Polizei Notruf, was kann ich für Sie tun?
Schönen guten Morgen, hier auf der Strasse sind vier offensichtlich alkoholisierte Randalierer, die drohen, zu mir hochzukommen und mich zusammenzuschlagen, konkret: Ich sollte schon mal den Krankenwagen rufen.
Ich schicke Ihnen sofort einen Streifenwagen. Ihre Adresse?
Während ich nochmal alles durchgebe – Name, Adresse und Kennzeichen des Fahrzeugs, dessen Türen aufgerissen sind, und aus dem voll aufgedrehte Bässe wummern – fahren die besagten Personen fort, unten unschöne Sachen zu brüllen, und zwar so laut, dass auch andere wach werden. Zuerst waren da auch noch ein paar laute Abiturienten – für alle, die an eine Rente durch die Zukunft des Landes glauben, wäre das ein erhellender Moment gewesen; vor allem aber war es ein ruheraubender Moment, denn daneben stand ein Auto, und dessen Insassen hatten zur Beschallung der Nachbarschaft alle Türen geöffnet.
Mit der angekündigten Polizei wollten die meisten keine Probleme mehr haben, aber die vier Insassen des Autos – offensichtlich keine Abiturienten, sondern eher zufällig Anwesende – blieben und drohten. Ich bin da inzwischen abgehärtet; als ich zum ersten Mal die Polizei wegen Randalierer gerufen hatte, fühlte ich mich noch komisch, inzwischen – auch auf Anraten der Polizei, in solchen Momenten nicht die Sache direkt zu lösen – mache ich das aus Gewohnheit. Unten also brüllte man Verwünschungen hoch und oben wartete ich. Recht lang. Sie wurden irgendwann heiser, und fragten, wo denn jetzt die Polizei bliebe. Ihr Aktivwortschatz in Sachen Drohpotenzial war erschöpft, und dann gingen sie. Mein Telefon klingelte bald darauf, die Polizei fragte, ob die Leute noch da seien, denn sie wären momentan alle im Einsatz und könnten niemanden schicken; ich sollte doch am nächsten Tag kommen und Anzeige erstatten.
Zwanzig Minuten später kamen die Randalierer nochmal, zertrümmerten Flaschen, wiederholten ihre Drohungen und machten sich irgendwann davon. Keine Polizei ward gesehen, und wenn Abiturfeiern seien, so hörte ich später auf der Wache, sei eben die Hölle los, da sei die Polizei völlig überlastet. Es war ein sehr lehrreicher Morgen, ich lernte so einiges über Gefährdungspotenziale und vier junge Mitglieder dieser Gesellschaft wissen, was sie tun können, ohne dass sie deshalb Ärger mit der Polizei bekommen. Vielleicht fragen sie sich, ob das auch so angenehm bleibt, wenn sie die Haustür eintreten, eine Flasche in die Schaufenster werfen oder jemanden körperlich angehen. Nach der Schliessung der Lokale am Wochenende sind Massenschlägereien in der Altstadt an der Tagesordnung. Junge Männer kommen aus den Discos, wo sie durch Umsätze den Wirt, aber keine Frau erfreut haben, treffen jemanden auf der Strasse, und dann – vor dem Tor der Stadt, wo die Touristen immer stehen bleiben und den romantischen Blick auf das Münster geniessen, haben sie schon einen erstochen. So geht das zu, in jener kleinen, reichen und sehr selbstsicheren Stadt an der Donau, wenn es Nacht ist. Die Personen an der Stadtspitze, von CSU und Freien Wählern, neigen trotzdem eher dazu, solche Ereignisse als leider unvermeidbar hinzustellen. Die Anwohner beklagen sich, die Stadt wiegelt ab, die Wirte protestieren im Namen einer lebendigen Jugendkultur, am Montag pickt man die Glasscherben aus den Ritzen des Pflasters, die Prügeleien stehen in der Zeitung, und daneben die Meldung, wie effektiv doch der Bürgerkonzern der Stadt ist.
Früher konnte man darüber als Altstadtbewohner nur hohnlachen oder eben bei der Polizei anrufen, doch inzwischen hat eine Wirtin zusammen mit dem Anglerverein und den Stadtvätern eine Lösung entwickelt: Das Haus am See. Das Haus am See ist das ehemalige Fischerheim am Naherholungsgebiet der Stadt, eine Art Gaststätte und Vereinsheim der Angler. Aber die sitzen lieber am See denn in einer Wirtschaft, und so gingen die Geschäfte schlecht. Jetzt haben die Betreiber einer Discothek übernommen, die neben der gotischen Hauptkirche der Stadt liegt, und deren Besucher mitunter als „Münstlerbiesler” in den lokalen Sprachwortschatz eingegangen sind. Am See dagegen stehen Liegestühle unter Sonnenschirmen, direkte Anwohner gibt es nicht, dafür Parkplätze, Ufer und jede Menge Wasser, zum Baden, oder auch nur zum Anschauen. Glaubt man den Einlassungen, dann ist das eine sehr angenehme Sache, durch die das Wort „Chillen” nun sogar bis an die Donau kam. „So etwas Urbanes gehört in eine Großstadt”, sagte die Betreiberin, vermutlich wohl wissend, wie gern die Oberen hier hören, man sei mehr, viel mehr als eine kleine, dumme Stadt an der Donau.
