Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die 40 Meter, die über Deutschland entscheiden

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist.
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Ich werde alt. Vor anderthalb Jahrzehnten habe ich viele Monate damit zugebracht, die negativen Folgen einer Regierung in Österreich aus rechter ÖVP und rechtsradikaler FPÖ darstellen. Sündenfall, schrieb ich in einer amerikanischen Zeitung. Und heute nun beginnt die ÖVP schon wieder, in Richtung FPÖ zu schielen. Die SPÖ übrigens auch. Die Asylkrise ist gerade dabei, in Österreich wieder eine rechtsreaktionäre Regierung ans Ruder zu bringen, und damit Viktor Orban zur europäischen Avantgarde zu machen.

Und dann wurde bekannt, dass momentan rund 290.000 nicht registrierte Flüchtlinge in der Bundesrepublik sein sollen. Abgesehen davon, dass die Bundesregierung die tatsächlichen Zahlen der Migration im September lange geschönt hat, muss man wohl erkennen: Sie haben vollständig die Kontrolle verloren. Es gibt für uns Deutsche die Vorratsdatenspeicherung, gegen die ich lange angeschrieben habe, und von 290.000 meist muslimischen Migranten aus problematischen Staaten nur die Vermutung, dass sie hier irgendwo sein müssten und öffentliches WLAN nutzen. Verstehen Sie, warum ich mich alt, müde und deprimiert fühle?

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Alt und müde fahre ich entlang der wolkenverhangenen Bergkette. Links ist Valley. Mein Heimatlandkreis hat gerade offen darüber geredet, dass er ziemlich am Ende seiner Leistungsfähigkeit angekommen ist – und bitte, der Landrat ist ein Grüner. In Valley wird gerade das nächste Containerdorf fertig. Es hat sich ein Hilfskreis aus Ehrenamtlichen gebildet, sich Ratschläge von den Nachbarn geholt, und auf jeden Flüchtling wird ein Helfer kommen. Niemand will damit in die Medien und die Talkshows kommen, niemand macht Pressemitteilungen, das passiert einfach so. Es ist nicht politisch, es ist menschlich. Rechts im tief eingeschnittenen Tal ist Kufstein und die Grenze zu Österreich. Dort verlässt der Inn die Berge, und die Zugtrasse über den Brenner läuft auf Rosenheim zu.

Es ist kein schöner Tag, ein leichter Vorgeschmack auf den Winter, und natürlich weiss ich, dass die fraglichen Politiker in Wien und Berlin mit ihren Wahrheiten taktisch umgehen. Die ÖVP will nicht zusammen mit der SPÖ untergehen, die sich die Flüchtlingspolitik von Berlin diktieren lässt. Und die Horrorzahlen aus Deutschland kommen genau dann, wenn der Innenminister und der bayerische Ministerpräsident die Debatte über Transitzonen und Schnellverfahren an der Grenze lostreten. Nach all den Monaten des Anschauens, Redens und Lernens laufen bei mir das enorm schlechte Bauchgefühl und der Verstand auseinander. Das geht gar nicht anders, wenn man die Realität hinter der Willkommenskultur kennt. Wenn ein Land so offensichtlich die Kontrolle über Zuzug und Verfahren verliert, wie Deutschland das gerade tut, passt vieles nicht mehr zusammen. Vor ein paar Wochen ging am Tegernsee ein Flüchtling mit Lungentuberkulose verloren. Es ist eine Gefahr für ihn und alle, mit denen er Kontakt hat. Man weiss nicht, wo er ist. Vermutlich irgendwo in den 290.000. Dass wir diese Zahl haben, ist eine politische Entscheidung. Es hilft nur niemandem, der sich gerade vielleicht ansteckt.

