Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Beinahe schwul, kommunistisch und romantisch wegen Suhrkamp

Das waren die Bücher, vor denen uns unsere Lehrer immer gewarnt haben: Eine kleine Hommage, unter anderem mit Historikerstreit, Brecht, Liebe, Anarchie, Bayern, einem Frankfurter Verlag und einer freundlichen Berliner Prostituierten.

Was hat denn Liebe mit Schuld zu tun?
Eduardo Mendoza, Das Jahr der Sintflut, bs 1243

Diese Bücherverbrennerei der Nazis war natürlich, alles in allem, eine Riesendummheit. Aber auf der anderen Seite tobte auch danach der Krieg der Systeme, und auch wenn man ihn als „kalt” bezeichnete, so war er doch heiß und erzwang uniforme Gedanken. Schliesslich war die kleine, dumme Stadt an der Donau in den 60er Jahren mit einem Ring stinkender petrochemischer Anlagen umgeben worden, es gab einiges an militärisch wichtiger Industrie, einen Militärflughafen, einen Flugzeugbauer und nicht-Mensch-nicht-Tier-Pionier-Einrichtungen. Da, sagte man uns in der Schule, würden wir uns gar keine Gedanken machen müssen: Wir wären die ersten, die von den Russen eine Atombombe auf den Kopf bekommen würden. Also sollten wir bloss nicht auf die Idee kommen, den Wehrdienst zu verweigern, denn damit könnten wir dazu beitragen, den Kommunismus aufzuhalten – zumindest besser als in der Jugendzeit mancher Lehrer – und wenn es doch so weit käme, könnten wir uns mit der Waffe wenigstens wehren und unsere zu Aschehäufchen verbrannten Familie rächen, indem wir Russen umbringen. Ich denke, diese Zeit ist noch nicht lang genug zurück, dass man sich wirklich den Irrsinn verdeutlicht, mit dem man damals indoktriniert wurde, und welche Bedeutung „atomare Artillerie” praktisch hat.

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Ungeachtet dessen kam man in der Schule nicht um die Besprechung von Autoren herum, die andere Vorstellungen vertraten. Natürlich hätte bei uns niemand Brecht verbrannt, aber als wir mit der Schule nach Berlin fuhren, dabei auch einen Tag Ostberlin betraten und bei der Frage an den Vopo, wo es denn zur Grenze ginge – Woisndod’Maua? wollten wir, ich, der Bernie und der Cookie bauernschlau wissen – nicht summarisch am roten Rathaus erschossen wurden, da besuchten wir auch das Theater am Schiffbauer Damm. Freiwillig. Auf dem Programm stand „Mann ist Mann”: „Soldaten wohnen auf den Kanonen, vom Kap bis Kooch Behar, und wenn es mal regnete, und es begegnete ihnen ne neue Rasse, ne schwarze oder blasse, dann machten sie daraus vielleicht ihr Beefsteak Tartar.” Das machte man dann mit uns. Denn das Erlebnis erzählten wir dummerweise auch drüben im Westen, und der Lehrer G., der bei der Staatspartei war, fand das noch erheblich schlimmer als Lenins „Was tun”, das ich damals im Brechthaus gekauft und mit in den Westen gebracht hatte. Kurz, hätten wir den aus Sicht der Staatspartei erträglicheren Arturo Ui gesehen, oder was sonst noch nicht allzu wehrkraftzersetzend war, wäre es vielleicht besser ausgegangen. Zu unserem Glück erwischte der G. dann aber noch am selben Abend den O. mit einer kapitalistisch orientierten Dame vom Kudamm – Tucholsky hätte gesagt, und sie tut strichen gehen – und

das führt jetzt zu weit weg. Jedenfalls, dem G. konnte man es nicht recht machen, und auch das Erlebnis von Berlin machte uns nicht wehrbereiter als Berichte aus erster Hand von der Ostfront, adrett vom kommunistischen Widerstand gesäuberte Lehrbücher, oder die real existierende bürgerliche Freiheit des Westens in den tränengasverseuchten Wäldern von Wackersdorf. Aber der Umstand, dass wir unseren Zwangsumtausch in Büchern anlegten, zeigt schon, dass das alles auch bei uns nicht so einfach war. Man hätte nicht als Schüler in den Buchladen gehen können, und Lenin bestellen. Es war Bayern, es war Provinz, Strauss war an der Macht und vieles, was damals als normal galt, würde heute auch in Bayern zu einem Volksaufstand führen. Ich war für das Wohnen auf Kanonen untauglich und ging einen Sommer rennradfahren, der Cookie und die anderen verweigerten und wurden dennoch keine Terroristen, Haschischraucher oder Helfer des Systemfeinds.

