Mantva me genvit, Calabri rapvere, tenet nvnc Parthenope. Cecini pascva, rvra, dvces.
Das ist die Grabinschrift des römischen Dichters Vergil: “Mantua hat mich geboren, Kalabrien hat mich dahingerafft, jetzt hält mich Neapel. Besungen habe ich Weiden, Äcker und Helden.“ So etwas hätte vielleicht auch auf meinem Grab stehen können, denn ich war anderthalb Jahre in Berlin, habe monatlich ein Kilo zugenommen und wäre bald gestorben. Das war ganz einfach, ich habe meine alten, südlichen Ernährungsgewohnheiten beibehalten, die Stadt gehasst und den Sport weitgehend eingestellt. Früher, in München, bin ich im Sommer öfters mit dem Rennrad die 90 Kilometer über Weiden und Äcker heldenhaft heim zur kleinen, dummen Stadt an die Donau geradelt – nach meiner Berliner Zeit habe ich ein Jahr gebraucht, bis ich dazu wieder flüssig in der Lage war. Immerhin bin ich nicht totgefahren worden. Einem Freund einer Bekannten wurden von einem abbiegenden Laster beide Beine abgequetscht.
Ich bin nicht gerade ein zurückhaltender Radfahrer. Ich empfinde keine Furcht, wenn ich auf dem Jaufenpass oder Penserjoch langsame Autos überhole. Ich bin selbstbewusst und kenne die Risiken, ich verhalte mich entsprechend und habe genug praktische Übung im Abrollen. Natürlich sind bei uns in den Bergen die Wege voll mit Marterln für Leute, die die Risiken falsch eingeschätzt haben, und bei der l’Eroica gab es auch schon den ein oder anderen Toten. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, und ich sage mir, wenn es hier und jetzt sein muss, dann ist es zwar etwas früh, aber in schöner Landschaft und in glücklichen Momenten. Mir ist voll bewusst, dass ein 23mm schmaler Rennreifen mit 9 bar Druck nicht platzen darf, wenn ich einen Opel in einer Serpentine innen überhole. Die Sache in Berlin ist nur, dass es dort Opelfahrer gibt, die als Stärkere auf riskante Art den Schwächeren überholen, sich bei einer Beschwerde angegriffen fühlen, aussteigen, einen krankenhausreif schlagen – und dabei auch noch Unterstützung durch einen Passanten erhalten.
Es ist eine einfache Entscheidung zwischen Schmerzen: Pässe gibt es vor allem in den Bergen und prügelnde Opelfahrer vor allem in wuchernden Megaslums wie Berlin. Das war vor zehn Jahren auch nicht anders. Ich hätte bis zur ersten offenen Landschaft sieben Kilometer durch den Norden Berlins radeln müssen. Das war mir einfach zu riskant. Radwege sind für Berliner Parkplätze, Müllabladeflächen und Kinderwagenschiebezonen. Rennräder sind für den Strassenzustand auf dem Niveau von Bukarest ungeeignet. Berliner Autofahrer sind brandgefährlich, es gibt dort eine mörderische Vollgasszene und eine Polizei, die sich zu wenig darum kümmert. Und obendrein noch den Berliner Kampfradler, der sich als Antifaaufmarsch auf zwei Rädern und Artgenossen als Gegner betrachtet. Der krönende Abschluss der Genpoolreduzierung ist der wackelnde Fixiefahrer, auf der falschen Strassenseite handynierend – manche wollen auch einfach sterben.
Ich habe es jedenfalls mit einem Bergrad probiert, an manchen ruhigen Abendstunden, auf wenig befahrenen Strecken. Aber es war im besten Fall laut, hässlich, stinkend und für Lunge und Seele keine Erholung. Ich bin ebenso genervt abgestiegen, wie ich in Berlin öffentliche Verkehrsmittel verlassen habe. Ich bin im Kiez viel zu Fuss gegangen, und war ansonsten froh, mich von der Stadt mit dem Blech des Automobils abgrenzen zu können. Fortbewegung ist dort eine Form der Isolation, der Ignoranz und der Risikoanalyse. Der andere ist potenziell gefährlich, man ist immer geneigt, ihm einen Fahrfehler oder schlimmes Verhalten zu unterstellen.
Auch in Staggia halten dauernd Leute bei mir an. Aber niemand tut das, um mir auf den Mund zu hauen. Wenn ich am Selbstauslöser der Kamera justiere, vermuten sie einen Defekt oder einen Sturz und fragen, ob sie helfen können. Wenn ich mein Rad vor der Bäckerei stehen lasse, lerne ich nach dem Einkauf Leute kennen, die sich über das Rad unterhalten. Wenn ich eine alte Villa ablichte, schauen Joggerinnen, was ich da mache, und erzählen mir, was sie über das Haus und seine Besitzer wissen, und dass das ein wirklich schöner Ort wäre. Auf den schmalen Strassen rast niemand. Ich werde behutsam überholt. Man behandelt mich gut und menschlich und respektvoll. Ahhhh. L’Eroica, sagen einige, die den Zweck meines Aufenthaltes kennen.
