Vorbemerkung: Vor einem Jahr schrieb ich, Don Alphonso, vom gemütlichen Tegernsee aus, ein Stück über die Finanznot junger Menschen in Berlin. Folgerichtig gab es dann Vorwürfe, ich würde aus dieser Position heraus über etwas schreiben, das ich – privilegiert, abgesichert, bayerisch – so gar nicht kennen würde, und ausserdem seien Nudeln jeden Tag nahrhaft und dergleichen mehr. Tatsächlich denke ich auch, dass die enormen Unterschiede zwischen den Landesteilen, zwischen der Vollbeschäftigung in Miesbach abzüglich der reichen Nichtstuer am See und den Problemen des Ostens, am besten dann zu verstehen sind, wenn man sie ungeschönt nebeneinander so darstellt, wie sie jenseits der Jubelmeldungen über schöne, sorgsam gereinigte Statistiken und anderer Propaganda der Leistungsgesellschaft sind. Und zu meiner grossen Freude hat sich die von mir sehr geschätzte Jessica Miriam Zinn bereit erklärt, einmal aufzuschreiben, wie das so als hochqualifizierte (und mich Langzeitstudenten locker überflügelnde) Akademikerin in Berlin so ist, in den Abgründen eines Jobmarkts, den kein wirtschaftsnahes Institut erfassen möchte:
Ich lese in der Zeitung, dass meine Generation immer höhere Erwartungen an ihren Beruf stellt. Wir hätten höhere Ansprüche an Arbeitsplatzgestaltung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Arbeitgeber sollen sogar verunsichert sein, weil ihre Beschäftigten Freude bei der Arbeit und eine motivierende Tätigkeit wünschen, und Angebote wie Unternehmenskitas und Fitnessräume fordern. Angeblich gibt es für junge qualifizierte Bewerber großartige berufliche Aussichten. Selbst für schlechter qualifizierte Bewerber werden bessere berufliche Aussichten prognostiziert. Ich frage mich nur: In welchen Bereichen? Bestimmte Ingenieure und Informatiker sind sicher gefragt. Aber sonst? Wieso bemerke ich selbst nicht viel von diesen großartigen beruflichen Möglichkeiten? Gibt es die nur für andere Branchen?
Manchmal wünsche ich mir die vorhersehbare Routine einer langjährigen geregelten Beschäftigung. Den „NineToFive“-Job, die geregelten Wochenarbeitszeiten mit festen Urlaubstagen. Einen festen Job, in welchem ich über mehrere Jahre in der selben Firma verbleibe und mich durch Arbeitspraxis weiterbilde. Beruflicher Aufstieg. Feste Arbeits- und Freizeitzeiten, beruhigende alltägliche Gewohnheiten und finanzielle Sicherheit. Aber keiner in meiner Umgebung glaubt mehr daran, dass es noch normal ist, auch nur für zehn Jahre in einer Firma zu bleiben.
Mein Leben passt mit den Erwartungen meiner Eltern nicht zusammen. Sie hatten die Vorstellung, dass ein Studium allgemein mit einem höheren Einkommen verbunden ist. Ich wohne in Berlin, habe eine feste Teilzeitstelle und suche eine weitere. Ein Beruf alleine reicht für die alltäglichen Lebenskosten nicht aus.
Mir wird gesagt: „Junge Menschen haben heutzutage berufliche Möglichkeiten, die für ihre Eltern und Großeltern in weiter Ferne lagen.“ Wenn ich Berlin verlassen würde, hätte ich dann bessere Chancen? Früher habe ich zwei Bewerbungen geschrieben und hatte eine Stelle. Jetzt habe ich mehrere Studienabschlüsse mit guten Noten. Einhundert Bewerbungen sind noch viel zu wenig, sagt eine Freundin, die mit ihrem Abschluss eigentlich begehrt sein müsste. Berufsausbildung und erfolgreiche Studienabschlüsse, Arbeitserfahrung, zahlreiche Fortbildungen… irgendwie reicht es nicht für eine feste Stelle. Es reicht nicht für die beruhigende, finanzielle Sicherheit.
Mistwetter, wenn es nicht regnen würde, dann könnte ich wenigstens 100 Euro am Verkaufsstand im Park verdienen. So äußert sich eine befreundete Akademikerin. Früher hätte ich gedacht, dass solche Jobs etwas Nebenberufliches für Schüler oder Studenten sind. Jetzt benötigen wir sie zum Überleben. Intellektuelle aus den verschiedensten akademischen Fachrichtungen treffen in meinem Umfeld aufeinander. Vielfältige wechselnde Beschäftigungen. Bei der aktuellen Beschäftigung beschwert man sich über die Arbeitsbedingungen, macht Überstunden und hofft auf die Festanstellung. Wir haben gelernt, dass man für den Beruf örtlich ungebunden und zeitlich flexibel sein muss. Was ist, wenn man an Berlin gebunden ist? Wäre hier nicht die Senkung unserer Ansprüche angebracht, anstatt zu hohe Erwartungen zu stellen? Oder gilt das nur für Berlin?
