Mich ekelt vor aller Kreatur
Hl. Gertrud
Sie haben vermutlich auch gelesen, dass im letzten Jahr so viele Kinder in diesem Lande das Licht der Welt erblickten, wie seit dem Jahre 2004 nicht mehr. Und dass mehr geheiratet wird, und die Ehen auch deutlich länger halten. Manche halten das für eine gute Nachricht. Manche, und einhundert Prozent alles Schwiegermütter, werden sagen, das sei doch wunderbar. Und ich kann jetzt schon vorhersagen, dass die besonders eifrigen Nachwuchserzeuger nicht Migranten sind, sondern gebildete deutsche Paare. Man kann hier nämlich nicht mal mehr in Ruhe sein Denti Scatto photographieren, ohne dass eine junge Familie mit Kinderanhänger vorbei radelt.
Hier ist das Tal der Schutter am südlichen Rand des Altmühltals, oder, wenn man es historisch korrekt sagen will, ein Teil des Jakobsweges. Mit dem Jakobsweg ist es wie mit den jungen Familien: als ich jung war, vor einem Viertel Jahrhundert, wusste niemand, was das ist. Wir wussten, was das Parkcafe ist. Da konnte man tanzen. Und wir wussten, was Familien sind. Das letzte, was wir haben wollten. Wenn ich dann auf den Jurahöhen über ruhige Strassen nach Egweil, Nassenfels und Bergen radelte, war ich meistens allein mit anderen Radlern. Es gab keine Pilger mehr, die Religion war am Aussterben, und wer konnte, zog in die Städte, um zwei Einkommen, Sex, die Pille, und keine Kinder zu haben. Konnte sein, dass die Zurückgelassenen und Abgehängten etwas anderes machten, aber wir waren jung, schön und hatten etwas Besseres zu tun. Hier die fauligen Früchte der Vergangenheit, dort die knackigen Vitamine der Zukunft.
Ich war in München und dann in Berlin und dann auch mal wieder an der Donau, und wenn neben dem alten Apfelbaum an meiner Lieblingsstrecke ein neues Marterl steht, dann ist das, so dachte ich, dem zurückgebliebenen Leben auf dem Dorfe geschuldet. Marterl gibt es in Bayern überall, es gibt welche mit toten Soldaten und Pest und umstürzenden Gespannen und Blitzschlag – irgendwer fühlt sich dann bemüssigt, solche Säulen aufzustellen. 2004 also war am Rande meines üblichen Weges so ein Marterl, und wäre daneben nicht der alte Apfelbaum gewesen, dessen Früchte auch auf einem Stillleben des Manierismus hätten erscheinen können, wäre es mir noch nicht einmal aufgefallen. Ein alter Baum, eine weisse Säule, da huscht man schnell vorbei, denn vorne in Bergen erwartet einen die alte Wallfahrtskirche und ein wirklich schöner, alter, mit Kastanien bestandener Biergarten. Inzwischen steht am Marterl aber mehr als ein Baum.
Man kann das gar nicht mehr übersehen, so viele Bäume stehen da. Am Anfang war neben dem Marterl nur ein kleiner Stamm und ein Taferl. Da hat, dachte ich beim Vorbeifahren, vermutlich jemand hingeschrieben, was hier später zu plündern ist. Und hoffentlich sind es Zwetschgen. Oder Mirabellen. Das wäre doch eine feine Sache, dachte ich, und fuhr meines Weges in der sicheren Erwartung, in einer Dekade könnte ich hier schon anfangen, meinen berüchtigten Zwetschgendatschi kostenfrei zu versorgen. Oder Mirabellen zu stehlen ernten. Es ist nett von denen, wenn sie, bevor sie hier im Tal aussterben, wenigstens noch etwas für die Renaturierung tun.
Ein paar Jahre später standen da also ein paar Bäumchen mehr und irgendwann blieb ich stehen, um zu lesen, was denn da angebaut wurde. Es waren Firmbäume. Nun habe ich Heuschnupfen und kenne mich nicht so aus mit der Botanik – in naturwissenschaftlichen Fächern gab es gefürchtete Lehrer wie den Hallermeier, über den sie bei uns in den Pausenhof schrieben
Bubak Ponto Schleyer
der nächste ist der Hallermeier
Ich war da eher von der lernunwilligen Sorte, und irgendwoher muss man ja auch seinen schlechten Abiturschnitt haben, um etwas Sinnloses ohne Numerus Clausus zu studieren, mit dem man im Parkcafe tanzen und später Kolumnist bei einer angesehenen Zeitung werden kann. Ich habe also nie verstanden, was so ein Firmbaum ist, aber es hat mich schon gewundert, warum all diese Firmbäume so unterschiedlich aussehen. Und warum die immer von irgendwelchen Leuten gepflanzt wurden, die auf den Taferln vermerkt waren. Am Anfang waren es immer vier oder fünf Namen, aber inzwischen sind es stets sieben. Es werden also mehr Gartenfreunde. Dachte ich.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist mir auch lieber, wenn die letzten Reste der indigenen Bevölkerung die Heilige Gertrud anbeten, die hier ebenfalls vorbei gekommen sein soll, als Pestizide zu verspritzen. Ich bin dem Brauchtum nicht völlig abgeneigt und manchmal schaue ich mir mit Singlebekanntschaften aus München und Berlin auch Leonhardiprozessionen an. Ethnologische Studien. Tanzen gehen wir nicht mehr, oder wenn dann in Tanzkurse – letzthin wurde ich zum Swingkurs geladen – aber Lästern geht noch wie früher. Immerhin sind wir mit viel Freizeit und Freiheit immer noch die Krone der Entwicklung hin zum aufgeklärten Menschen, wir haben uns über die biologischen Zwänge erhoben und können jederzeit neue, heisse Affären und Beziehungen eingehen. Wir können es klassisch in der Oper, wir können es in Oberitalien, am Tegernsee – wir sind frei, solange die Bandscheiben mitspielen. Also ich zumindest. Gut, viele Bekannte haben mittlerweile einen Burnout, die können dann nur noch theoretisch. Aber die ganzen Eltern, die hier radeln, haben sicher auch kein allzu spannendes Leben mehr. Sagen wir uns und weil wir alle es sagen, muss es stimmen.
