Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Liebe der Oligarchen zu den Regionen

Venezianer, Katalanen und Flamen wollen raus aus ihren Nationen. Der eigene Stamm ist der letzte Schrei, und Oligarchien wie die alte Republik Venedig sind das neue, goldglänzende Vorbild.

Wir stehen am Vorabend großer Ereignisse.
Napoleon

Ich möchte, so dachte ich mir letzte Woche, eigentlich nicht in einem Land leben, in dem Drogen auf Spielplätzen versteckt werden. Ich möchte auch nicht, dass staatliche Stellen über Streetworker mit Dealern diskret absprechen, wie man Drogenhandel in einem öffentlichen Park so reguliert, damit alle damit leben können – aber eben auch jene, die dort mit Drogen handeln. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem jedes Jahr Milliarden in den Drogenhandel und an den Finanzämtern vorbei gehen, und dann Drogenliberale vor Ort hämisch darauf verweisen, dass für die Polizei und wirksame Kontrolle zu wenig Geld da ist. Und der Umstand, dass die Linksextremen das Auto eines konservativen Journalisten anzünden, und die Rechtsextremen das Auto einer Flüchtlingsunterstützerin, ist in meinem Augen mehr als nur Sachschaden: Es ist ein Wegweiser in ein Land, das sicher nicht das meine ist. Sicher, wir haben am Tegernsee auch so unsere G’schichdn, aber so etwas wäre bei uns undenkbar und falls doch jemand meinen sollte, so etwas versuchen zu müssen, dann wäre sicher genug Geld für einen umfassenden und Probleme abstellenden Polizeieinsatz da.

Das sind so die Nachrichten, da weiss ich wieder: Ja, es gibt diesen Staat. Aber er ist nur eine Hülle für Regionen, die kaum Gemeinsamkeiten haben. Nun ist es gerade einer kleinen Splittergruppe in Venetien gelungen, solche – fraglos überall latent vorhandenen – Gefühle der Fremdheit im eigenen Land in eine Abstimmung einzubringen, mit der letztlich eine Unabhängigkeit der Region von Italien, der EU und der NATO erreicht werden soll. Die Abstimmung ist natürlich nicht offiziell, die überwältigende Befürwortung ist nicht nachprüfbar, und wie das italienische Fernsehen zeigte, ist die Abstimmung auch mit einfachen Mitteln manipulierbar. Aber das Ergebnis soll gezeigt haben, dass die Bewohner Venetiens tatsächlich frei vom Nationalstaat Italien mit seinen Problemen sein wollen – und ihren eigenen Staat verlangen. Eben Venetien, wie es gewesen ist, bevor Napoleon 1797 den Staat eroberte und dann als Entschädigung für andere Verluste an Österreich weitergab.

Historisch betrachtet ist das alles natürlich fragwürdig, denn dieses Venedig, von dem da manche träumen, war nie ein Nationalstaat im heutigen Sinne, sondern eine “Republik”, die von einer kleinen Schicht der Oligarchen dominiert wurde. Unbotsame wurden bei Bedarf gewaltsam unterdrückt, und die Terra Ferma, der italienische Landbesitz, mit der Hilfe brutaler Söldner erweitert. Man sieht heute die prächtigen Villen rund um Vicenza, man sieht die architektonischen Kunstwerke von Palladio, und die prächtige Reiterstatue eines Condottiere in der Oberstadt von Bergamo, man mag an den Karneval von Venedig denken und an die Veduten von Canaletto. Wer sich aber mit der Geschichte etwas auskennt, der weiss, dass die heutige Provinz Venetien geographisch nicht mit der alten Oligarchie übereinstimmt – und vor allem, dass es gute Gründe gab, warum auf dem Festland von den steuerlich Ausgeplünderten immer wieder gegen den Marcuslöwen und die Republik Aufstände angezettelt wurden. In Verona zum Beispiel kann man heute noch den Briefkasten bestaunen, in den man anonym Beschuldigungen gegen seinen venedigkritischen Nächsten werfen konnte – so kam dieser damals in die Bleikammern.

Auf dem gleichen Platz sind übrigens auch so einige Wappen zu sehen, deren heraldische Symbole ausgemeisselt wurden. Das geht zurück auf ein Ereignis namens “Pasque Veronesi“, das veronesische Ostern des Jahres 1797. Damals versuchten grosse Teile der Bevölkerung der zu Venedig gehörenden Stadt, die Franzosen und mit ihnen die Jakobiner zu vertreiben, denen man damals vorwarf, sie würden die Demokratie einführen wollen. Der Aufstand war schlecht vorbereitet, und nach kurzer Zeit behielten die Franzosen die Oberhand. Eine der Strafaktionen der Zeit war die restlose Entfernung aller venezianischer Hoheitszeichen, und das sieht man bis heute. Gleichzeitig hält sich aber auch das historisch gewachsene Gefühl, es damals den Franzosen richtig gegeben zu haben, selbst wenn uns der eigentliche Anlass für den Aufstand – demokratische Reform einer Oligarchie – heute vielleicht ähnlich seltsam wie andere Aufstände jener Zeit erscheint: Beim Freiheitskampf der Südtiroler ging es auch um die Verhinderung von Impfungen, und in Neapel um die physische Vernichtung von kirchenkritischen Freidenkern.

