Weisst du, auf dieser Welt gibt es zwei Sorten Menschen, mein Freund: Solche mit geladenen Waffen und solche, die graben. Du gräbst.
Der Blonde aus „Zwei glorreiche Halunken“
Franz hat ein Problem mit Sissi, und Sissi findet es nicht lustig, dass Franz sie im Palast anschreit. Unflätig, sehr unflätig, denn Sissi hat ihn angerempelt und da ist Franz das Handy aus der Hand gerutscht, und auf den Marmorfussboden gefallen. Da interessiert sich Franz natürlich nicht mehr für die architektonische Schönheit von Schloss Schönbrunn, sondern nur noch dafür, Sissi als ein mangelintelligentes Borstenvieh zu bezeichnen. Sissi will das aber nicht sein und so drängelt sich das plumpe Mädchen durch viele andere Fränze mit k.u.k.-Uniformen und viele andere Sissis mit Sissi-Traumhochzeitskleidern zur Lehrerin und petzt ihr, was der Franz über sie gesagt hat. Ich bin kein besonders ausgeprägter Kinderfreund, aber selten fand ich sie so störend wie in Form jener österreichischen Schulklasse, die da in Franz-Uniformen und Sissi-Ballkleidern stupide, grölend und dumm durch die Hallen von Schönbrunn marodierte.
Das hier ist der Blick hinüber nach San Gimignano an der Strasse von Siena nach Volterra in der Toskana, und sollten Sie gerade in den anständigen Bundesländern wie Bayern leben, in denen die Schulferien jetzt erst beginnen, und darüber nachdenken, Volterra mit Ihren Kindern zu besuchen – tun Sie es nicht. Fahren Sie lieber nach San Gimignano, da können Ihre Kinder Amerikaner und Japaner terrorisieren, und ausserdem gibt es da auch einen Berg, auf den man laufen kann, und danach sind sie platt, genervt, und wollen nur noch ans Meer und zur Pizza. Bis dahin ist San Gimignano mit seinen Türmen ein Abenteuerspielplatz, da können die Stammhalter dann Game of Thrones spielen oder was sie sich sonst hinter Ihrem Rücken so runterladen. Prinzipiell ist es Kindern ja egal, ob sie etwas als Franz, Sissi, Attila oder Godzilla kaputt machen. Hauptsache, es gibt jemanden, der sie nicht aufhält, gewähren lässt und dabei insgeheim an den Konzepten der Museumspädagogik verzweifelt. Denn die erstaunliche Idee, dass man desinteressierten und zerstörungswütigen Impulskontrollversagern die Geschichte ihres glatten Gegenteils, des Menschen, nahebringen muss, ist schuld an all den Sissis und Franzens und was da unter dem Glauben an die Bildung sonst noch Kulturgüter gefährdet.
Nun habe ich selbst ein passendes historisches Fach studiert und weiss natürlich, wie es so weit kommen konnte: Studenten gibt es viele, aber Stellen nur wenige und so beklagte man es, dass doch die Kleinen, die Nachkommenden, die Zukunft – und nicht etwa die Typen, die in dreissig Jahren ignorant und dröge genau so weit wie wir hinter den Möglichkeiten bleiben werden – frühzeitig aus der Geschichte lernen sollten. Damit begründete man eine ganze Industrie: Talentlose Kunsthochschulfreunde malten Kindermalbücher, Kollegen brachen der Forschung das Genick herunter bis zum Vorschulanspruch, es gibt spezielle Führungen und Verkleidungen und überhaupt alles, was so einen Orchideenfachstudent_Innen bis zur passenden Zahnarztverheiratung oder Verbeamtung in Lohn und Brot hält. Im Ergebnis meide ich seitdem Wien, was ohnehin keine schlechte Sache ist, weil es in Österreich liegt. Volterra dagegen liegt auf einem kurvengespickten Berg, der nachgerade die Garantie für halbverdaute, im Strahl verteilte Eisreste auf Ihren schönen, neuen Leasingautositzen ist. Er eigentliche Grund jedoch, warum San Gimignano für Kinder reicht, ist das hier:
Das ist das berühmte, unter meinen Studienkollegen weltberühmte Museum Guarnacci in Volterra. Berühmt ist es, weil der ansonsten nicht sonderlich bedeutende Prälat Mario Guarnacci im Jahre 1761 dieses Museum mit all dem, was er über die Jahre dem Boden um Volterra entrissen hatte, eröffnen liess. 1761 gab es noch keine Museumsdidaktik, und Kinder pflegte man artgerecht je nach Stellung im Stall bei den Schweinen oder im Burggraben zu halten, und Ludwig XIV. hat das auch nicht geschadet – aber eben nicht im Museum. Dazu kam, dass Altertumskunde in jener Zeit noch aus wahren Plünderungsorgien durch etruskische Gräberfeldern bestand: Plana oder Stratigraphien, wie wir sie heute kennen, spielten damals keine Rolle. Man musste einfach nur zugreifen und Guarnacci nahm, was er kriegen konnte. Während wir heute genau überlegen, zu welcher Zeitstufe welches Rasiermesser und welche Navicellafibel wohl gehören mag, ging es damals vor allem um die Anhäufung von möglichst üppigen Sammlungen.
