Er hätte längst wieder Nachts um 3 Uhr eine dieser typischen, freundlich-drängelnden Mails geschickt, was los ist und wo der nächste Text bleibt, und er hätte natürlich, wie immer, damit recht gehabt. Aber diesmal ist das Schreiben unendlich schwer. Ich finde übrigens, Minimum ist sein bestes Buch und deshalb:
Man könnte fast glauben, die Familie R. müsste ideale Partner für andere alteingesessene Familien der Stadt hervorbringen, zumal, wenn beide Clans ihre Position dem gleichen, einträglichen Handwerk verdanken. Aber wie es nun mal so ist, die einen gingen am Sonntag mit Freunden auf die Jagd und die anderen in die Kirche. Und weil man von den gleichen Lieferanten abhängig war, und ein halbes Reh in schlechten Zeiten Türen öffnet, die vor religiösen Ermahnungen wie „Du sollst nicht mir der Magd P. ein g’schlampertes Verhältnis haben“ verschlossen bleiben – weil nun also die Charaktere der Familien so unterschiedlich waren, konnte es nicht ausbleiben, dass die R.s unten am Fluss unter sich blieben, und wir oben bei der ehemaligen Universität.
Solche alten Geschichten jedoch erzählt man Kindern nicht, und das jüngste Mitglied der Familie R fand ich ganz von alleine wenig erbaulich, als wir das Pech hatten, eine Weile in der gleichen Klasse zu sein. Erzählte ich meiner Grossmutter von der sehr religiösen Streberin, erzählte sie mir dann doch all die Geschichten von den fragwürdigen, bigotten und klassenübergreifenden Liebschaften, die Sie, liebe Leser, nichts angehen, weil erstens wäre das nicht gut für den Ruf unserer angesehenen Stadt und zweitens gehört das hier auch nicht her, denn ich hatte natürlich gar nichts mit der jüngsten R. zu schaffen. Die R. jedenfalls war unter ständiger Kontrolle und wer auch nur das harmloseste Vergnügen mit ihr teilen wollte, musste erst den Test der Eltern bestehen. Bei mir hätten sie vermutlich sofort gewusst, woher ich komme und wie damals mein Opa nach zu viel Schnaps an Silvester mit dem Gewehr also ach so jedenfalls war ich damals nicht die Zielgruppe und jener linkische Junge, der sie dann wollte und mangels Alternativen auch bekam, musste wahrhaftig als Leumund den Priester seiner Gemeinde heranbringen. Immerhin hat er sie so vor klösterlichen Flausen bewahrt und für den Weiterbestand der R.s gesorgt.
Das ist jetzt ein Viertel Jahrhundert her und seit ein paar Monaten lese ich auf dem Twitteraccount ihrer ältesten Tochter mit, wie schlecht sie das Männerangebot von OkCupid an ihrem Studienort findet.
Aber natürlich lebt der Glaube weiter und ihre Familie geht mit, wenn der Fronleichnamszug durch die Altstadt führt. Er erweist auch meinem Haus Referenz, denn es spielt in der Geschichte der Gegenreformation eine historisch bedeutende Rolle, und Fronleichnam ist nun mal das Fest, das wie kein zweites den Unterschied zwischen Katholiken und Ketzern den Konfessionen herausstellt. Erfunden wurde es erst im hohen Mittelalter. Luther hasste es, während der Aufklärung wurde es energisch auch vom Staat bekämpft, aber inzwischen gehören diese Züge wieder zur Normalität, gerade in dieser Stadt, die für sich schon ein Symbol des einzig wahren Glaubens war. Hier hat man den Schweden widerstanden, dem Gustav Adolf das Pferd unter dem Hintern weggeschossen und ausgestopft, weshalb alle Schulkinder ins Stadtmuseum müssen, um dort anhand des Gauls zu lernen, was für Verteidiger des Glaubens wir damals gewesen sind, kein Lutheranerkind war vor Katholischmachung sicher – was? Kllngt nach Isis? Irak? Boko Haram, meinen Sie?
Aber nein. So, wie sich in den 25 Jahren zwischen der Elternvorstellung bei den R.s und den Klagen über die Partnerqualität beim Dating viel geändert hat, hat sich auch hier in der Stadt einiges getan. Allein schon der Klang, wenn sie die Strasse herunterziehen: Man hört es nur wegen der Lautsprecher. Sie brauchen Lautsprecher, um sich in der Stadt Gehör zu verschaffen, sie brauchen sie für die Kommunikation in ihrer Gruppe, und das klingt dann gar nicht mehr eindrucksvoll oder überzeugend, sondern wie ein Notbehelf. Volle Überzeugung klingt anders. Und es steht auch niemand an der Strasse und schliesst sich an, der Aufzug findet, wenn man so will, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Früher war es üblich, lebende Bilder mitzuführen, und den Zug mit Vertretern aller Schichten und Zünfte zu begleiten. Es war einer dieser einigenden Anlässe, die wirklich alle Rechtgläubigen umfassten. Heute marschieren mit: Die Fahnenträger der Kolpinggemeinde, des Bauernbundes, die Reservisten und die katholische Burschenschaft. Und alte Leute. Viele alte Leute und Ministrantinnen, um die man auch hier nicht mehr herumkommt, weil der männliche Nachwuchs fehlt. Zwischen den Fahnen erheben sich die Lautsprecher in die Höhe, und den Teilnehmern wird angesagt, was man jetzt zu singen habe. In der Mitte ist immer noch die Monstranz mit der Hostie unter dem Baldachin, aber an den Rändern ist vieles weggebrochen.
