Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Flaschensammeln als neuer Generationenvertrag der Modernisierungsgewinner

Vorwärts immer, rückwärts nimmer
Erich Honecker

Diskriminieren will gelernt sein. Bei uns daheim zum Beispiel diskriminierte man früher, indem man sagte, jemand käme aus der Schleifmühl. Die Schleifmühl ist jener Teil der Stadt, der unterhalb des Donauhochufers liegt und mit der Schutter einen Bach besass, der die besagte Schleifmühle antrieb. Donau und Schutter traten immer wieder über die Ufer, weshalb dann die Schleifmühlbewohner schwimmen mussten, während die feinen Herrschaften – vulgo meine Familie – weiter oben trockenen Fusses blieben. Immerhin war das Viertel danach einmal ordentlich desinfiziert. Heute sind die kleinen Handwerkerhäuser dort unten teuer und begehrt, und den schlechten Ruf der Schleifmühl kennen nur noch die Alten. Auch andere Worte versteht man kaum mehr; Barackler nennt man die Bewohner, die östlich der Stadt lebten, weil dort tatsächlich einmal Baracken standen. Heute sind dort bundesweit beachtete Beispiele für soziales Wohnen. Südlich der Donau lebten nur Donaumoosbauern – heute durch die Baugrundstücke schwerreiche Latifundienbesitzer. Es ist gar nicht so leicht, Leute in einer Region zu diskriminieren, in der es aufwärts geht. Auch der böhmische Flüchtling gilt heute als weiterer Stamm des Bayerntums und ist längst genetisch eingesippt. Ich habe das Diskriminieren von der Pike auf gelernt, aber es die goldenen Zeiten des Ausgrenzens sind vorbei, selbst im Donaumoos.

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Natürlich halte ich andere auch weiterhin für Gschwerrl und Grattler und bin deshalb auch stets begeistert, wenn kundige Schwoikepf aus Fakültät und Wissenschaft neue Kategorien der Ablehnung mit der nötigen Verachtung einführen. Gerade jetzt hat in den Medien ein Wort Konjunktur, das auf den erste Blick durchaus geeignet scheint, Verbaldejurien wie „Watschngsicht“ und „greisliche Schäwahn“ so zu ergänzen, dass es auch den gebildeten Ständen fern der schönen, blauen Donau und der sumpfigen Schutter behagen mag. Das Wort lautet

Modernisierungsverlierer.

Man findet es zu allen Anlässen, da sich Leute auf den Weg in eine bessere Zukunft machen. Sie stossen dabei auf Kritik, Unverständnis und Ablehnung, ja die anderen erdreisten sich sogar, das Alleinseligmachende des Kommenden anzuzweifeln und auf ihrem demokratischen Recht bestehen, auch ein Wort mitzureden. Ohne dass sie überhaupt verstehen, wie toll die Modernisierung ist. Sie haben Angst, dadurch etwas zu verlieren: Ihre alten Gewissheiten, die nur Vorurteile sind, ihre überkommenen, barbarischen Bräuche, die keinesfalls eine Tradition darstellen, ihre Denkfaulheit, ihr Unwissen und damit – denn wer braucht in der Zukunft solche begrenzten Leute – auch Sicherheit, Vermögen und Bindungen. Das Wort „Modernisierungsverlierer“ macht also den Aussprechenden nicht nur modern und zukunftstauglich, es enthält auch eine Unterjochung des Betroffenen. Und eine Drohung.

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So weit, so phantastisch, aber ich kann natürlich auch erzählen, dass ich tatsächlich solche Schicksale aus erster Hand kenne. Anfang der 90er Jahre gab es noch ABM-Massnahmen in Bayern, und in der Folge bekamen wir akademischen Jungarchäologen es mit Grabungshelfern zu tun, die auf die eine oder andere Art aus dem geregelten Berufsleben gefallen waren. Oft spielte Alkohol eine Rolle, weil manche weinerlichen Firmen ihre Leute nach 7 Halben nicht mehr für trittsicher auf dem Gerüst hielten. Manchmal waren es auch die Veränderung der Landwirtschaft, die weniger Leute brauchte und ältere Beschäftigte aussonderte. Es waren Menschen dabei, die etwas schräge Ansichten hatten, ein harter Kiffer und einige, die noch ein paar Jahre bis zur Verrentung hatten und sie hier überbrückten. Die Grabung lag im Landkreis Eichstätt. Alle hatten ein Auto und eine Immobilie. Reich war keiner, aber selbst der Kiffer hatte seine Finanzen unter Kontrolle und besserte sie durch bemalte Eier auch ordentlich auf. Es waren fraglos Modernisierungsverlierer, aber lustig war es trotzdem und manchmal gab es im Bauwagen Quetschnmusik. Die Leitkultur war eher traditionell, aber es waren schon auch nette Leute. Da kann man nichts sagen.

Gesagt hätten sie aber durchaus etwas, wenn man ihnen mit jener modernen Zukunft gekommen wäre, die heute den Stempel des Modernisierungsverlierers grosszügig verteilt. Der Verlierer soll Angst haben vor dem bedingungslosen Grundeinkommen, das wir brauchen, weil Vollbeschäftigung eine Illusion ist – besonders bei den Kulturschaffenden in Berlin, nur nicht da, wo ich wohne, denn dort gibt es wieder diese illusorische Vollbeschäftigung. Er soll Angst haben vor den starken Frauen, die sich aufmachen, die Welt feministisch umzugestalten. Er soll Angst vor Diversity im Beruf haben, weil er dann mit seinen Vorurteilen isoliert zurückbleibt. Er soll die Sexualkunde in Baden-Württemberg fürchten, den Veggie Day und natürlich den Flüchtling aus Afrika, der unseren Fachkräftemangel und das Geburtendesaster behebt. Er hat Angst um seine verbliebene Rolle im untergehenden Patriarchat und schlägt dann wütend um sich, sei er als Neonazi tituliert, als Sexist, als Klassist oder als Professor für Biologie. Es ist ein Wort, und es ist so allgemein, dass es für alles passt.

