Geld ist nicht alles.
Wie schön, denken viele, wäre es, wenn das Verfassungsgericht dieses Landes nun die Pläne alternativloser Regierender stoppen würde, und die Vergemeinschaftung von Europas Schulden als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar erklärte. Das würde zwar die Börsen treffen, aber wen interessieren schon von Spekulanten zurechtmanipulierte Zahlen? Den DAX gab es bei 10000 und bei 4000, und trotzdem steht die Welt immer noch. Das wäre doch gar nicht so schlecht, wenn das Gericht darauf hinwiese, dass wir eine Demokratie haben, und obendrein auch noch Verträge, die eigentlich genau das ausschliessen, was jetzt gemacht werden soll: Alle, die von ihren Regierungen genötigt werden, werden für all jene zu bezahlen, die von ihren Regierungen weniger genötigt wurden. Der Weg durch die Finanzkrise ist eine einzige rote Fläche aus aneinandergrenzenden roten Linien, wenn man zurückschaut. Und ein wenig Pause auf Basis der Verfassung wäre wirklich gut, wenn sonst übersll in der europäischen Hausansammlung gebohrt, verfüllt und genagelt wird.
(Dass hier ein Bild der Mafiahochburg Ventimiglia zu sehen ist, ist keine Intention für was auch immer.)
Allerdings ist Herr Draghi, gegen den Frau Merkel nicht mehr besonders protestiert, Italiener, und nicht nur unter Berlusconi haben die Italiener ein, sagen wir es offen, delikates Verhältnis zur Justiz. In Deutschland glaubt man, dass Gesetze ehern und Verfassungsgerichtsbeschlüsse gültig sind. In Italien führt das nur dazu, dass sich alle Betroffenen überlegen, wie man darum herumkommt. Das Debakel, das wir beim neuen Bundeswahlrecht in Deutschland und seinem Scheitern vor Gericht sahen, ist in Italien die Regel. Urteile sind dort keine verschlossenen Wege, sondern eher so etwas wie Tempo-30-Schilder oder Zebrastreifen. Das bedeutet nicht viel in Italien, und ich denke, dass Herr Draghi die Richter in Karlsruhe kaum anders behandeln wird, als Berlusconi ihre Kollegen in Rom. Und Frau Merkel hat ihn – weil sie höflicherweise nicht, wie in Italien eigentlich bei echten Protesten verlangt, seine Zeugung in dunkle Parkbuchten an der Staatsstrasse zwischen Verona und Peschiera del Garda verlegte – quasi schon zu verstehen gegeben: „Mach nur. Wir zahlen. Danach sagen wir: Wir sind unschuldig, es ist die EZB, wählt uns weiter.”
Und die Verfassungskrise, die einem unpassenden Urteil in diesem unserem Land folgen würde, ist nicht das Problem der EZB, wenn sie aus dem Euro eine italienische Lira macht. Was das im Übrigen für spätere Rentenzahlungen bedeutet, sollte sich jeder bitte mit einer hübschen Inflationsrate ausrechnen, wenn er nicht die richtigen Eltern hat. Darüber könnte man dann wunderbare Beiträge schreiben, aber ich glaube ohnehin nicht an die Rente, sehr wohl aber an einem Clan, was im Übrigen sehr italienisch ist. Und weil der Clan auch weniger zu den Sparern gehört, sondern eher zu den Besitzern, und mich persönlich auch der Rokokofürst in Öl an der eigenen Wand und Silber im Schrank mehr interessiert, als Geld auf der Bank oder Rohstoffzertifikate, sehe ich das alles gelassen. Den deutschen Sparern, denen wird natürlich die Ader geöffnet. Aber von einem Muranoleuchter kann man mit Inflation, Geldentwertungen und de-facto-Währungsschnitt nichts abschneiden. Die Italiener wissen schon, warum sie weniger sparen und mehr Immobilien besitzen: Mag so ein Haus auch totes Kapital sein, es ist quietschlebendig gegen die verwesende Währungsleiche, die die Lira gewesen ist.
Dabei habe ich persönlich ganz wunderbare Erinnerungen an dieses Spielgeld. Denn als Kinder und Jugendliche waren wir natürlich oft und lang in Italien, und dort lernt man, ganz anders zu leben und auszugeben. Meine Mutter war auf Sicherheit bedacht und das um so mehr, als mein Vater nie Prospekten traute, und einfach losfuhr. Manchmal landeten wir in gemieteten Häusern, oft in schönen Hotels, manchmal in Pensionen, einmal auch auf einem Campingplatz bei Fiesole, und wie auch immer es ausgegangen ist: Es war immer spannend. Für den Fall, dass so ein Wagnis mit vier Wochen im teuersten Hotel enden könnte, weil sonst nichts zu finden war, sorgte meine Mutter mit einem üppigen Umtausch bei der Bank vor. Das italienische Geld kam in rotweissen Umschlägen, wurde strategisch im Gepäck und an den Körpern verteilt, und dann ging es los ins schöne Ungewisse.
