Ich bin erschöpft. Ich will vergessen und schweigen.
Necronomicon
Wo, fragt die rheinische Dame am Buffet in Sterzing, waren Sie gestern eigentlich so spät mit Ihrem Rad?
Auf dem Jaufenpass, sage ich. Also fast, bei 2000 Meter Höhe war es stockfinster und sehr kalt, deshalb bin ich umgekehrt, aber nachher fahre ich gleich nochmal hinauf.
Auf den Jaufenpass, fragt sie nach, und ich lächle innerlich. Ja, auf den Jaufenpass. Ich hätte mir früher auch nicht gedacht, dass es möglich ist, aber inzwischen habe ich dort oben in der Steinwüste nicht mehr das Gefühl, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Ich fliege zwar auch nicht wie ein Adler hinauf, aber ich komme lebendig oben an und habe genug Luft, um eine Torte zu bestellen. Steinwüste hin, Erschöpfung her, ohne Torte macht das keinen Spass. Ja, auf den Jaufenpass. Das Idealbild des Alpenpasses.
Und dann fragt die Dame erneut nach: In Ihrem Alter?
In meinem Alter? Ich schaue mich um. Die Frescomalereien im Saal entstanden wie die meisten Gäste noch unter Mussolini, während ich selbst aus der Epoche der angeblich weniger totalitären, aber bislang nur schlecht aufgearbeiteten Studentenunruhen stamme, deren historisch-kritischer Vergleich mit den Schwarzhemden des Duce noch aussteht. Es liegt jedenfalls eine gute Nachkriegsgeneration zwischen uns. Gestern zerfurchte ein eisig kalter Wind mein Gesicht, aber so schnell altert man nicht. Ja, natürlich mache ich das in meinem Alter. Auf dem Rokokosesselchen Tee einschenkend auf den Tod warten ist etwas langwierig. Draussen grollt der Motor des Reisebusses, der die aus den Fugen geratenen Rheinländer bequem über die Berge zurück bringen wird. Das Schwein, das als Mortadella auf eine Vorlegegabel gepiekst und dann zwischen dritten rheinischen Zähnen zermahlen wird, sah auch schon mal besser aus. Was soll das heissen, in meinem Alter?
Man muss überhaupt erst mal so in mein Alter kommen und den Mut haben, sich auf diesem schmalen Asphaltband hoch in die lebensfeindliche Bergwelt mit all den Unwägbarkeiten des Schicksals auszusetzen. Habe ich gerade gedacht, ich käme oben lebendig an? Viel zu wenig Drama. Heldenhaft gedenke ich in meinem Alter den Bergsieg zu erringen, und zwar auch noch in zwei Dekaden, wenn die Erben der anderen vor der Frage stehen, ob sie die Goldzähne einschmelzen lassen sollen. Vieles könnte ich sagen, vieles würde mir einfallen, aber ich belasse es bei einem fatalistischen „Ach wissen Sie, niemand kennt Tag und Stunde und bis dahin muss man nehmen, was man kriegen kann“ – und schöpfe mir etwas vegetarischen Jogurt in ein Schälchen. So etwas anderthalb Pfund.
Es wäre im Kontext dieses Hotels und seiner bevorzugten Gäste vielleicht nicht höflich, die Gedanken über die Endlichkeit des Daseins der Anderen explizit auszudrücken, selbst wenn man dazu herausgefordert wird – aber man muss den Realitäten ins Auge sehen: Das Konzept „Leben“, das uns so wichtig erscheint, existiert nur sehr begrenzt auf diesem Erdenrund. Dort oben, wohin mich meine Beine tragen, ist es bis auf ein paar Flechten, Bakterien und anderes Zeug, das ich im Biologieunterricht ignoriert habe, vorbei. Speziell der Mensch macht da in keinem Alter eine allzu gute Figur: Er klettert schlechter als der Steinbock, friert schneller als das Murmeltier, jedes Alpenfleckvieh steigt schneller bergauf, und wenn er dann doch mal schneller als die Schildkröte ist und sich verbremst, hat er nur Bruchteile einer Sekunde vor dem Einschlag Zeit, sich Gedanken über die Wertigkeit eines ordentlichen Panzers zu machen. Menschen, das sage ich ganz offen, halte ich für eine grandios überschätzte Nebensächlichkeit der Evolution. In meinem Alter und mit meinen Erfahrungen, deren Ursachen auch nach Monaten auf der Haut noch sichtbar sind. Da fällt mir ein; Dieses Jahr hat es mich bei den Unweisheiten des Alters – meines Alters – noch gar nicht derbröselt. Auch kein Stacheldraht kam mir in die Quere, und während ich mich dann später auf dem grauen Band durch dunkelgrüne Wälder und entlang von Abgründen hinauf in die Wolken schraube, fühle ich mich für mein Alter eigentlich ganz gut.