Wir reden hier schliesslich über das sinnenfrohe Rokoko, und was dem Fürsten seine Mätressen, waren dem Kanoniker seine etruskischen Altertümer, die er dicht an dicht und ohne Rücksicht auf Fundzusammenhänge präsentierte. Das Museum selbst richtete sich nicht an den ahnungslosen Pöbel, sondern an interessierte und gebildete Menschen auf der Grand Tour durch Europa – sonst komte sich niemand so eine Reise durch Europa leisten. Die Besucher brachten ein gerüttelt Mass an Bildung für das Altertum mit, was um so leichter war, als es damals unsere hirnbelastende Moderne noch nicht gab. Was antik war, hatte in sich einen hohen Wert, und man musste es gesehen haben, um nachher bei Hofe brillieren zu können. Für diesen Zweck und mit dieser Vorbildung reicht das Museum Guarnacci vollkommen aus: Es ist zwar ein entsetzliches Durcheinander, aber mehr wusste man damals nicht und war schon vom Geiste der Antike erfüllt, wenn man drittklassige kampanische Grabwegwerfkeramik sah – so, wie manche heute verliebt auf ihre iWatch schauen.
Kurz, das Museum ist in sich auch schon wieder ein Museum für die Geschichte des Museums. Es kommt mit zwei Bedeutungsebenen daher: Einmal als Forschungsstand zu einer Zeit, in der man Aderlass für Medizin und öffentliche Selbstgeisselung für gottgefällig hielt. Der Wunsch nach Wissen und die Habgier bilden die kulturelle Begründung dieses eigentlich schrecklichen, ignoranten und rücksichtslosen Museums, das keine Bildungseinrichtung ist, sondern Bildung voraussetzt. Und dann kommen als zweite Ebene noch die Funde der Etrusker, Römer, Villanova-Menschen und was sich sonst noch existierte, in riesigen Mengen und allenfalls rudimentär geordnet. Dieses Funde stellen enorme Ansprüche, ohne sie sonderlich durch Erleuchtung zu belohnen. Fassungslos und frei von jeder Erkenntnis stolpern normale Menschen hindurch, verstehen nicht, kennen keine Bezüge und sind restlos überfordert. Kurz: Es ist göttlich. Kein Museum ist mir bekannt, wo man sein Herrschaftswissen der Antike so gnadenlos gegenüber den Sterblichen ausspielen kann, die hier töricht mit der gelösten Eintrittskarte die Erwartung verknüpfen, irgendwer würde ihnen jetzt schon erklären, was sie hier sehen. Da muss es doch sicher auch eine Videoinstallation geben, oder?
Gibt es nicht. Es gibt auch keine Ledersofas, die Räume sind klein, stickig, finster und alles ist genau so, wie es der englische Adlige erlebte, wenn er, vom verdorbenen Essen frisch verwurmt, aus der Kutsche kroch und sich sagte, das müsste er jetzt einfach sehen, denn dafür hat er die betrügerischen Schankwirte in Bayern, die liebeskunstsinnigen Dirnen in Florenz und die dreisten Kutscher in den Niederlanden überlebt: Nur um hier all die Altertümer zu sehen, aus jener Epoche, als Rom sich anschickte, Italien zu erobern und zur Weltmacht zu werden. Mit seinen Augen betrachtet ist das Museum gross und mit seiner Fülle an Schätzen überwältigend. Und freundlicherweise hat man es auch genau in diesem Zustande belassen, und nicht versucht, es allen und jedem recht zu machen. Eine gewisse aristokratische Haltung hilft hier wahrlich durch die abgeschabten Räume, wo in der Finsternis schon damals massengefertigte Graburnen auf einen herabschauen. Das Museum ist gelebtes Klassenbewusstsein und spuckt alle wieder fast so ungebildet aus, wie sie es betreten haben. Die getippten, nichtssagenden Beschreibungen sind ein Hohn auf die egalitäre Gesellschaft und den Glauben, dass es reicht, wenn man es allen gleich einfach macht.
Natürlich erlebt man so eine Missachtung für das Publikum auch in der modernen E-Musik, am Volkstheater, in der Genderforschung und bei jedem Ringelpitz-Oberauer Lyrikseminar mit anschliessender Annegret-Fleischhuber-Flaxenberg-Preisverleihung. Diese Verachtung jedoch ist neu, nur akademisch begründet und bezieht ihre schale Legitimation von brotlosen Wissenschaften, die in hundert Jahren oder auch nur Tagen längst wieder vergessen sind. Guarnaccis Museum ist begründet auf ein Patriarchat, das arme Schlucker mit Schaufeln auf Felder schickte, damit sie das Grosse un Erhabene finden, von dem sie nichts verstehen. Gender kann man mit NRW-Abitur studieren, aber einen Palazzo stiften, ihn voller Gerümpel stellen und dann britische Adlige zur Verehrung zwingen: Das geht nur mit der Klassengesellschaft.
Und harter Ausgrenzung von allen, die hier nur stören würden. In Schlösser kann man sich einfühlen und davon träumen, Franz oder Sissi zu sein. Dieses Museum jedoch ist abweisend, verachtend und rücksichtslos in einer Art, die wir in Europa so gern menschenfreundlich übertünchen, und Kinder darin spielen lassen, um zu zeigen, wie weit wir als vorläufiger Höhepunkt der Menschheitsgeschichte seit dem Feudalismus gekommen sind. Insofern ist das Museum ein gelungener Urlaub für Menschen, die noch an das Gute glauben, solange sie es selbst haben, und nicht die anderen.