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Rosenheim. Bahnhof. Rechts am Eck ist das Imbiss Paradies, Stühle und Menschen davor, links ein abgesperrter Bereich mit Zelten. 40 Meter sind es vom Gleis Eins, auf dem der EuroCity aus Verona ankommt, bis zum abgesperrten Bereich. Überall Polizei, sehr viele Polizistinnen, die Lage ist ruhig, das Vorgehen ist lange geübt. Der Zug kommt an, die Polizei übernimmt alle, die offensichtlich Flüchtlinge sind, und lässt sie aussteigen. Routiniert, professionell, nicht unfreundlich, aber auch nicht im Überschwang wie Anfang des Monats in München. Niemend hält hier Schilder hoch und verschenkt Teddybären. Es würde auch wenig Sinn machen, das hier zu tun: Nur eine Familie aus den Subsaharastaaten ist dabei. Die meisten anderen, etwa fünf Dutzend, sind jung und männlich. Es sind die Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer, die hier ankommen, und die sich aus Italien davongemacht haben. Italien ist im vorderen Fünftel der reichsten Länder der Erde, Österreich auf Platz elf. Verglichen mit dem Kongo oder Somalia herrschen dort gute Zustände, aber sie wollen weiter. Die 40 Meter zum Zelt sind die ersten Schritte am Ziel.

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Man sieht an ihren Schuhen, dass das System nicht mehr funktioniert. Selbst wenn man nicht weiss, dass die Gruppe von jungen Pakistanis angeführt wird – also Menschen aus einem demokratischen Land mit geringer Bleibeperspektive – erkennt man an ihren Schuhen, wo das System versagt. Sie tragen zu ihrer nicht perfekt sitzenden Winterkleidung Nike, Adidas und Rebook. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie auf ihrem Weg von Sizilien nach Rosenheim Zugriff auf eine Kleiderspende hatten, und das wiederum bedeutet, dass sie in Italien irgendwie registriert wurden, und sich folgerichtig dort auch länger aufgehalten haben. Sie reisen aus dem Schengenland Italien aus, über das Schengenland Österreich weiter, und sind gemäss der Verfassung unseres Landes nicht berechtigt, hier Asyl zu beantragen. Wie eigentlich jeder in diesem Zug. Laut Kanzlerin wurden die Grenzen für syrische Flüchtlinge am Bahnhof von Budapest geöffnet. Aber diese Menschen sind keine Syrer, und sie kommen aus Verona. In diesem einen Zug sind mehr, als das neue Lager in Valley aufnehmen kann. Ma braucht ein neues Dorf, neue Container, einen neuen Helderkreis. Dieser Zug fährt täglich zu dieser Stunde, bald darauf noch einer und noch einer und immerhin hat die Polizei hier noch die Kontrolle über Menschen in einem System, das ansonsten zu existieren aufgehört hat. Im Zelt weigern sich dann einige Afrikaner, sich registrieren zu lassen. Sie sehen das nicht ein. Es wird laut, man hört es bis zum Imbiss Paradies. Englisch, italienisch, daraus schliesse ich, dass jemand wohl schon etwas länger in Italien war.

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Sie, liebe Leser, werden in diesem kommenden Winter – heute morgen lag übrigens schon Reif auf der Alm vor meiner Wohnung – noch oft hören, dass sich die Konflikte in den Lagern bei der Schuhausgabe entzünden. Das liegt, wurde mir von jemandem erklärt, der eigentlich nicht darüber reden darf, am Markenbewusstsein. Gespendet wird alles Mögliche, gewünscht werden Nike, Adidas und andere teure Schuhe. Darüber kommt es dann zu Verteilungskämpfen. Das ist aber nur der Anfang. Diese Schuhe bekommt man auch in Italien. Man wundert sich hierzulande vielleicht, wieso Massenschlägereien bei banalen Vorgängen wie der Essensausgabe oder im Kleiderlager entstehen. Die Antwort ist einfach: Es gibt eine hohe Erwartungshaltung. Die Flucht ist jetzt nicht gerade eine Schule der feinen Manieren. Die Menschen, die hier ankommen, sind durchsetzungsfreudig. Mit Höflichkeit kommt man nicht von Somalia nach Sizilien. Und man kommt legal als Flüchtling auch nicht von Sizilien nach Rosenheim, in ein Land, in dem die Kontrolle weitgehend zusammengebrochen ist. Menschen, die mehr als Nike und Adidas erwarten, die sie schon haben. Sie wollen deutlich mehr, und treffen auf ein System mit überfüllten Turnhallen, überforderten Landkreisen und einer Verwaltungsstruktur, die nicht mal mehr weiss, wie viele Menschen hier sind. Wer sie sind. Und wo sie sind. Und im Zelt wird weiter gestritten. Es wird noch etwas dauern, bis hier alle im System sind. Der nächste Zug dürfte bereits durch das Tal der Etsch auf Bozen zurollen.

