Mala malus mala mala.
Niemand weiss, ob die tausendjährige Linde von Gasse wirklich tausend Jahre alt ist. Hoch über dem Tegernsee blickt dieser Titan hinab ins Tal, auf das Kommen und Gehen der Menschen, auf Lust und Liebe, Trauer und Schmerz, und wer daran vorbei kommt, wünscht sich vielleicht, im Alter auch so robust und wuchtig in der Landschaft zu stehen, statt krank und schief über das Erdenrund zu kriechen, In seinem Schatten wurde aufgeatmet und geküsst, Hochzeitsphotographen nutzen ihn für ihre Bilder, und so erfüllt es mich mit Schmerz berichten zu müssen, dass dieses Wahrzeichen nunmehr von minderjährigen Schmierfinken geschändet wurde. Ein Opfer missratener Kreaturen ist die Linde geworden, und das, obwohl man hier doch gar nicht so wie in Berlin erzieht.
Wir sind anders. Niemand hängt hier sein ganzes Dasein in den Nachwuchs hinein, denn wenn der zu anspruchsvoll wird, hätte man ja auch Platz und Geld für Personal. Niemand muss hier bei der Abrichtung der Blagen auf besondere Vorsprünge in der Schule achten – die kommen hier eh alle in das Gymnasium im Schloss Tegernsee und dortselbst das Abitur, und niemand muss nach einer guten Schule suchen. Wir sind da ansonsten ganz ohne Vorurteile: Ob die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt später die Hauptschule abgebrochen hat, oder eine Professur für Gender Studies in Berlin aufweisen kann, ist vollkommen egal, das ist zumindest nach unserer Vorstellung beides gleich weltenfern vom Prestige, das die blosse Existenz und Ausbildung am See mit sich bringt. Insofern muss man die Blagen hier nicht zum Vorschulenglisch bringen – wenn sie nerven, macht man die Tür auf und schickt sie auf Wiesen, in die Berge oder auf das Segelboot. Zum Aggressionsabbau gibt es hier nach Altväter Sitte das Hackl und die Holzscheite, und in allen anderen Belangen gilt das Motto “A Guada hoids aus und um an Schlechdn is ned schod“. Lebensnahes Lernen ist hier typisch und der beste Skikurs, den man haben kann, ist der Schubs oben auf dem Berg – runter kommen sie alle.
So sorglos wurden wir erzogen und so sorglos rutschten wir auch in Beziehungen – die Gefahr, an einen Vollkornconaisseur mit gecheckten Privilegien oder eine arme, gleichwohl bildungsprestigesüchtige Feministin zu geraten, war bei uns im landwirtschaftlich geprägten Bayern, dessen Himmel voll Schweinshaxen und Tagwerk hängt, gleich Null. Die einen nahmen Pille und Kondom, und die anderen trugen die Konsequenzen mannhaft. Ab einem gewissen Besitzniveau laufen Kinder halt einfach so mit, da muss niemand sein Cabrio verkaufen, und was den anderen ihr Oxford, ist den Gscheidn der alte Freund vom Papa. Recht viel weiter nach oben geht eh nicht, und so lebt in allen die Hoffnung, dass auch die Pubertät freundschaftlich und lässig überlebbar ist. Oder wenigstens nicht so schlimm wie dort, wo sich Kinder von überambitionierten Eltern distanzieren und lösen müssen. Hat sich eigentlich schon mal jemand Gedanken gemacht, wie das in den leistungsfetischistischen Aufsteigerhaushalten mit veganer Küche, genderneutralem Spielzeug und Aktionsgruppen zum Erhalt der letzten Kulturfreiräume in Baulücken aussehen wird?
Niemand hat das gemacht. Also, jetzt ausser uns natürlich, weil, wenn man hier junge Eltern auf den Neureuth trifft, oder in Seeglas, mit dreckigen, durchgeschwitzten und dreimal auf die Goschn gefallenen Kindern, da macht man schon manchmal so seine Witze über das Gegenmodell. Darüber, dass die Töchter der anderen heimlich mit Barbies spielen und später einmal der Mutter ihre Scheckkarten benutzen, um sich statt der nachhaltigen Biofetzen oder entwürdigend bunten Häkelsachen Prada und Alexander Wang zu beschaffen. Gar nicht auszudenken, wenn sie sich erst einmal vom Pfad der geschlechtsneutralen Tugend davonstehlen und sich in devote Hausmädchenrollen träumen, und nur Männer akzeptieren, die ihnen ein angenehmes Leben ohne Arbeit versprechen – nicht so wie ihre hyperaktive Mutter, an deren Seite sie am Samstag nach einer üblen Schulwoche noch vegane Snacks backen musste, weil die Projektgruppe zum Boykott von rosa Spielzeug vorbei kam. Das findet man bei uns lustig, hier werden die Mädchen nämlich samt und sonders im Dirndl eingeschult. Gern auch rosa.