Es gibt da über kleine Orte wie jene, in denen ich lebe, eine interessante Architekturtheorie. Sie sind mit geringen Mitteln in der Lage, grandiose urbane Räume zu schaffen, die dann die Gemeinschaft formen. Diese Räume fehlen den grossen Nachkriegsstädten, weil man zugunsten des Verkehrs darauf verzichtet hat, sie für Menschen frei zu halten. Die kleinen Orte haben dagegen einen Raum, um ungestört soziale Beziehungen auf kleinstem Niveau zu erlernen und zu fördern: Bankerlsitzen für die Alten, Flanieren für die Jungen, Spielen für die Kinder. Ohne Kosten in einem Cafe, ohne Zwang, einfach so. Dann ergibt sich das Zusammengehörigkeitsgefühl ganz von allein, man praktiziert es schliesslich dauernd. Alles fügt sich, jeder findet auf seine Weise einen Platz. Und wenn die Gesellschaft nur offen genug ist, ist da auch genug Raum für Unterschiede und Akzeptanz – eine ganze Reihe führender Stadtstaaten der Renaissance sind auf diese Art und Weise entstanden. Aber dafür braucht man auch den Raum, und deshalb reagierten diese frühen Bürgerstädte immer sehr allergisch, wenn jemand versuchte, in öffentliche Plätze einzugreifen. Man wusste damals um die Bedeutung dieser Freiräume.
In Italien wirft man überall den Autoverkehr aus den Innenstädten, mach eine Zona Traffico Limitato, und sofort wächst wieder das schöne Leben und der freundliche Umgang. Es ist eine radikale Lösung, aber sie bringt auch radikal gute Ergebnisse, weil der Freiraum die Menschen mehr als das Automobil anzieht. Ganz gerecht ist das natürlich nicht, denn von so einer Zona profitieren vor allem die Menschen mit Zeit. Man kann nicht alle retten, aber mit vielen gut auskommen. Hier sind alle freundlich, aber in Berlin schlägt ein Opelfahrer einen Linkenpolitiker und noch einer mischt sich ein. Das ist nicht einfach nur eine Lokalnachricht. Es ist eine kulturelle Kluft, und sie hat meines Erachtens viel mit Isolation zu tun. Isolierte Menschen tun so etwas. Clans, das erlebt man – bisher – in Afghanistan, können auch übel isolieren und steinigen, da geht dann der Zusammenhalt in eine falsche Richtung. Aber ich gleite hier mit dem Rad durch Wolken des Wohlwollens. In Berlin wäre ich schwacher Kämpfer in einem Verteilungskrieg um die Strasse.
Dortselbst will man nun mit basisdemokratischen Methoden erreichen, dass Radfahrer mehr Raum auf den Strassen bekommen. Die Idee an sich ist lobenswert, aber eingedenk der Mentalität diverser Autofahrer, Kampfradler und Autoanzünder so hilflos, als würde die UN bei Steinigungen in Afghanistan mehr Abstand für die Opfer fordern. Schutzzonen, das hat man schmerzhaft im zerfallenden Jugoslawien erkennen müssen, sind nur so gut wie die Durchsetzung des Schutzes. Wie viele Apache-Kampfhubschrauber hat die Polizei bei uns, und was sagen die Grünen in Kreuzberg zu Uranmunition? Der zerrissene Asphalt der Gassen kleiner italienischer Orte ist nicht viel besser als Berliner Prachtboulevards – der Zustand der Infrastruktur ist nicht das entscheidende Kriterium. Es geht um die Mentalität der Bewohner, um das soziale Bewusstsein, das definiert, wie sich Verkehr abspielt. Sieht man sich als Gemeinwesen, ist Verkehr kein Problem. Hat man einen Verkehr wie in Berlin, gibt es offensichtlich uneingestandene Probleme im Miteinander der Kulturen und Klassen. Amazon setzt eins drauf und will die Stadt mit Lieferung innerhalb einer Stunde noch mehr mit Kurieren belasten: Wer zahlt, schafft an, wen der nächste Lieferwagen überrollen wird. Da rettet einen auch kein Fahrradalltag-Hashtag.
Manche glauben an den langsamen Wandel, aber ich glaubte an mein schönes Leben. Ich war vor 10 Jahren schon nicht mehr ganz jung und sah meine persönliche Zukunft nicht als Laborratte eines verkehrspolitischen Asozialexperiments. Ich zog heim gen Süden und lebte dort auf, wo Vergil geboren wurde, und weder Neapel noch seine vorsibirische Partnerstadt könnten mich halten. Es gibt einfach Failed Cities und gescheiterte Stadtgesellschaften, und das Berliner Argument, dass es in Mogadischu noch schlimmer sei, will ich nicht bestreiten: Ich lasse als toleranter Mensch anderen gern ihre Meinung. Wo ich bin, haben ganze Kommunen die Kraft, sich gemeinschaftlich zur Citta Slow zu entwickeln. Dort gibt es dann innerhalb der urbanen Mobilität einfach keine gewalttätigen Übergriffe auf andere. Man geht von den Menschen aus und verändert die Menschen.
So wie in Berlin. Nur im Guten.