Und wie es eben so ist, wenn man mit dem Schlimmsten rechnet: Es tritt nicht ein. Tag um Tag, Woche um Woche ging dahin, der ein oder andere Umschlag leerte sich, aber allen Beteiligten war klar: Man hatte wieder viel zu viel umgetauscht. Und das in Zeiten, da man jedes Jahr neu umrechnen lernen musste, denn die Lira verlor konsequent gegen die Mark. Jedes Jahr stellte man überrascht fest, dass die Umschläge wieder etwas dicker waren, und die Preise in Italien dergleichen auch verlangten. Zu jener Zeit klaffte zwischen grossen Ferien und dem nächsten Urlaub in Italien ein riesiges Loch, und alles, was übrig war, verlor an Wert. Umtauschen in Mark in Deutschland kostete eine Gebühr, in Italien waren die Kurse sogar noch schlechter, weil man in den Wechselstuben die Inflation voraussah, und ein Jahr später hätte man wieder weniger bekommen. Reich, das sagt eine alte Familienregel, wird man nicht vom Hergeben, sondern nur vom Behalten, aber hier nun drohte das Behalten ein schwerer Verlust zu werden.
Damit änderte sich über die Wochen hinweg so einiges im Urlaubsalltag. In Florenz stand dann neben den Museen auch Pineider auf dem Programm, und ich durfte aus den Museen an Büchern mitnehmen, was mir gefiel. „Oh, Schuhe” ward oft vernommen. Auch: No grazie, wenn es um die Schuhkartons ging, denn im Auto war nicht unbegrenzt Platz neben den vielen Weinflaschen. Aus jener Zeit stannmt meine Übersättgung mit Paneforte, die bis heute anhält – ich kann das nicht mehr in grösseren Portionen zu mir nehmen. Eis gab es bis an die Grenze zur Lungenentzündung. Und mein Hang zu Trüffel fusst auf einem Restaurant in den Hügeln bei Florenz, in dem mein Vater sagte: Das musst Du unbedingt probieren. Wenn mein Vater auf dem Hinweg eine Radarkontrolle durchbrach, war das ein Drama. Auf dem Heimweg waren es nur ein paar Lappen Spielgeld. Schlimm wäre es nur gewesen, wenn man den Wagen an der deutschen Grenze durchsucht hätte, aber mit zwei winkenden und lachenden Kindern hält einen kein Zöllner an. Zuhause gab es eine Tüte voller Lirestücke – das war gemeinhin alles, was aus dem Urlaub zurückkam.
Kurz, das, was andere mit Verwandten und dem zwangsumgetauschten Geld in der Zone erlebten, an die die BRD nach 1989 leider angeschlossen wurde, erlebten wir in Italien. Alles musste weg, nichts von der Fremdwährung durfte exportiert werden. Bedenkt man den Zustand der Boutiquenware im Bayern der 80er Jahre und vergleicht es mit Verona, Venedig oder gar nur Urbino, sind wir als Kinder mit der unerwarteten Generosität zu den letzten Urlaubstagen hin gar nicht schlecht gefahren. Das „L” in Lire steckt auch im Wort Lebensfreude. Eine Mark, das war etwas. Aber 1000 Lire, auch was, das sind doch nur Nuller. Mit Lire in der Hand hat man ein anderes Lebensgefühl, und dass der stetig schwindende Wert vielleicht für andere schlimme Folgen hat: Wir waren Kinder. Wir wollten schwarze Lacoste-Hemden und Panna Cotta bis uns schlecht wurde. Mit Magenverstimmung denkt man doch nicht an anderer Leute Rente.
Heute ist das anders, heute denke ich an die, die so viel geplant und überlegt und gerechnet haben, in Euro, die zur Lira werden. Man stelle sich nur mal vor, wie denn so eine 1500-Euro-Rente in Lire klänge, um das Drama zu verstehen: Vielleicht 6.000.000 Lire. Sehr viele Nuller, die alle früher nicht da waren. Schlimmer Gedanke. Aber viel lieber denke ich an Italien:
Eines Nachts, ich hatte mich bei meinem ersten automobilen Alleingang auf dem Weg nach Fiesole verfahren, wendete ich, und weil die Strasse so eng und das Auto so unübersichtlich war, krachte ich leicht gegen ein Portal. Oben war eine Pyramide, und auf der Pyramide lag eine Kugel, die herunterfiel und eine nicht schlimme Beule ins Auto machte. Ich stieg aus, hob die Kugel auf, klingelte beim nicht gerade kleinen Anwesen und entschuldigte mich für mein Missgeschick. Ma nooooo, sagte der Besitzer, das sei nichts, die Kugel würde immer wieder mal runterfallen, dann hebe er sie hoch und setze sie wieder auf die Spitze der Pyramide. Er erklärte mir, wie ich aus dem Gewirr der Gassen am Hügel entkäme und gab mir auch noch einen Ratschlag mit, wo man gut nächtigen könnte. Und so wird es uns letztlich auch ergehen: Unten stösst irgendwas dagegen, aber immer wird es etwas geben, das uns wieder hinauf an die Spitze bringt. Geld ist nämlich nicht alles.
Wenn man alles andere hat.
Ach so, das noch: „Papa, warum sagt man eigentlich „Die Lira”, wenn es sie nur in hundert oder tausend gibt”, fragte ich einmal. Bis man die gleiche Frage für den Euro wird beantworten müssen, und sich eine gute, kindgerechte Antwort zurechtlegt, dauert es noch etwas, man kann problemlos ein Kind zeugen. Aber zwei, nun, das wiederum fände ich schon mutig.