Ich kenne zahlreiche hochqualifizierte Personen, die Saisonarbeit als Touristenführer oder Gärtner erledigen, verschiedenen wechselnden Teilzeitjobs nachgehen, als Selbständige Monate in ihrer Küche an beruflichen Projekten arbeiten und so alle paar Monate für einen Auftrag bezahlt werden. Sie sind gut ausgebildete Akademiker ohne weitere Besonderheiten oder Einschränkungen. Sie hatten bereits verschiedenartige Beschäftigungen. Früher kannten wir Witze, dass man mit manchen Studiengänge nur Taxifahrer werden kann. Mit zahlreichen neuen Studiengängen scheint es nur mehr qualifizierte Fachkräfte für geringfügige Beschäftigungen zu geben. Aber kaum jemand wird Taxifahrer. Akademiker gewöhnen sich an atypische Beschäftigungsverhältnisse mit Minijobs, Leiharbeit und Teilzeitstellen. Zwischen befristeten Zeiten fester Beschäftigung sind viele im Umfeld selbständig und bieten ihre Arbeitsleistungen über Internetseiten an.
Ich überlege, wie ich mein Profil im Jobportal überarbeite und welche Personalvermittlung für Akademiker ich anschreibe. Soll ich mich selbst im handwerklichen Bereich mit Internetverkauf als Zuverdienst beschäftigen? Dank guter Ausbildung findet man immer noch irgendwo eine Möglichkeit, notfalls in einer schlecht bezahlten Teilzeitbeschäftigung zu arbeiten, oder sich eine neue Geschäftsidee für die Selbständigkeit zu überlegen. Einige Bekannte arbeiten als Programmierer, Grafiker oder Webdesigner, obwohl sie etwas ganz anderes, wie Physik oder Biologie studiert haben.
Man nimmt die Tätigkeit an, in der man gerade am Besten Geld verdienen kann. Eine Arbeitgeberin informierte mich telefonisch, dass sie mir gerne eine Stelle anbieten würde, aber nur, wenn ich mich wieder als Studentin an der Uni einschreibe. Aus Versicherungsgründen. Auch Andere hörten schon die Bedingung des Studentenstatus bei einem Stellenangebot. Irgendwie hatte ich mir das so nicht vorgestellt.
Nach einer Weile kommen die Selbstzweifel. Was hätte ich anders machen können, um irgendeine Art von Traumjob, …Oder nein, nicht einmal mehr das. Was hätte ich anders machen können, um einen akzeptablen Job mit angemessener Bezahlung zu finden?Ich überlege an welcher Stelle ich mich in meinem Lebenslauf hätte anders entscheiden sollen. Was genau war der Fehler? Welche Qualifikation fehlt oder was habe ich falsch gemacht?
Überarbeitungen von Bewerbungen für die verschiedensten Arten von Stellen folgen. Wo kann ich mich bewerben? Das Jobcenter und viele Arbeitsvermittler können nicht helfen. Sie scheitern an meinem englischsprachigen Abschluss und versuchen mich stattdessen in Stellen meiner über 10 Jahre entfernt liegenden beruflichen Ausbildung oder in Beschäftigungen für Unqualifizierte unterzubringen.
Welche Qualifikationen hätte ich mehr betonen sollen? War es ein Fehler. in zu vielen verschiedenen Bereichen tätig gewesen zu sein? Hätte ich mich mehr auf spezifische Berufserfahrung konzentrieren sollen? War es ein Fehler mich unter Wert zu verkaufen? Habe ich zu wenig Fortbildungen und Anwenderkenntnisse? Hätten mehr Publikationen im Lebenslauf besser ausgesehen? Was könnte an der Bewerbung verbessert werden? Soll ich Qualifikationen verschweigen, um bessere Chancen bei weniger anspruchsvollen Tätigkeiten zu haben? Ich weiß nicht, ob ich meine Qualifikationen anpreisen und mich möglichst gut verkaufen oder ob ich nicht lieber um eine 450Euro-Stelle betteln sollte.
Die Zweifel und Ängste werden größer mit jeder Absage, die ich auf eine Bewerbung bekomme. Ich möchte genügend Geld verdienen, um ohne Probleme meine Miete, Nebenkosten und den normalen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Oder habe ich zu hohe Erwartungen? Mit einem akademischem Abschluss kommt man sich komisch dabei vor, wieder einen Job im Supermarkt oder Callcenter in Betracht zu ziehen. Natürlich kann ich diese Tätigkeiten ausführen, um Geld zu verdienen. Aber ist das befriedigend? Wofür war sonst die Ausbildung da? Als Schüler oder Student arbeitet man nebenbei ganz selbstverständlich im Supermarkt oder hinter dem Tresen. Nichts gegen diese Tätigkeiten. Freunde haben begeistert anstatt akademischer Abschlüsse eine Ausbildung in der Gastronomie angefangen.