Vollkommen absurd wird die geplante Neugründung Venetiens aber erst, wenn man sich an Padanien erinnert. Padanien ist ein Phantasiestaat der gleichen Lega Nord, der jetzt die Aktivisten der neuen Republik Venetien entspringen, und sollte sich Mitte der 90er Jahre geschlossen von Rom lösen. Damals tönte man noch, Norditalien sei eigentlich keltisch besiedelt und damit ganz anders als der Rest des Landes, und hätte damit ein Recht auf einen eigenen Staat, entsprechend der Selbstbestimmung der Völker. Auch damals gab es illegale Wahlen, und sogar ein Parlament, das sich im schönen Mantua traf – würde man die Lega Nord ernst nehmen, so müsste man sagen, dass jetzt die historische Republik Venetien versucht, vom keltischen Stammesstaat Padanien wegzukommen, allerdings unter Verzicht auf Teile Friauls, Brescia und anderer hübscher Orte, die heute in Padanien pardon der Lomabardei liegen. So ernst könnte man das also nehmen, und es ist nicht wirklich zu erwarten, dass den paar Lega-Aktivisten eine erfolgreiche Neuauflage des Paspue Veronesi gelingt.

Diese alten Geschichten – man könnte dazu auch noch den Aufstand Venedigs gegen die Österreicher 1848/9 zählen – passen aber bestens zu anderen europäischen Legenden von Freiheit und Widerstand: Die Schlacht auf dem Amselfeld des Balkans, die Heldentaten der Krimtartaren gegen die Türken, der Aufstand der Griechen gegen die Hohe Pforte, die Kriege der Russen gegen die polnischen Invasoren, die wechselseitigen Übergriffe zwischen Bayern und Österreich, Strassenschlachten zwischen den verfeindeten Contraden in Siena, und es ist noch gar nicht so lang her, da hatten auch die Griechen mit den Makedonen Streit, mitten in Europa. Mit ein wenig historischer Beliebigkeit und dem Weglassen unerfreulicher Begleiterscheinung ist da immer genug historische Substanz, um Nationalstaaten rückblickend aufzukündigen, Autonomiebestrebungen mit Sprengstoffen zu verbinden und im Gefühl des richtigen Lokalkolorits Dinge zu tun, die man sich gar nicht vorstellen konnte.

Und es wird für Nationalstaaten oder übernationalen Konstrukte, die zunehmend als Verwaltungshüllen für die Globalisierung in Erscheinung treten, sicher nicht leicht, in der Epoche der Bankenkrisen und Lobbyisten etwas dagegen zu setzen. Auf der einen Seite verhandelt die EU-Kommission im Geheimen ein Freihandelsabkommen aus, auf der anderen Seite wird von den Regionen an der Hintertür gerüttelt. Ein freies Venetien oder Bayern, ein genfreier Landkreis, Begrenzung von Ausgleichszahlungen, Autonomie in den Regionen und bloss keine neue Startbahn für noch mehr Ausländer und Nichtstammesangehörige– das alles ist nach dem Ende des Nationalismus frei zu debattieren, das ist vor allem auch anschlussfähig an die Eliten, die dann auch schon mal ihre eigenen Parteien und Gruppierungen machen, die regional handeln. Man muss nur die richtigen Anlässe bieten, damit jeder versteht: Das passt nicht zusammen, da muss man etwas tun, da muss eine Grenze gezogen werden – und wenn man das nur ein klein wenig weiter denkt oder gar sieht, dass es bei Schotten, Flamen, Korsen und Katalanen auch geht…

Dafür sind viele etwas anfällig, dazu muss man nicht rechts oder nationalistisch sein, sogar die Linke versteht heute den panrussischen Kurs Putins. Reiche entstehen, Reiche zerfallen, aber Regionen haben eine enorme Zähigkeit beim Überleben. Brechen gemeinsame Werte weg, hat man nicht mehr den Eindruck, dass in der Ferne das Richtige und Nötige getan wird, erscheint eine regionale Alternative schnell begehrenswert. Zumal ja nicht nur die Drogenhändler im Park wegfallen, die linken und rechten Brandstifter und die feixenden Drogenfreunde, sondern auch etliche Verwaltungsebenen, Strukturen und Posten, die regional neu besetzt werden müssen. Eine Oligarchie bringt die Globalisierung natürlich auch, aber eine Garantie, dass die Richtigen diese Oberschicht stellen, die kann nur die Region bieten. Nicht umsonst hat Venedig damit 1000 Jahre gut gelebt.

Also räumt besser mal Euren Park auf, Berliner.

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