So ein schmales Band ist es dann auch mit dem generellen Wohlbefinden – in meinem Alter. Auf der einen Seite erheben sich die dunklen Wälder der ungewissen Zukunft, die man zu durchmessen hat, auf der anderen Seite lauert der Abgrund der früheren Fehler, die einen zu Fall bringen können. Aus dem Abgrund schreien die Hyänen von Yoga und Veganismus, dass man früher mehr hätte tun können, aus dem Wald unken die rheinländischen Mortadellaharpyen, jetzt sei aber mal langsam Zeit, etwas kürzer zu treten. Es passiert nicht nur in Mussolinis Speisesaal, sondern überall. Auf der Anreise habe ich die Arie mit Chor „un vita triplicata“ von Benedetto Marcello gehört, markerschütternd gesungen von der famosen Silvia Frigato – im Rokoko wusste man noch, wie man Menschen mit besten Wünschen für das Kommende zu bejubeln hatte. Heute sollte man in meinem Alter nicht mehr so reintreten und mehr an die Lebensversicherung denken, an die Pflege im Alter und was die grindigen Fischkepf grinsenden Fachkräfte der Werbung einem sonst noch an Sorgen, Ängsten und Befürchtungen dort unten im Tal nahelegen. Hier oben streiten dann wie wahren Elemente des Schicksals. Ab der Hälfte der Strecke regnet es, aber wenn man hoch genug fährt, hört es auch wieder auf: Denn bei 2000 Meter geht der Regen dann in Schnee über. Und kein Rheinländer weit und breit.
Ab 2000 Meter geht es dann auch ganz schnell, man will nicht eingeschneit werden, und es sind nur noch drei Spitzkehren bis zur Passhöhe auf 2094 Meter. So geht eben jeder seinen Weg, die einen mit eigener Kraft an die Grenze der bewohnbaren Welt und die andere mit dem Bus über den Brenner heim nach Deutschland. Der eine schaut hinunter nach Meran, in den Süden, nach Italien, die andere reist mit dem guten Gefühl, wenigstens eine Warnung ausgesprochen zu haben, wenn jemand schon meint, sich das antun zu müssen. In 20 Jahren wird bei einer Versicherung ein Warnlicht angehen, weil mein Körperüberwachungsgerät, das wir dann alle ab einem gewissen Alter zwangsweise tragen müssen, erst die Fahrt in den Schnee registriert, und dann die fette Torte. Es ist leider absehbar, dass ich zu einer aussterbenden Gattung gehöre, denn die Zukunft teilt mir heute schon freiwillig im Internet mit, was für Joggingwatscheleien sie im Stadtpark schlecht aussehen liess. Der Schnee verdampft schlagartig auf meinem vor Kraft und Wut pulsierendem Körper – in meinem Alter. Oben bin ich in persönlicher Rekordzeit. Trotz Pausen für Bilder, auf einem vierzig Jahre alten Rennrad mit Hakenpedalen und Ablenkung durch Phantasien von Buffet- und Rentenberechnungsborstenviechern, die zerhäckselt und in Därmen geräuchert werden.
Ich bin vollkommen anspruchslos und verlange nicht, dass ich dort oben von Silvia Frigato und einem Chor empfangen werde. Die mehr breite als hohe Tölzerin und ihr plauderfreudiger Mann, der früher Busfahrer war und weiss, was ich geleistet habe, reichen mir in der Rolle des begeisterten Lebens vollkommen. Der Tod kommt aus dem Rheinland und isst Mortadella, das Leben aus Tölz findet es toll, dass ich hier oben mit dem Rad ankomme. Der Wald und die Abgründe liegen hinter mir, drinnen gibt es für das Ehepaar Gulaschsuppe und für mich eine Himbeersahnetorte. Wie in den Wirtschaftswunderjahren der guten, alten Bundesrepublik, die vielleicht nicht perfekt war, aber einen doch weitgehend in Ruhe liess und das Leben mit einem Glas Eierlikör nahm, wie es gekommen ist.
Dann steige ich wieder auf das Rad. Es ist bitterkalt dort oben. Ich lasse die Bremse los und weiss, dass ich in zwei Dekaden eine Mail auf das Display meiner obligatorischen Life Control Enhancment Device bekäme, dass ab 70 km/h der Versicherungsschutz erlischt. Deshalb mache ich das jetzt, in meinem Alter. Es wird nicht mehr viele Möglichkeiten geben, starrköpfig und unvernünftig zu leben, die Zukunft verspricht uns eine verdreifachte Lebenszeit mit einem langsamen, vernünftigen und gesunden Tod am Ende. Darauf zwölf Spitzkehren auf über tausend Höhenmetern mit einer Bremse, die auch in meinem Alter ist. Mit Überholvorgängen auf der Innenseite. Der moderne Tod ist eine Rheinländerin mit Vorliebe für Mortadella, aber er ist nur so schnell wie ein Bus, und bergab kriegen sie mich nicht.