Ich möchte nur lieber in meinem gelernten Beruf arbeiten. Oder wenigstens in einem Arbeitsfeld in der Nähe meiner beruflichen Qualifikation. Wenn ich Freude an einer Tätigkeit habe, dann arbeite ich auch gerne für eine geringe Bezahlung. Ich benötige kein großes Anfangsgehalt, würde aber im Vergleich nicht ungerecht bezahlt werden wollen.
Neulich lautete eine Jobempfehlung im Bekanntenkreis, zunächst als telefonischer Berater bei technischen Problemen zu arbeiten. Ein Übergangsjob, den man nach einer mehrwöchigen Einarbeitungszeit anfangen kann. Nur eine Stelle, um damit die Miete zu bezahlen. Aber Arbeitserfahrung ist nicht gleich Berufserfahrung. Meine Arbeitserfahrung in einem Supermarkt, Callcenter, Handwerksbetrieb, Forschungsinstitut, im öffentlichen Dienst oder in Selbständigkeit zählt leider nicht gleich viel bei der Bewerbung für ein bestimmte Stelle.
Jemandem auf Jobsuche werden verschiedene Tätigkeiten empfohlen. Notfalls findet man immer irgendetwas. Im schlimmsten Fall putzt man vielleicht Klos, kontrolliert Fahrgäste oder spricht an der U-Bahnstation Passanten an, verteilt Flyer und bewirbt gegen Bezahlung Mitgliedschaften. Meist frage ich mich nur, wie mir diese Tätigkeiten bei meinem beruflichen Aufstieg weiterhelfen sollen.
Oder wie sollen sie mir einen Einstieg in eine feste Stelle ermöglichen? 2 Euro 50 pro Stunde in Vollzeit? Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ich nachträglich überlege, ob ich das Angebot hätte annehmen sollen. War es ein Fehler abzulehnen? Es wäre für mich Berufspraxis im Lebenslauf gewesen. Ich habe mal im Architekturbüro gearbeitet. Immer mal wieder erreichten uns Bewerbungen von Architekturabsolventen mit hervorragenden Abschlüssen und zusätzlichen Qualifikationen. Wir schüttelten den Kopf über den Wunsch nach einem unbezahlten Praktikum. Die Berufseinsteiger wollten kostenlos arbeiten, nur damit sie keine Lücke im Lebenslauf stehen haben. Eine Architektin empörte sich, dass sie solche Leute nicht einstellen würde. Ein Arbeitnehmer, der sich auf solche Bedingungen einlässt, würde schließlich dem ganzen Berufsfeld schaden.
Teilweise wird für Praktika Berufserfahrung vorausgesetzt, und während man sich für eine gutes Arbeitszeugnis abrackert, kann man bereits beobachten, wie die nächsten unbezahlten Praktikanten Schlange stehen. Inzwischen bin ich selbst dazu bereit. die üblichen unbezahlten Praktika anzunehmen. Arbeitserfahrung in meinem eigenen Berufsfeld gibt mir Hoffnung auf berufliche Aufstiegsmöglichkeiten. Dann lausche ich wieder einem weiteren Gespräch, dass man kein Personal, welches sich so unter Wert verkauft, einstellen sollte. Qualifizierte Arbeitskräfte sollten schließlich selbstbewusst ihren Marktwert vertreten.
Gerne. Für welche Stelle soll ich meine Gehaltsforderungen anpassen? Und wieviel unbezahlte Arbeitserfahrung oder geringfügige Beschäftigung ist Voraussetzung für die Besetzung? Ich hoffe, ich stelle keine zu hohen Ansprüche. Irgendwo gibt es diese freien Stellen, die die hohen Ansprüche der hochqualifizierten heutigen Akademiker erfüllen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Aufstiegsmöglichkeiten und alle weiteren Extras bieten. Sicher gibt es irgendwo auch eine für mich.
Ich muss nur erst das passende unbezahlte Praktikum, die Stelle als studentische Hilfskraft oder die entsprechende schlecht bezahlte Teilzeitstelle als Qualifikation dafür annehmen. Jetzt arbeite ich erstmal nur gegen Unterkunft und Verpflegung, sowie Reisekosten. Es ist Arbeit, es ist nicht in meinem Beruf, ich verdiene nichts, aber es macht mir Spaß. Wenn ich nur über Absagen verzweifle, dann bin ich irgendwann nicht mehr in der Lage mich beim Bewerbungsgespräche positiv zu verkaufen.
Betteln um Jobs klappt mit guter Laune und positiver Ausstrahlung immer besser.