Daheim am Tegernsee ist es übrigens noch anders. Das ist ein Dorf, und da geht man auch nicht so leger in Alltagskleidung hin. Dort kommen sie alle in Tracht, und weil das prächtig aussieht, vor den Bergen und vor dem See, alle in der besten Kleidung und herausgeputzt und mit vielen Blumen, ist es inzwischen eine Attraktion für jene Münchner, die am Abend den Stau auf der Autobahn verursachen werden. Aber hier in der Altstadt bleiben sie unter sich und singen ihre Lieder eher leise, so, als wollten sie gar nicht stören und wären froh, bald in der Kirche zu sein, wo sie wieder unter sich sind, mit Mauern aussenrum, und nicht in einer ausgestorbenen Stadt entlang der Mauern von ehemaligen Kirchengebäuden ziehen müssen, von denen eines heute ein Sterbekloster ist.
Zufälligerweise habe ich davor noch das Te Deum von Charpentier gehört, das, vorsichtig gesagt, ganz anders aufträgt und mit seinen Trommeln und Bläsern unmissverständlich den weltbeherrschenden Anspruch der Veranstaltung dokumentiert. So war dieser Umzug wohl gedacht, so würde er auch zu meinem Haus passen, auf dem eine die Schlange des Unglaubens zertretende Madonna im Strahlenkranz vom ideologischen und militärischen Sieg kündet. Und während dort unten zwischen den Hauswänden die Megaphone unschön klingen, wünscht man mir im Internet einen schönen Feiertag. Es tun dies die Konservativen in der CSU, die sich zusammengeschlossen haben, um die Partei wieder auf den richtigen Weg zu bringen, konservativer, christlicher, gläubiger. Ob sie wohl wissen, was ihre Enkelinnen im Internet so tun?
Weiter geht der Zug, biegt an der Ecke ab und wendet sich der Asamkirche zu, während hinten immer noch Nachzügler kommen: Kinder, die gespielt haben, alte, gebrechliche Frauen, die gestützt auf den Rollator ihre liebe Not mit dem Kopfsteinpflaster und der Hitze des Sommertags haben, und danach der Sanitäter, falls etwas passieren sollte, denn man weiss ja nie. Die R. habe ich auch gesehen, und der Mann war auch dabei. Sie sah damals nicht wirklich jung aus, sondern eher streng, und so ist es geblieben. Oder es wirkt nur so alterslos, denn sie ist hier eine der Jüngsten.
In Berlin, so hat man mir erzählt, gibt es spezielle Aufzüge für das ungeborene Leben, und da stehen dann freche Leute daneben und singen „Eure Kinder werden so wie wir“. Das kann schon sein, aber ich denke, die Erfahrung muss man ihnen selbst überlassen. Vermutlich wissen sie es, aber sie hängen nun mal an den Traditionen, und ich weiss nicht, warum ich der letzten alten Frau, die vor dem Sanitäter herschwankt, nicht mit dem gleichen Respekt wie jedem anderen begegnen soll. Wenn es einmal um die weisse Hochzeit gehen wird, werden all die Töchter für ein paar Tage wieder zum wahren Glauben zurückkehren, der hier so verzweifelt von den Verbleibenden hochgehalten wird, und die Unerbittlichkeit, mit der die Räder über das Pflaster klappern, heute und morgen früh dann wieder zur Messe, tut in unserer Gesellschaft keinem mehr weh. Ein jeder kann seiner Wege gehen, ob nun zur Prozession oder zum Festival, und kommen wird es, wie es kommt. Die einen werden marschieren und singen, und die anderen arbeiten am Feiertag, und am kommenden Sonntag wird in der Kirche, in der sie feiern, wieder ein säkulares Konzert gegeben: Dort treffen wir uns dann wieder alle und einigen uns auf den kleinsten, gemeinsamen Mozartnenner unserer traditionellen Werte, während die Tochter der R. weit weg Bestandteil einer langen Liste irgendeines Don Giovannis wird, den sie letztlich doch im Internet gefunden hat, denn vuol d’estate la magrotta.
HINWEIS:
Wie immer findet sich dieser Beitrag auch im Kommentarblog für leichteres Debattieren.