Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Fettabsaugen in Rottach 3: Lieber Thomas Mann als Arno Breker

Literaten, Künstler und normale Sterbliche: Sie alle sind fasziniert von der Welt der Berge. Den einen ist sie Inspiration, den anderen Freizeitpark, und manchen Ort von Gipfelglück und Niederlage.

Rucke die guh, Rucke die guh, Blut ist im Schuh
Aschenbrödel

Also, das muss ich Ihnen erzählen. Ich trage Turnschuhe von Tricker’s, einen Strohhut von Hutterer, selbstgestrickte Wandersocken von der Mutter einer Freundin, und einen Rucksack vom Flohmarkt in Pfaffenhofen. Die Schuhe habe ich in Parma gekauft, nachdem ich vorher in der dortigen Fressgasse bei meinem Lieblingsdelikatessenhändler in Asche geräucherten Scamorza besorgt habe. Den Hut habe ich getragen, als ich zum ersten Mal die Speisekarte des Saxifraga in Meran kennenlernte. Die Wandersocken waren eine Art Gastgeschenk bei einer Zwetschgendatschieinladung, und der Rucksack ist normalerweise die Verpackung der Wahl, wenn ich zwischen meinen drei Wohnorten pendle, und der halbe Kühlschrankinhalt mitkommen muss. So ziemlich alles ist mit Essen verbunden. Ich komme aus Bayern, da ist das vergleichsweise normal; der Brite spricht über das Wetter und ist gross und schlank, der Bayern spricht über das Essen und ist tendenziell etwas gedrungen und, was wollte ich sagen, ach so: Dass mir das aufgefallen ist, war in der Schlange mit anderen Runden beim Lengmüller in Tegernsee. Denn ich gehe wie geplant auf den Berg. Und immer, wenn ich auf den Berg gehe, nehme ich Kuchen mit. Das ist bei uns so.

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Ein Stück für das Gipfelglück, zwei Stück zur Vorsicht: Man hört so viel von Unglücken und Gefahren der Berge. Man kann in Gletscherspalten stürzen, dann ist man beim Warten auf die Bergrettung froh um ein Stück. Und hin und wieder hat es hier auch Braunbären. So ein Stück Linzer Torte kann man dem zur Ablenkung sicher geben, wenn man sich von dannen macht. Auszuschliessen ist so ein Bär nicht, auf der Strasse stehen trotz der extremen Benzinpreise auch viel zu breite SUVs mit unerfreulichen Leuten aus Bad Homburg, Bremerhaven und Bochum: Wenn die das an den See schaffen, ist auch so einem Bären vieles zuzutrauen – und dem Bären gibt man hier lieber als anderen, die eigentlich niemand eingeladen hat. Das macht schon drei Stücke Torte, bevor man den ersten kleinen Anstieg auch nur erreicht hat.

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Vom Tegernsee aus sind es, zusammen mit etwas Auf und Ab, gut 1000 Höhenmeter auf die von unten eher flach aussehende Spitze. Ein Klacks für trainierte Outdoornorddeutsche, eine lockere Trainingsrunde vielleicht, aber bei uns ist es genetisch so, dass meine Grossmutter gern mit alpinen Unmöglichkeiten aufwartete: “Auf den Berg steige ich nur, wo ich mit einer Seilbahn hinauffahren kann”, pflegte sie zu sagen, obwohl das Steigen das Fahren ausschliesst und umgekehrt. Auf dem Wallberg etwa – schräg gegenüber vom Hirschberg – gibt es an der Gipfelstation auch ein Cafe sowie eine Gondel, die einen wieder nach unten schaukelt. Die Klientel der Fettabsauger aus dem Tal macht das im Winter so: Hinauf mit der Seilbahn über die Wolken, Kaffee und Kuchen beim Bräunen im Liegestuhl, und danach wieder hinunter und die Enkel anrufen und fragen, ob die Mama jetzt immer noch so viel arbeitet, bei dieser dummen Bank, die so wenig Lohn und dafür um so mehr Rendite zahlt. Die Anorexie der gestressten Töchter im Beruf und die Wohlgenährtheit der von Kapitalerträgen lebenden Mütter – da gibt es einen Zusammenhang. Im Ergebnis jedoch sind die Dürren als Ideal in den Zeitschriften und die Korpulenten lassen sich jene Angebote zum Absaugen unterbreiten, vor denen ich auf den Hirschberg fliehe. Zügig beginne ich, in die Pedale zu treten, vorbei an der kleinen Villa mit noch kleinerem Nebengebäude, die vor drei Jahren keine lumpige Million gekostet hat, und nun natürlich – wie alles andere – verkauft ist. Dann verschluckt mich der tiefgrüne Bergwald, und es grüssen einen die Toten von Kreuzen.

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Neben den ortsüblichen Marterln kommen weiter oben die Kreuze derjenigen, die es nicht geschafft haben: Hier ist einer im Schneesturm begraben worden, dort ist einer an Entkräftung gestorben, weiter hinten dann hat eine der Schlag getroffen, und an einem Kreuz stehen sogar gleich zwei Namen, deren Träger hier von Lawinen ins Tal getragen wurden – der Sommerweg heisst hier so, weil man im Winter besser woanders gehen soll, wenn man sein Leben liebt. Es liegt vermutlich an der reizvollen Landschaft, am satten Grün der Bäume, dem schnellen Leben des Bergsommers, der hübschen Frakturschrift und den Bildern an den Kreuzen, die kernige, braune Mannsbilder in karierten Hemden zeigen, dass man das Läuten der Kuhglocken als weiterhin romantisch und nicht als Totenglöcklein wahrnimmt. Der Berg ist der grosse, letzte Fettabsauger, wer hier etwas falsch macht, braucht keine Diät und keine Torte mehr: Dennoch liegt das Bergwandern im Trend. Von irgendwas muss man abnehmen, und an irgendwas sterben.