Nun ist gegen Menschen am See in Liegestühlen nichts einzuwenden, aber das reichte angeblich nicht aus, um den Betrieb kostendeckend zu gestalten. Also wurden nächtliche Sonderveranstaltungen mit Musik beantragt. Mindestens vier, besser aber zwölf an der Zahl sind gewünscht, doch schon die erste Party im April endete im Eklat: Es ging zu, wie es sonst in der Altstadt zuging, zusammen mit viel Verkehr und zugeparkten Strassen in den am See liegenden Vierteln, und einem Shuttlebus, der Gäste aus der Innenstadt an den See und wieder zurückbringen sollte. Die zweite Feier – angekündigt als Killerparty – wurde aufgrund der Ereignisse untersagt, und seitdem tobt der Streit in der Stadt: Böses wird über die Anwohner verbreitet, man trifft sich im Internet, um ihre Namen und Adressen zu erfahren, mögliche Schuldige der aufmüpfigen Anwohner werden genannt. Überhaupt sind viele der Meinung, dass die Menschen dort am Naherholungsgebiet auch mal etwas mitmachen könnten, alle anderen hätten ja auch Lärm und Belästigung. Fast könnte man glauben, die sozialistische Revolution in Deutschland sei bislang nur ausgeblieben, weil man den Klassenhass nicht in Verbindung mit Wodkacocktails am frühen Morgen züchtete: Der See gehöre allen, betonen die Befürworter, nur ein paar Grosskopferte führten sich so auf, als gehörte der See ihnen allein. Dabei kann jeder immer schon immer an den See: Nur die Disco am Morgen ist nicht vorgesehen.
Dass da ein Bebauungsplan vorliegt, der solche Veranstaltungen generell verbietet, hat im zuständigen Ausschuss allerdings CSU, SPD und Grüne nicht davon abgehalten, dem Unterfangen eine neue Chance einzuräumen: Im August darf es einen weiteren Versuch geben, wieviel Grossstadtflair dem See und seinen Anwohnern zugemutet werden kann. So ist das eben, der eine wartet umsonst auf die Polizei und der andere darf nochmal, weil die Angler und die Brauerei auch dahinterstehen. Wie kann es so ein Anwohner überhaupt wagen, auf seine Nachtruhe zu pochen, klingt es weiterhin durch die Anwürfe im Internet hindurch, und das Wort „Lynchmob” ist auch schon zu lesen, und anderes, was mich an meine Erlebnisse in der Altstadt erinnert. Man kann nicht der Entwicklung einfach im Weg stehen, bedauern manche Politiker. Man muss auf den Interessensausgleich Rücksicht nehmen. Es gibt strenge Wort an die Betreiber, die ihrerseits damit drohen, das Lokal wieder zu schliessen. Und jetzt auch einen Anwohner, der es wissen will: Der hat gegen die Party geklagt. Damit ist der Rubicon überschritten.
Vielleicht geht alles gut, die Veranstaltungen werden generell untersagt: Dann bleibt alles beim Alten, bis 24 Uhr können die einen chillen und die anderen danach schlafen. Wenn nicht, werden grosse Mengen aufgebrachter, alkoholisierter Jugendlicher an den See gekarrt, und es geht die Hoffnung um, dass sie sich dort besser als in der Altstadt benehmen. Und die Polizei, so es doch anders und wie im Netz schon angekündigt ausgeht, genug Streifenwagen hat. Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang, vielleicht bleibt alles ruhig, vielleicht gibt es einen Exzess, oder es ist beim ersten Mal erträglich, und dann steigert es sich: Dann wird man in der Sadtregierung mal wieder sagen, was man auch schon in der Altstadt sagt, das sei doch schon länger so, so sei das eben, und die Wirte müssten doch auch leben, und man sei doch selbst auch mal jung gewesen.
In liberalen Kreisen (die auch mal jung waren) wird viel gejammert über Gated Communities, über Videokameras im öffentlichen Raum, zu viel Polizeihärte, Tanzverbote und private Wachdienste, und was sonst noch alles für das Auseinanderbrechen der Gesellschaft steht. Das ist letztlich immer eine Frage der Kraft, die auf so eine Gesellschaft wirkt. Hier ist es noch nicht mal der Konflikt zwischen reichen Anwohnern gegen arme Besucher, denn mit HartzIV wäre der Spass am See reichlich teuer. Es ist kein soziales Problem, sondern ein Problem des asozialen Verhaltens, und wie weit es toleriert und legitimiert wird. Es lernen nicht nur die Randalierer, dass die Polizei nicht kommt. Es lernen die Betroffenen, dass die Kamera und das Telefon in der Nacht stets griffbereit sein sollen. Und dass es Mittel und Wege gibt, auch bei Bagatellen die Probleme juristisch dorthin zurückzubringen, wo sie herkommen. Mit einer verständnisvollen, toleranten Gesellschaft hat das natürlich nicht mehr viel zu tun, auch wenn die Menschen dort eigentlich verständnisvoll und tolerant sind, denn seitdem es See und Viertel gab, ist es gut gegangen. Es könnte so schön an diesem See sein, ich weiss das, ich bin da draussen aufgewachsen, manchmal, im Sommer, bin ich dort vor der Schule geschwommen, als ein leichter Nebel über dem Wasser lag.
Heute wurde ich empfehlen, Badeschuhe mitzunehmen. Wegen der Scherben bei der neuen Party Area, die sich die kleine, dumme Stadt neben der Altstadt gönnt.