Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Tanz die Klassengesellschaft

Ist die Politik des Nachtlebens nur restriktiv genug, braucht man keine sozialen Dünkel: Reiche Töpfe finden wie von selbst vermögende Deckel, wenn alle anderen ausgeschlossen sind.

This is Radio Freedom
The KLF, 3 A.M. Eternal

Sie mussten ihn aus dem Wrack des schwarzen Alfa herausschneiden, und es hat ziemlich lange gedauert, so demoliert, wie er nach den Überschlägen war. Es war ein warmer, sehr früher Sommermorgen an einer Landstrasse nördlich von München, viel zu schön, um jung zu sterben, damals, in den späten 80er Jahren, als Harry noch den Wagen für Derrick holte. Und auf der anderen Seite der grossen Stadt verweilten junge, schöne Menschen auf einem parkartigen Grundstück in Grünwald, die Türen der Villa waren weit geöffnet, die Musik dröhnte, und alle waren froh, dass sie hier noch tanzen und feiern konnten, während sich langsam die Sonne erhob und der Himmel hellblau erstrahlte. Dann brachte der Sanitäter den jungen, unterprivilegierten Jungen ins Krankenhaus, wo sie ihm den frühen Tod ersparten, und in Grünwald waren genug Sofas und Betten, um die bleibenden Gäste aufzunehmen. Wäre das eine Folge von Derrick gewesen, hätten natürlich einige der jungen Leute den Unfallfahrer gekannt, und es wäre so gewesen wie immer: Auf der einen Seite die feiernden, aber teilweise grundverdorbenen Reichen, und auf der anderen die Armen, die ihre Opfer sind.

Es stimmt auch insofern, als wir den D. damals nicht mitgenommen haben. Damals nicht und eigentlich nie, und darüber musste man auch gar nicht reden. Der D. wäre, so wie er war, nie ins Parkcafe gekommen. Das war seltsam damals, für uns war das überhaupt keine Frage, die Tür stand immer offen, man sah uns und wusste, wir gehören dazu. Die Eltern vom D. waren jetzt auch nicht gerade arm, aber auch ziemlich normal, und wenn wir über Gaultier sprachen, sprach er halt über Pferdestärken und neue Modelle, für die sein Vater mit zuständig war. Wir kannten uns, wir feierten daheim zusammen, wie man das eben so macht, aber wenn das Wochenende kam, gingen wir getrennte Wege. Wir gingen in München in eine der wenigen Discotheken, die damals nicht der allgemeinen Sperrstunde unterlagen. Und der D. fuhr über die Autobahn in eine andere Diskothek, deren Musik auch KT Guttenberg gefallen hätte. Er war dort unter Leuten, die ihn verstanden, und wir trafen uns mit anderen, deren Eltern auch weitläufige Häuser in guter Lage hatten, und wenn die Eltern in Urlaub waren, nutzten wir das, um noch zu tanzen, wenn das Parkcafe längst geschlossen war.

Das alles ist mir noch so klar in Erinnerung, weil uns der Unfall vom D. am nächsten Tag doch sehr schockierte. Er war der erste, der sich nach dem Abitur beinahe derrannt hätte, die übliche Kombination von Alkohol, Frust, kein Glück bei den Mädchen und zu hoher Geschwindigkeit auf der Heimfahrt. Niemand wäre bei uns damals noch gefahren, es war viel zu schön, es gab viel zu interessante, liebenswürdige Menschen, Gespräche, Sex, und es gab keinen Grund, in ein Auto zu steigen und sich in dieser Nacht fast umzubringen. Aber so war das eben. Die einen hatten ihre Clubs in München, eine Wohnung und Freunde, die ebenfalls fern der Probleme der echten Welt aufgewachsen waren. Und die anderen hatten all das nicht, aber einen Wagen für den Weg zur lauten Bierhalle an der Autobahn.

Gerne glaubt man, dass die Kinder aus der reichen Provinz in den grossen Städten andere Lebensweisen kennenlernen, aber das stimmte damals einfach nicht. Die Wahrheit ist, dass in München die Klassengesellschaft von daheim bruchlos weiter ging. Das lag nicht nur daran, dass alle Kinder solcher Familien im Block nach München gingen, sondern auch an der besonderen Natur des Nachtlebens, das in jener Zeit leider weniger von uns Paradiesvögeln, denn von zwei älteren, griesgrämigen Herren mit reaktionären Ansichten geprägt wurde: Kreisverwaltungsreferenten waren damals ein gewisser Herr Gauweiler und danach ein gewisser Herr Uhl, die man heute als CSU-Innenpolitiker kennt.Sie haben mit der Aufsicht über Gastronomie, öffentliches Leben und Ordnung das Klima geschaffen, dem die Spider Murphy Gang das Lied “Skandal im Sperrbezirk” gewidmet hat, sie traten ein für ein sauberes München, ganz im Sinne einer geistig-moralischen Wende, und dazu gehörte dann auch, dass das Nachtleben in München um 1 Uhr zu enden hatte, mit ein paar Ausnahmen, prestigeträchtig und teuer.