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Früher war das übrigens anders: Thomas Mann, der hier lange Jahre seine Sommerfrische zubrachte, war ebenfalls auf diesem Weg zu Gast, aber nicht zu eigenem Fuss. Er liess sich von Bergbewohnern in einer Sänfte hochtragen, was damals für Grossbürger vollkommen üblich war. Da hat sich keiner etwas dabei gedacht, wie damals auch die äussere Form reicher Mitbürger vollkommen egal war: Ehen und Karrieren wurden nicht nach leistungsfähigem Körper vergeben, sondern nach Herkunft, Familie und vielleicht auch, hin und wieder, etwas Verdienst. Und vielleicht erschreibt man sich so einen Nobelpreis auch leichter, wenn man über Formulierungen scheinbar schwerelos schwebend im Bergwald sinnieren kann. Ich eifere eher dem Ideal einer anderen Epoche nach, aber, das merke ich bei jeder Kehre und bei jedem Röchler, ein arischer Recke und Bergerstürmer wird aus mir nicht mehr. Daheim habe ich auch Backwaren dick mit Käse und Gemüse belegt: Die duften jetzt im Rucksack. Ich müsste nur anhalten, und die Torte beiseite… die Torte… Linkszwodreivier, befehle ich, der Reifen krallt sich verbissen in den Fels, und man glaubt es gar nicht, wie schnell einem beim Bergsteigen Sätze einfallen, die krachender nicht in der Deutschen Wochenschau hätten erklingen können, bevor dann Marika Röck den Stechschritt macht.

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Andere dagegen sitzen im Tal und machen Propaganda auch ohne deutsche Berglandschaft: Wer sich erst einmal in die einschlägigen Foren zur künstlichen Körperverschlankung einliest, lernt schnell die Welt mit hassenden Augen sehen. Hier oben sind fette Kühe auf saftigen Wiesen, und die Mädchen wollen Dirndl tragen, was bei Überschlanken, ich sag’s auf Bayerisch, wia g’schbiem ausschaud, im Tale trinken sie an Wasserflaschen und lassen wissen, was sie alles an sich und anderen hassen: Die Reiterhosen (gemeint sind Oberschenkel), die Rettungsringe, die Bauchfalten, die zu geringe Einbuchtung unter der Rippen, hier noch etwas weg und da noch mehr hin, denn wie andere aussehen würden, das könnte man niemandem zumuten, also wirklich, man sehe es beim Baden. Die meisten sind zu fett, vielleicht 10 Prozent sehen passabel aus, und am schlimmsten die Russin. Die Russin sei immer schlank. Angeblich, weil man in Russland mit Geld medizinisch Dinge machen kann, die in Deutschland niemand tun darf. Ich halte panisch an und stopfe die erste Linzer Schnitte in mich hinein. In Linz am Bahnhof gibt es zwei fette Nazilöwen, und manche denken, wie gut, dass diese Zeit vorbei ist. Dabei leben Diskriminierung, Selbsthass und andere Grundlagen des Herrenrassentums munter weiter. Sie haben sich nur neue Themenfelder gesucht. Die passenden Mediziner der Körperumgestaltung sind nur zu feige, einen körperkultgerechten Arno-Breker-Full-Service anzubieten: „Olympia 36″ würde heute sicher wieder gehen.

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Dann bin ich oben an der Materialseilbahn, tausche Helm gegen Strohhut, und mache mich auf zum letzten Anstieg. Dort stehen noch mehr Kühe, die aus Berggras Milch und Fett entstehen lassen, und auch die letzten Outdoornorddeutschen kommen mir entgegen, um sich unten in Tergernsee in der Promischänke wieder einwildern zu lassen. Drahtig sind sie, sie tragen Funktionskleidung und ignorieren mein Griass God; meine Bergtheorie besagt, dass man sich jeden Gruß sparen kann, wenn die Adressaten jung, funktional gekleidet und dünn sind, klassische Aufsteiger, keine Bergsteiger. Der Bergsteiger dagegen hat keine Scheu, sich wegen seines maladen Fusses am Stock festzuhalten, und dass er diesmal für den Weg länger braucht, als auf den Tafeln angezeigt, ist ihm auch egal. Es geht nur um das Ankommen, und dann den Blick hinunter und zu wissen: Es ist viel Kuchen im Rucksack geht. Man kann von der Donau auf den Hirschberg radeln und steigen, und zwar in zwei Tagen. Es gibt keinen Grund, sich irgendwo Fett absaugen zu lassen, oder sich dumme Sprüche anzuhören, welchen Körperfettindex man haben darf. Wer den Mund aufmacht, soll das auch mal probieren, dann reden wir weiter.

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Bis hierher Arno Breker, ab hier nur noch Thomas Mann und Mohnstrudel. Mit Butterstreussel.

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Unten steht das Bergradl, ich falle darauf wie ein nasser Milchsack zu Tal, und bin im Gedanken schon beim langsamen, gemütlichen Heinschaukeln zurück an die Donau: 400 Höhenmeter geht es dann vom Tegernsee abwärts, was kann jetzt noch passieren – da zieht es mir auf den letzten Schottermetern das Vorderrad weg, und die nächsten 5 Meter

Mir fällt dabei meine Grossmutter ein, und dass wir vom gleichen Schlag der Unmöglichkeit sind: Sie ging nur hoch, wo sie hinauf fahren konnte, und ich gehe nicht hinunter, wo ich nicht hinunter fahren kann.

Ich fliege.

Ich lande.

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Es wird finster in den Bergen.

Ich sage es mal so: Auch das ist eine Art, neben Fleisch und Blut sein Fett zu verlieren.