Hic sunt dracones.
Die F. wohnt gleich hinter der Grenze zu Bayern und schickt mir schöne Grüße zum Jahresanfang. Das geht in etwa so: Wollte schon längst schreiben… aber die Familie… Marathon beim Essen…. ich platze… und wir waren auch in Valeggio…. ich habe die Bilder bei Dir auf dem Blog gesehen…. also, nicht schlecht für einen Bayern, aber bei uns ist die Lasagne original… warum bist Du eigentlich nicht gekommen, Du Schuft… Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass die F. das auf Italenglisch schreibt, denn die Grenze zu Bayern, hinter der sie wohnt, ist die des Jahres 952, als auch die Grafschaft Verona zum Herzugtum Bayern gehörte, dazu ein Stück der Adria und auch sonst noch viel, was mir gefällt, wie auch die Schwester der F, die am bayerischen Ufer des Po lebt. Ach, wie das klingt. Und ich habe auch keinen Zweifel, dass die F. und ihre Schwester noch viel zu meinen Kochkünsten beitragen können.
Ausserdem hat sich auch die K. angekündigt. Der Arbeitgeber der K. ist multinational und hat sich in Unkenntnis Europas nach einem Blick auf eine Karte – vermutlich mussten sie als echte Amerikaner erst mal erklärt bekommen, dass so ein Atlas nichts mit einem Buch von Ayn Rand zu tun hat – für einen Stadtklops als Standort entschlossen, der im Deutschen Reich in den Grenzen von 2013 nicht mehr nur ein slawisches Sumpfdorf ist, sondern auch Hauptstadt. Jetzt bemerken sie, dass ihre Kunden, also Firmen mit selbstverdientem Geld, aber eher im Süden sitzen, weshalb die K. dorthin fliegt und danach hin und wieder meinem Sofa zur Zier gereichen wird. Und nachdem ich die F. mag und die K. schon einmal zum Flughafen gefahren habe, nur um dort festzustellen, dass ihr Flug immer noch in Berlin rumsheduled und noch abgeflogen ist, möchte ich hier die Frage stellen: Ist wirklich jede Infrastruktur gut, oder könnte man nicht auch allgemein auf die ein oder andere Anbindung verzichten? So dass die K. lieber gleich bei mir übernachtet? Wir könnten so schön in Ostin zum Essen gehen.
Weil, ganz ehrlich, hier am Tegernsee und an vielen anderen Seen in Alpennähe ist es ganz anders. Da wird schon mal ein Schild mit der Aufschrift „Privatstrasse“ angebracht, auch wenn das gar nicht stimmt, aber man hätte es halt gern privat. Daher die Schilder. Kleine Kosten, guter Effekt. Man will, je feiner die Lage ist, eigentlich gar keinen Verkehr, keine durchmarschierenden Horden und auch keine parkenden Autos. Egal ob am Lago di Como, am Attersee oder am Tegernsee, überall das gleiche Spiel. Das, was momentan in Berlin beklagt wird, die Dysfunktionalität der Infrastruktur, ist bei uns eher gewünscht. So gibt es etwa ein Radverbot auf dem Höhenweg zwischen St. Quirin und Tegernsee. Und die Villa, die ich mir letzte Woche angeschaut habe, liegt hinten an einer engen, steilen Strasse ohne jede Parkmöglichkeit: Wer hier nicht einen eigenen Parkplatz oder gleich derer sechs hat, kann hier nicht bleiben, und kommt auch nicht weiter. Und das wiederum wird als Vorzug angepriesen. Wer nicht hier wohnt und bleibt, hat von dieser Strasse gar nichts. Sie ist auch nicht anders als der Berliner Bettina- und-Christian-Wulff-Flughafen oder wie das Ding heisst wenn sie es mal fertig gebaut haben werden sollten.
Man nimmt das heute alles so widerspruchslos hin, diese verkürzten Wartezeiten und die schnellere Beförderung zu besseren Ausgangspunkten: „Mit dem neuen Flughafen verkürzen sich die Wartezeiten an den Gates laut Studie um acht Minuten, ausserdem bleiben die Flugzeuge 20 Minuten kürzer am Boden, und die Abflugfrequenz wird analog zum Passagieraufkommen um 30% gesteigert.“ Ich formuliere das mal für unsere Region und das daneben liegende Arbeitslager München a. d. Isar um: „Mit der neuen Schnellbahnen kommen die feierwütigen Horden nach dem Ende des Oktoberfestes sehr viel bequemer an den Tegernsee, die Züge brausen jetzt, statt dass sie leise rollen, und vor dem Bräustüberl steigen die tätlichen Übergriffe durch Australier ebenso stark wie die Forderung nach mehr Wodka im Bier an“ – man ahnt, was man hier zu solchen Zuständen sagen würde, wenn man mal wieder den verantwortlichen Politiker am Telefon hat.