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Man galt damals schon als problematisch, wenn man in der Schule mit dem politischen und wirtschftlichen Wissen auftrunmpfte, das man sich gegen den G. in der Reihe rororo aktuell angelesen hatte: Schmal, rot-gelb, stachen sie aus jedem Bücherregal hervor und sagten deutlich, dass man hier zu den 0,067% der Bevölkerung gehörte, für die öffentlich erklärt die CSU kein Gottesgeschenk für die Menschheit war. Nicht alle waren so mutig. Es gab auch Kinder als liberalen Familien, die es nicht auf Konflikte abgesehen hatten. Und für die war die Bibliothek Suhrkamp natürlich fein, hübsch und gediegen, denn die uniform-bunte Aufmachung verriet auf den schnellen Blick nicht, was da zu lesen war. Der linke Adorno? Der kommunistische Brecht? Oder doch nur der salonsozialistische Plauderer Octavio Paz, oder der geschichtlich korrekte – dachte man damals – Koeppen, oder triviale Unterhaltungsliteratur von Gide oder Giono, für die lesefreudigen Oberstufler, die im Sommer nach Frankreich radeln möchten.

Aber so schnell ist man theoretisch schon wieder in Schwierigkeiten mit dem System, denn in jenen schwarzen Tagen durften Lehrer ihren Schülern auch den Gide nicht einfach so empfehlen, denn der war schwul, und hatte ausserdem Skandalöses wie die Falschmünzer (zynische Verbrechen besserer Bürgersöhne) und die Verliesse des Vatikan (kirchenfeindlich und auch noch amüsant und geistreich!) geschrieben. Und Giono war mit Der Deserteur bei Bibliothek Suhrkamp vertreten: So bunt sind diese Bücher. So hübsch. So hochwertig. Und so unmoralisch und landesverräterisch verdorben. Man muss den Realitäten ins Auge sehen: Lenins Was tun, im Brechthaus erstanden und durch die Mauer in den amerikanischen Sektor geschmuggelt, ist ein sagenhaft bescheuertes Buch, besser hätte man noch eine Nachspeise im Ratskeller bestellt. Aber der Weg ins Bewusstsein jenseits von Kirche, Armee, Fabrik, Bayern und Vaterland, der wurde durch Suhrkamp viel hübscher und angenehmer eröffnet. Weil dort so ein Schmarrn wie Lenin ebenso wenig veröffentlicht worden wäre, wie ein Leserbrief vom G. zum Natodoppelbeschluss.

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So eine Haltung kommt natürlich nicht von nichts. Die ersten Bände hatte man nicht gekauft, sondern bei den Eltern aus dem Bücherschrank genommen, und wäre an Blochs Spuren gleich mal grandios gescheitert. Celan klingt als Name hübsch, aber der Ehrenburg war dann doch eher das, was man suchte (warum, frage ich mich bis heute, hat Suhrkamp nicht auch den Fall von Paris herausgegeben? So schade). Über Hesse konnte man trefflich reden, ausser mit mir, denn in meinem Leben gab es nie so einen Steppenwolf- oder Narziss-und-Goldmund-Moment, für mich war das mehr so wie Lenin oder gleich Neruda oder Plenzdorf. Dafür liebe ich Cesare Paveses Teufel auf den Hügeln: Italien! Jugend! Ein Landhaus! Reiche Menschen! Man muss nehmen, was man kriegen kann. Es ist wie in der Schule: Er hat sich nicht bemüht, konnte man über mich sagen, aber doch vieles probiert, der Knabe, naja, aus dem wird nie was, der macht später mal was mit Stahlbau, da kommt es auf die Sprache nicht so an. Hätte man dem G. gesagt, dass ich einmal in seiner historikerstreitenden FPunktAPunktZPunkt (Der Russe hat den Krieg eigentlich doch angefangen!Eins!!!Elf) so Zeug über ihn, den heldenhaften Verteidiger des Westens blogge…

Den einen trifft der Schlag jedoch früher und den anderen später, es ist, wie es ist, ewig schweigen heute die Wälder rund um Wackersdorf und der Russe bringt Gas, das nicht giftig ist, sondern nur teuer. Suhrkamp wird, egal wie es ausgeht, in meinem Bücherschrank mit diesem Teil meiner Geschichte noch Jahrzehnte leben, wenn der G. längst vergessen ist, und man von jener Epoche nur noch mit Entsetzen sprechen wird… kann man sich das vorstellen, dass die Männer damals den Frauen den Beruf verbieten konnten?… dass Homosexualität strafbar war?… dass man einen Strauss gewählt hat?… Es gab viel Schlechtes in der Zeit, viel Düsteres, sie war gar nicht so arg lustig, denn die Bomben und Raketen waren ja programmiert, es hätte nur ein Knopfdruck passieren müssen… Und unter diesem Schirm der Vernichtung sassen also die Gebildeten im Lichte der Aufklärung und der Lesefreude zusammen und stellten die einzige, elementare und entscheidende Frage, die Quintessenz all der Bildung aus der Bibliothek Suhrkamp, das ewige Rätsel und der unsterbliche Konflikt, die Frage, an der man unterscheiden kann zwischen einem Menschen und einem Banausen.

Bild zu: Beinahe schwul, kommunistisch und romantisch wegen Suhrkamp

Und sie lautet, jetzt und immerdar:

Schutzumschlag entfernen oder nicht?

NATÜRLICH NICHT!