Und ob die Söhne auch so Laddirl wie die konsensualen Väter werden wollen – auch das wagen wir hier zu bezweifeln. Schliesslich bieten Pegida und Salafismus Gegenmodelle, die in den Augen eines Heranwachsenden nicht zwangsweise unattraktiver als die ständige Debatte über die absolute Gleichbehandlung von Tochter und Sohn sein muss. Wir kennen diese Freude an der Subversion, nie war Wackserdorf lustiger als an den Tagen, da einer von uns vom Vater die dicke Cheflimousine ohne sein Wissen borgte – eine S-Klasse hielt damals kein Polizist auf. Vielleicht gehen all die Potsdamer Kinder dann mit dem Hybrid-SUV zu den jeweils angesagten Querfront-Veranstaltungen. Und während Papa noch brav Leserbriefe zu Diversität und Toleranz gegenüber Zuwanderern verfasst, lernt das Kind deren Praxis, sei es nun im Rapgesang oder bei Chemtraildebatten mit Ken FM. Oder sie ziehen gleich nach Bayern und studieren Maschinenbau mit dem Berufswunsch Antipersonenminenkonstrukteur. Eltern glauben immer, es sei schwer, gegen so liebreizende, tolerante und für alle Fragen der Weltpolitik verantwortungsvoll offene Zeitgenossen zu rebellieren, aber da haben sie die Rechnung ohne die zu fördernde Kreativität der Zukunft des Landes gemacht. Mit Fingerfarben fängt das an und bei der Spraydose endet das, sagen wir dann und lachten – bis vorletzte Woche dann auch bei uns das Undenkbare geschah und die Linde von Gasse geschändet wurde:
Sicher, die Übeltäter haben nicht die Linde direkt beschädigt – hier wirkt der Umstand nach, dass Sprayer im liberalen Bayernland ungefähr so schonend wie Bruno der Bär geschützt werden. Aber so geht es los, Farbe auf Stein und Stein an Baum, und dann fangen sie an, gegen unser lockeres Lebensmodell zu rebellieren. Nicht mehr “Kinder, wenn es halt passiert“ und “Erziehung ist das, was man macht, wenn sie sich selbst kaputt gespielt haben“, sondern wirklich viele süsse Kinderchen. Süss. Keine Hallodris und keine Driedschal, sondern süsse Kinderchen. Am Ende gar ernsthafte Familienplanung. Wo kommt man denn dahin. Als nächstes fordern die vielleicht einen Bausparer? Sorgsame Erziehung nach modernen Methoden und Helikoptereltern, die immer da sind? Rundumbetreuung? Und das alles am Naturheiligtum des Tegernsees – so geht es los mit der Rebellion. Wahrscheinlich sind sie längst auf der Suche nach finanziell angemessenen Partnern, um solche Ideale durchzusetzen, stellen Erziehungsfragen ganz in den Mittelpunkt ihrer Vorstellungswelt und finden es nicht ausreichend, wenn am Ende des Tages die meisten relevanten Knochen heil und die Flecke von den Kuhfladen auswaschbar sind.
Ja, es ist nur ein Stein an der Linde. Aber so fängt das an – bei aller Toleranz, so geht das nicht. In den tiefen des Internets suchen sie vielleicht Worte wie “Elternteilzeit“, “Papa bleibt daheim“, “Autoversicherung SLK VW-Bus“ oder gar “Abschaffung Ehegattensplittings“. Und verdrehen peinlich berührt die Augen, wenn man ihnen Negerküsse anbietet. Ich mein, mich betrifft das nicht, ich bin kinderfrei und alt und hatte in diesem Leben meinen Spass – aber das ist der erste Stein, der hier auf unser komfortables Glashaus der Liberalität geworfen wird. Vielleicht sollte man denen ganz schnell den Mund mit Soja und Leinsamenschleim auswaschen und sie auf ein interkulturelles Trainingscamp schicken, damit sie wissen, wie das wirklich ist, und um somit das Allerschlimmste zu verhindern. Wir alle wollen schliesslich stolz und aufrecht wie die Linde von Gasse sein, und nicht gramgebeugt und heimlich Enkeln von lieben Freunden später in einem keimfreien Akademikerhaushalt eine fetttriefende Schweinshaxe zustecken müssen.