Das war früher natürlich anders. Bereits 1825 gab es im Park des Schlosses Nymphenburg eine erste Versuchsbahn auf ausdrücklichen Wunsch des Bayerischen Königs, und die alte Zuglinie zwischen Nürnberg und Fürth verlief 1835 entlang der besten Wohnviertel dieser Städte. Das war fraglos besser als Schusters Rappen oder das Elend der Droschken, dazu konnte man sich bekennen und damit angeben. Aber heute leben wir im 21. Jahrhundert, und keiner, der bei Sinnen und Vermögen ist, würde ernsthaft in die Nähe einer grossen Verkehrsverbindung ziehen; Hamburger an der Alster mal ausgenommen, aber das ist Hamburg und auch nicht in den bayerischen Grenzen, egal ob von 952 oder 2013. Selbst in Berlin ist ein Balkon zum Autobahnring nicht wirklich wertsteigend, und die Anwohner demonstrieren gegen die Einflugschneisen des Flughafens. Auch das ist Fortschritt, wir haben gelernt, den Fortschritt anderen auszuhalsen. Niemand hat mehr eine Versuchsbahn im Garten, und an der echten Bahn wohnt nur, wer keine Alternative hat.
Das führt dann zum Paradox, dass die Preise der Liegenschaften und die Sozialstruktur der Bevölkerung dort ansteigt, wo die Infrastruktur suboptimal ist. Jeder Rennradfahrer weiss um die inferiore Qualität der Strassen rund um den Starnberger See, und trotzdem will man dort hin. Die Erfahrung zeigt dass, wenn wirklich der Wille da ist, auch schlechte Wege in Kauf genommen werden, um Ziele zu erreichen. Man versuche nur, an einem sonnigen Novembertag im Biergarten auf der Neureuth einen Platz zu bekommen, zu dem nur drei steile Anstiege führen. Mit stets wachsenden Flughäfen und schnelleren Bahnen fördert man eigentlich nur die Attraktivität des Reisens an Orte, die man vielleicht ansonsten gar nicht besuchen würde, und das wiederum führt zur Frage, ob diese ganze Infrastrukturideologie nicht im Kern falsch und schädlich ist. Ich mein, ich weiss, warum ich über enge, steinschlaggefährdete Alpenpässe zur Schwester von der F. kurve. In meinem elektronischen Briefkasten dagegen ist Post von einem Billigfluganbieter, der meint, ich sollte für kleines Geld mal nach Ägypten.
Vielleicht also sollte man etwas weniger Mobilitätsanreize wagen. So ein Berliner Flughafen zum Beispiel ist nicht hilfreich, wenn es darum geht, die tatsächliche Beliebtheit so einer Stadt zu ergründen. Wenn sie wirklich so toll ist, gebe man der Stadt und dem Volk die Transi-transi-transi-transitautobahnen mit den lustigen Rumplern der Betonplatten wieder. Sollten aber 300 Kilometer durch ostdeutsche Steppen zu weit und entbehrungsreich sein, dann ist das eben so, dann kommen weniger Menschen, und der Berliner als ein solcher muss nicht darüber jammern, dass das Preisniveau für seine Mietwohnung so schlimm wie im München des Jahres 952 ist, nämlich vollkommen irrelevant. Die ganze Menschheitsgeschichte erzählt davon, wie wir Ziele trotz schwerer Wege erreichten. Oder uns angesichts der gefährlichen Wege klug waren, uns beschränkten und daheim lieber Privatstrassen errichteten. Man nennt das Kultur und Gesellschaft. Und damit sind wir, auch wenn wir blieben, gar nicht schlecht gefahren.
Und wer weiss, wenn die Berliner erst mal eine Weile wirklich gezwungen sind, ihre Stadt Jahr um Jahr dauerhaft zu ertragen – vielleicht fangen sie dann auch an, die Gehwege zu kehren, die Gärten zu pflegen, die Bahnen zu reparieren und den Müll aus den Grünanlagen zu beseitigen, wie man das auch sonst in jedem ordentlichen Viertel mit Anliegerstrassen so macht. Man soll die Hoffnung nie aufgeben, der Mensch lernt dazu, und auch wir mussten erst mal lernen, wie man einen Markt so organisiert, dass wir drin bleiben und die anderen nicht reinkommen, wo wir es doch jetzt so schön haben. Lernzeit bis zur Eröffnung der nächsten, grossen Lufteinfallsschneise ist erst mal vorhanden, und für eine Kommission, die sich mit dem sozial ausgetüftelten Wegesystem in besseren Wohnlagen beschäftigt, sollten auch die verbleibenden Wege aus der Stadt ausreichen. Wir zeigen das gerne her und erklären auch, wie man wieder auf die Autobahn nach Norden kommt, aber besser nicht auf die kleine, hübsche Landstrasse zur F., ihrer Schwester und zum bayerischen Ufer des Po.