Gestern ist mir dann schlagartig klar geworden, wie Saulus hätte mich die Erleuchtung beinahe vom Denti geworfen, was der Firmbaum ist. Es ist kein Baum, der Firme trägt. Es ist ein Baum, der bei der Firmung gepflanzt wird. Und die Namen, die da stehen, sind die der Kinder, die gefirmt werden. Sie haben sich in den letzten zehn Jahren von durchschnittlich vier auf sieben vermehrt. Vermutlich sind wir auch schuldig. Natürlich haben wir – ich gebe es zu – Kolumnen geschrieben und uns beim Personalwesen beklagt, dass die moderne Arbeitswelt sich ändern muss, wenn man wirklich wollen würde, dass unsereins Kinder kriegt. Das war aber nur ein Stilmittel zum Beklagen der allgemeinen Zustände. So eine versteckte Gehaltsforderung, moralisch bemäntelt. Wir konnten doch nicht ahnen, dass jemand wirklich so verrückt sein würde, und Kindergärten und Ganztagsbetreuung macht und zahlt und fördert, und für Vollbeschäftigung sorgt, statt den einfachen Weg zu gehen, uns das Geld zu geben und auf die nächsten Erklärungen zu warten, warum wir leider genau so kinderlos weiter machen müssen. Wir haben ja nichts von den besseren Zuständen. Aber die Tafeln an den Firmbäumen werden immer grösser und bunter, und dafür haben wir nicht unsere Jugend und unsere Ohren auf den Boxen des Parkcafes geopfert.
Das ganze Ausmass der Katastrophe wird einem erst klar, wenn man im Dorf ankommt, wo einen allerorts Schaukeln, Trampoline und „Langsam – Spielende Kinder“-Schilder erwarten – aber keine schnittigen Roadster mit Platz für zwei Singles. Die Bewohner haben offensichtlich sehr viel Zeit zur Pflege ihrer Gärten und – zugegeben – deutlich mehr Zimmer als jene zwei oder drei, die meine alten Freunde in München manchmal ihr eigen nennen, oder mieten. Gross ist das Dorf nicht, aber wenn hier Jahr für Jahr 7 Kinder zur Welt kommen, dann ist es voll. Und stirbt entgegen der Erwartung auf keinen Fall aus. Gott schütze die Heimat unserer Kinder, schreiben sie im Protest gegen eine drohende Hochspannungsleitung. Da weiss man, was die biologische Uhr von Anfang an geschlagen hat.
Der Single kommt aus der Mode. Er ist ein Anachronismus und die Vorstellung, in der öffentlichen Wahrnehmung so eine Art Kommunenbewohner2.0 zu werden, ist gar nicht schön. Es droht aber, weil viele der früheren Kinderverweigerer im letzten Moment doch noch schwach wurden, noch Schlimmeres. Unter die verbleibenden Aufrechten der liberal-egomanen Gesinnung mischen sich in der öffentlichen Wahrnehmung leider jene kinderlose Aktivisten, an deren Gesellschaft mir keinesfalls gelegen ist. Leute wie Volker Beck von den Grünen. Oder diese genderbewegte Journalistin, die in jener Pressemitteilung des Frauenrates über die Löschung einer „Hart, aber fair“-Sendung jubelt. Wir haben mit denen nichts zu schaffen und natürlich war unsere Jugend reich, schön, verschwenderisch und keinesfalls irgendwie sozial interessiert oder anderweitig bigott – aber der Zeitgeist wünscht sich wieder geordnete Verhältnisse, Gärten, sichere Zukunftsperspektiven und Ehegattensplitting, und sondert alles aus, was nicht so ist.
Ich weiss das. Ich sehe stolze Firmbäume und Schilder an der Tür der Wallfahrtskirche, dass sie wegen Hochzeit geschlossen ist, und im Biergarten ist dann oft auch kein Platz mehr. Kein Biergarten kommt übrigens ohne Kinderspielplatz aus. Junge Frauen balgen sich wirklich um geworfene Brautsträusse. Natürlich wollen sie Kinder und keine Scheidung. Vermutlich machen sie sich inzwischen auch wieder mehr Gedanken darüber, wie man eine Beziehung mit Leben und Lebensversicherung erfüllt, mit Firmbäumen, Gärten, Waldspielgruppen und sonntäglichen Radtouren. Es ist die totale Negation der Zukunft, die uns in den Achtziger und frühen Neunziger Jahren versprochen wurde. Es gibt keine Garantie mehr, dass Ehen auseinander gehen und Anlass zur Häme bieten. Sie bekommen nicht nur wieder mehr Kinder, sie stellen nicht nur die Familie in den Mittelpunkt. Sie machen uns jetzt schon zur Minderheit und rotten uns mittelfristig aus. Es gibt wieder mehr Kinder. Und niemand kann diese entsetzliche Entwicklung aufhalten.
In Bergen war ein kleiner Junge auf einem Plastiktraktor, der mir mein Rennrad im Tausch abdrücken wollte. Kinder sind gefährliche, gerissene Raubtiere. Auch sie merken, dass es mit uns zu Ende geht, und überlegen schon, wie sie unsere Kadaver verteilen.