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Ich habe damit zwei Probleme: Zum einen mochte ich meine echten Modernisierungsverlierer. Das waren eigentlich samt und sonders Leute, die sich auf der Grabung bei Wind und Wetter wirklich Mühe gaben. Es war eine Notgrabung, und als einmal ein Stück am Montag vom Bagger abgeräumt werden sollten, standen sie alle am Samstag da und blieben, bis in der Nacht zum Montag alles abgearbeitet war. Danach gab es Quetschnmusik und Blechkuchen und Spezi im Bauwagen. Natürlich kann man auch grundlos Leute diskriminieren, das ist keine Frage; allein, diese Menschen wurden gegen ihre Willen in einen Kampf gegen die Modernisierung geworfen, haben verloren, das Beste daraus gemacht und geschaut, wie es weiter geht – der harte Kiffer hat später sogar ein Grabungsunternehmen gegründet, hat jetzt eine Gartengestaltungsfirma und ist Nichtraucher.

Das andere ist der ausgesprochen tückische Charakter speziell dieser Ladung, die der Beleidigende und Diskriminierende anderen draufbrennen will. Sehen Sie, wenn ich Grattler sage, ist das nicht nett, aber die ganze Stadt weiss, dass ich dergleichen nicht bin. Ich habe, das gebe ich ehrlich zu, nichts zu meinem sozialen Vorsprung getan: Ich verdanke das meinen besser gestellten Vorfahren, und so eine Beleidigung lebt ja auch ein wenig von der triefenden Arroganz und Dreistigkeit. Modernisierungsverlierer jedoch ist brandgefährlich: Wer das Wort verwendet, sagt auch, dass er weiss, wo es lang geht. Und dass er nicht zu diesen Verlierern zu gehören gedenkt. Sondern zu den Gewinnern. Ich missbrauche mit „Schleifmühl“ mit gutem Gewissen die Geschichte, aber all die Kollegen der Medienschleifmühlen, die dieses fragliche Wort sagen: Sie müssen erst den Beweis antreten, dass ihre Moderne nicht nur kommt und besser ist, sondern auch sie selbst zu Gewinnern macht. Eine von denen, die das seit etlichen Jahren betreibt, sucht gerade den Klagen zufolge vergeblich eine Wohnung.

Im Billigslum Berlin.

Mit einem einzigen Zimmer.

Zur Miete.

Nicht als Dritt- oder Hauptwohnsitz, sondern wirklich als einzige Wohnung. Sonst hat sie keine Bleibe. Nichts.

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Und das ist beileibe kein Einzelschicksal. Ich sehe bei Instagram das Wohnungselend, in dem die Gewinnerinnen vegetieren, und während ich selbstverständlich meine eigenen Gemälde ablichte, suchen die für ihre Beiträge Bilder von erträglichen, ihnen finanziell weltenfernen Wohnumfeldern bei Agenturen aus. Sie fahren nach Berlin, um sich Mietwohnungen – 2 Zimmer für 2 Leute – selbst anzuschauen, statt einen Makler zu beauftragen, ihnen die passenden Villen vorzustellen. Pseudowissenschaften wie Gender und Handauflegen können nicht wirklich profitabel sein. Ich lese, dass sie noch 40 Euro auf dem Konto haben und noch eine Fahrkarte für 40 Euro kaufen müssen – 7 Tage vor Monatsende. Sie machen Lesungen über Zwangsräumungen. Sie betrachten die Pfandflaschen als eiserne Reserve. Sie schreiben entwürdigende Bettelanträge bei Staat und Stiftungen. Eigentlich würde ich von Modernisierungsgewinnern erwarten, dass sie wie unsereins dem Staat etwas anschaffen und sich so bereichern können, dass sie am Ende eine Stiftung für ihr Erbe brauchen. Ich weiss, wie Modernisierungsverlierer in ABM-Massnahmen aussehen und verstehe einfach nicht, wieso dann Modernisierungsgewinner genau so aussehen. Abzüglich Auto, vollem Tank und damals noch sicherer Rente, wo heute angesichts von Flaschensammeln als neuem Generationenvertrag die sichere Altersarmut kommt. Früher waren die Verlierer immerhin noch Rollermechaniker, Eierbemaler, Gärtner und Freizeitmaurer – die Gewinner sind Autor, Kolumnistin, Kurator, Blogredakteurin, Social Media Berater und auch sonst vom Leben krass überfordert.

Ich bin beim Beleidigen wie alle in meiner Sippe nicht sonderlich wählerisch und Hauptsache, es sitzt. Aber der Modernisierungsverlierer sitzt nicht, er ist ein Rohrkrepierer, wenn man selbst nichts an neuen Siegen und Erfolgen vorzuweisen hat. Solange wir noch in einer Oligarchie leben und ich selbst entscheide, wer von denen bei mir das Bad putzen dürfte auch üppige Vorschüsse die beleidigende Aktivistin nicht vom Zwang befreien, bald wieder ihre alten Billigklamotten auf dem Kleiderkreisel zu offerieren, bleibe ich also lieber bei bewährten Schimpfworten, die nicht Fragen nach dem eigenen Versagen aufwerfen. Denn man sieht immer wieder, wie schnell man mit so einer Haltung in den Medien vorgeführt wird.