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Es sind vierzig Meter vom Bahnsteig über das Imbiss Paradies zum Zelt. Das Zelt ist momentan auf Weiterleitung geschaltet. Viele können sich heute nicht vorstellen, dass es anders sein könnte, und die meisten Ankommenden, bewacht von Polizisten, zurück zum Bahnsteig gebracht werden, um nach Italien auszureisen. Das heisst nichts. Anfangs des Jahres hätte sich auch keiner gesonderte Zentren für Balkanflüchtlinge vorstellen können. Im Hinterland gibt es täglich Massenschlägereien, und sogar bei uns am Tegernsee bittet man schon Zweitwohnungsbesitzer, Flüchtlinge einzuquartieren. Es ist gerade erst Oktober. In Italien sind, eine Zugfahrkarte entfernt, hunderttausende legale und illegale Flüchtlinge, die kein Interesse haben, bei einer Verteilungslotterie innerhalb der EU zwangsweise zugewiesen zu werden. In Afrika warten Hunderttausende auf die Überfahrt auf einen Kontinent und in ein Land, in dem das Grundgesetz faktisch nicht mehr angewandt wird.

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Es gehört keine hellseherische Kraft dazu zu wissen, dass diese Krise hier, auf diesen vierzig Metern, mitentschieden wird. Hier, nur hier lässt sich verhindern, dass es wie bisher weiter geht. Momentan ist es ein Tor. Man kann es zur Sackgasse machen. Hier wird es dann enorm unschöne Szenen geben. Menschen werden gezwungen, in Züge zurück nach Italien zu steigen, und ob man sie in Italien nimmt, weiss ich auch nicht. Es ist absehbar, dass manche dabei buchstäblich auf der Strecke bleiben werden, hier in Europa, mitten im Winter. Vierzig Meter brüchiger Asphalt bis zur Rampe und zur Zwangsverladung. Wenn wir nicht weiter diese Mengen aufnehmen und nicht alle Konsequenzen in Kauf nehmen, die Untergetauchten wie die Studenten, die egoistischen Profiteure wie die Lernbegierigen, die Schlägereien wie die Danksagungen, dann wird es genau hier entschieden. Wer dann damit nicht einverstanden ist, kann natürlich gern herkommen und auf der Terrasse des Imbiss Paradieses protestieren. Ich sage nicht, dass es grundsätzlich falsch wäre, Menschen, die in den reichsten Ländern der Erde mit Nike-Schuhen versorgt wurden, bei uns zu integrieren.

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Ich bin nur alt und müde und sehe auf der anderen Seite, dass die Zukunft dieses Kontinents Viktor Orban heisst. Ich sehe all die Kräfte der Rechten, die überall erstarken, ich sehe die wirklich hässlichen Konflikte in meinem Freundeskreis, und wann immer ich den Seehofer sehe, habe ich nur Mitleid. Das ist das, was ich mir persönlich Anfangs des Jahres nicht hätte vorstellen können: Dass ich einmal Mitleid mit einem Ministerpräsidenten der CSU haben würde. Er sieht wirklich schlecht aus. Er ist damit nicht allein, die meisten, die sich hier abrackern, tragen eine schwere Last und die Angst, der Verantwortung für die Menschen nicht gerecht zu werden, während irgendwelche Medienleute in ihren Büros ideologische Kriege über Zumutbarkeiten der Willkommenskultur führen, die sie selbst nicht betreffen werden. Mich – nun, mich betrifft es auch nicht sonderlich. Niemand wird dauerhaft hier bleiben, die langfristigen Verteilungskämpfe werden nicht am Tegernsee geführt. Meine Zukunft wird nicht auf diesen 40 Metern entschieden. Ich bin privilegiert.