitgliedschaften und Einkaufsgutscheine verlost werden, gab es in Polen – Kühlschränke. Und Waschmaschinen. Sehr praktisch gedacht, und dank meines unvergleichlichen Glücks kann ich nunmehr behaupten, in meinem Leben ein gelbes Gummiboot im Supermarkt, einen Fitnesstudiogutschein in Tschechien und einen Kühlschrank in Polen gewonnen zu haben. Weniges war für die gesamte Tischgesellschaft erheiternder als die Vorstellung meiner Wenigkeit am nächsten Morgen am Lufthansa-Schalter, mit einem überdimensionalen Kühlschrank (inkl. Gefriereinheit!) im Gepäck. Der Kühlschrank steht mittlerweile übrigens in der Wohnung meiner Tischnachbarin, wo ich ihn demnächst zu besuchen hoffe, um sein Wohlergehen zu inspizieren.
Andere Länder und andere Sitten werden jedenfalls niemals langweilig, und die Vergnügungen vergangener Zeiten waren keinesfalls schlechter als ein Abend im Kino – von den erfrorenen Füßen abgesehen. Andererseits waren diese Annehmlichkeiten früher natürlich nur für eine kleine Minderheit verfügbar. Als Küchenmädchen hätte ich mich in jener Epoche vermutlich weniger amüsiert, die ich als emanzipiertes Kind der Moderne hin und wieder besuchen darf.