Wer da reinkam, war drin. Und wer nicht reinkam, den kannte man nicht, wenn man drin war, weil es keine Gelegenheit gab. So einfach war das eigentlich. Es gab einen Kellerklub am Altstadtring, in den man besser nicht ging, wenn man etwas gegen reiche, bornierte Burschenschaftler hatte. Es gab das P1, in das man nicht ging, wenn man keine Fussballer oder Tennisspieler sehen wollte. Es gab die Wunderbar, aber die war sehr klein, es gab das Babalu, einen ehemaligen Sexclub in Schwabing, der nach Einführung des Sperrbezirks für sexuelle Dienstleistungen mit dem gleichen Ambiente zum Tanzlokal wurde, und es gab das Parkcafe. Da waren wir dann meistens. Das alles natürlich immer unter Überwachung und Vorbehalt, denn München wollte damals keine Exzesse der Nacht. Rückblickend kommt es mir dagegen so vor, als habe man nur das zugelassen, was man brauchte, um die Elite und ihren Nachwuchs bei Laune zu halten: Draussen sprach die Politik zwar vom “Konzentrieren” AIDS-Infizierter und Zwangstests für “Risikogruppen”, aber drinnen sass ungeniert der hochfürstliche Herr mit der anderen Orientierung an der Bar und bestaunte das männliche Frischfleisch, das auf den Boxen tanzte. Was den nächtlichen Ruf Münchens ausgemacht hat, waren kleine Freiräume in einer riesigen Stadt; Freiräume, die mit der Tür genau regulierten, dass sie nur von den Richtigen besucht wurden. Wir waren Begünstigte, wir waren dabei, wir hatten keine Alternative, den Uhl und den Gauweiler aber, deren Kreisverwaltungsreferat dem Treiben ein Ende hätte setzen können, die mochten wir nicht. Für uns war München schön, es leuchtete bei Tag und bei Nacht, und mehr Leuchten hätte uns besser gefallen – aber das durfte nicht sein. Als dann die Mauer gefallen ist und der Alte Westen mit dem Osten unterging, konnte man in Berliner Kellern erfahren, wie repressiv und ausgrenzend dieses München damals unter der Ägide der Überwachungsfreunde wirklich war.

War man auf der richtigen Seite, war es dennoch lebenswert. Die Fussballer hatten ihre Feiermeile, auf der sie bewundert wurden. Der Typ von der Fachschaft Jura wurde wegen der prüfungsfördernden Tablettenhandlung nie behelligt. Wer neben seinen sonstigen Neigungen gesellschaftliches Vorbild war, war nicht so schwul, dass man ihn zwangsgetestet hätte. Nie kam die Polizei bei einer Party in Grünwald, im Seehaus oder am Ammersee. Den Schnee, auf dem all die jungen Römer vom Parkcafe ins Nachtcafe fuhren, kannte damals auch schon jedes Kind, aber den Führerschein hat man dem armen Jungen im Alfa genommen, nachdem er wieder laufen konnte. Heute bin ich am Tegernsee und Uhl und Gauweiler sind in Berlin, München hat keine Sperrstunde mehr, und der Papst möchte Schwule nicht verurteilen. Es hat sich einiges geändert, in diesem Viertel Jahrhundert. Man muss auch nicht mehr reich sein, um sich eine Nacht in München leisten zu können.

Aber es ist natürlich weiterhin praktisch, wenn man zum Studium auch eine passende Wohnung bekommt, es gibt weiterhin Orte, die nicht jedem den Zutritt gestatten. Es sind heute nicht mehr die Uhls und die Gauweilers, die den Takt des Nachtlebens vorgeben, es ist für die einen der finanzielle Zwang, etwas nebenher zu verdienen und für die anderen die Möglichkeit, sich im Studium nicht zu sehr reinzuhängen, weil man ohnehin weiss, was man danach bei den Eltern machen kann. Die politisch gewollten Restriktionen der Nacht sind verschwunden, die sozialen Strukturen haben sich wenig verändert. Die Tanzlokale sind vielleicht nicht mehr ganz so exklusiv wie früher, dafür können die Singles der Stadt das Angebot im Internet nach Gehalt und Karriere sortieren. Liebe war schon bei uns kein Zufall und ist es heute auch nicht.

Vermischung der Schichten ist nicht so einfach, wenn die meisten Studenten Kinder von Akademikern sind. Und draussen vor der grossen Stadt sind immer noch die lauten, grossen Hallen für die anderen. Da kommt man aber auch heute nie hin. Es wäre auch zu gefährlich. So nett der D. auch gewesen ist: Meine Kinder könnten jederzeit ins Parkcafe. Aber nicht mit so einem in den Alfa.

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