Denken ist eine Anstrengung, Glauben ein Komfort.
Ludwig Marcuse
Du kannst sie doch nicht da oben schlafen lassen, sagten meine Eltern, wenn ich Besuch von mehr als einer Person hatte. “Da oben“ ist meine alte, erste Wohnung in der Altstadt, und sie ist alles andere als gross: Knapp 27m², und man wundert sich, wie dort 3.000 Bücher, eine kleine Küche, ein Doppelbett und ein enges Bad Platz haben. Die Erklärung ist einfach: Gute Raumaufteilung und ein luftiger Blick hoch über der Stadt, der sie hell macht. Meine Eltern jedenfalls fanden, dass ich, wenn ich mehr als einen Gast habe, ihnen als vobildlicher Gastgeber doch die grosse Wohung überlassen und in die kleine Stube im Dach gehen sollte. Alles andere wäre peinlich. So winzig! Das geht doch nicht.
Es ist die Sicht von Menschen gewesen, die wenig für das Leben in der Altstadt übrig hatten. Die Altstadt war bis in die 50er Jahre fast alles, was es an Stadt gab, und danach, in der Epoche der Neubauten und Blocks extrem unbeliebt. Dass wir das alte Haus noch haben, lag an der Beharrlichkeit meiner Grossmutter und am Umstand, dass ich bei der erstbesten Gelegenheit so eine Art familieninternes Rigaer94 gemacht habe: Kaum hatte ein Sachverständiger gesagt, dass die Wohnung im Dachstuhl wegen der Treppe hinauf umfangreich umgebaut werden müsste, was aber wegen des Denkmalschutzes nicht ginge, weshalb sie unvermietbar sei – schon hatte ich den ersten Kronleuchter, dem inzwischen Dutzende im ganzen Haus folgten, an die Decke gemacht. Ich formte Stuck und Bücherregale selbst, ich schliff alte Balken ab, und kehrte zurück in “de oide Kaluppn“, die der Familie nunmehr weit über 150 Jahre Schutz und Heimat war.
Das war vor einem Viertel Jahrhundert. Damals galt ich als erstaunlicher Exot, andere Familien verkauften gerade noch ihre Altstadthäuser. Heute ist die Stadt trotz Hitze rappelvoll, denn es ist Tag des offenen Denkmals, und Horden ziehen durch herunter gekommene Bruchbuden aus Mittelalter und Barock, die allen höchst begehrlich erscheinen. Es winkt Denkmal-AFA beim Steuersparen, und die ideale Wohnlage in einer dummen, kleinen Stadt an der Donau, deren Reichtum seinesgleichen sucht. Altstadtvermieter ist inzwischen wieder ein Bombengeschäft, sofern man so ein Haus hat, und entsprechend wird hier saniert, was noch zu sanieren ist.
Es ist ganz leicht, die Anzahl der verfügbaren Wohnungen stagniert, die Anzahl der Zugezogenen, die vom Reichtum angelockt werden, steigt. Und deshalb werden nicht nur die grossen Häuser der Patrizier renoviert, sondern auch alte, schlechte Stadtbauernhäuser, in denen bis vor ein paar Jahren noch Migranten aus Bosnien Parolen an den Wänden hinterliessen.
Wirklich schäbige Bruchbuden, mit abgetretenen Treppen, maroden Dächern und Decken so niedrig, dass man keinen Kronleuchter aufhängen kann. Vielleicht, so hoffen Käufer, kann man die alten Dielen unter dem Linoleum noch retten. Vielleicht finden die Mieter alte Dachkammern romantisch. Vielleicht sind ihnen die Nachteile egal. Es ist gut möglich, denn der Blick auf Hausmauern, die nur einen halben Meter entfernt sind, schockieren heute längst keinen mehr.
Es kommen Junge und Alte, es kommen Geldige und nicht ganz so Vermögende, es kommen andere Besitzer und solche, die es gern wären. Es ist etwas Stolz auf die eigene, schöne Heimat dabei, auch wenn nicht jeder Speicher wirklich schön ist. Es ist manchmal auch die Überlegung dabei, wie es sein wird, wenn man alt ist und draussen vor der Stadt in einem zu grossen Haus lebt, und nicht alles, wie in der Stadt, ohne Auto erledigen kann. Man stöhnt nicht mehr über die Restaurierungskosten, sondern über die Geldentwertung.
Man plaudert. Man plant. Man überlegt. Man hört, dass es so gut wie unmöglich ist, ein altes Haus in der Stadt zu kaufen. Man arbeitet heute Türen und Fenster wieder auf. Man hat verstanden, dass Menschen auch gewisse Nachteile des Altbaus in Kauf nehmen, wenn sie die Vorteile geniessen können. Man hat keine echte Konkurrenz. Neubau verheisst schon lang kein Prestige mehr. Auch wenn nun schlaue Leute kommen und denen, die kein altes Haus haben, ein anderes Angebot machen. Comfortapartments. Bis 28m². 194 Stück.
Das ist aus der Tagespresse. Dort wirbt ein Konsortium um Investoren, die Neubaulöcher, so würde der Patrizier sagen, für teures Geld an Investoren verkaufen. In der Altstadt sieht man die enge, aber gleichzeitig praktisch gelegene Wohnsituation vergangener Zeiten: Die Moderne bietet mit der “Comfortwohnung“ auch nicht mehr Platz, aber dafür den Blick aus Ausfallstrassen, eine Eisenbahnlinie und andere trostlose Investitionsobjekte, mit denen die Familie K. diese Ecke der Stadt früher verschandelte. Zum Glück ist das weit draussen. Da, wo niemand wohnen will. Ausser denen, die keine Alternative haben.
Ich finde das schrecklich. Meine kleine Dachwohnung war nur eine Wochenendbleibe, denn ich lebte damals in München. Die Comfortapartments sind dagegen als dauerhafter Lebensraum ernst gemeint. Sie sind nur scheinbar im Widerspruch zu den steten Wünschen nach mehr Wohnfläche, der den Deutschen nachgesagt wird: In Wirklichkeit sagt der Durchschnitt gar nichts, denn auf jeden von meiner Art kommen 7 andere, deren Wohnraum wir statistisch von 45m² auf 30 verkleinern (und da rechne ich Zweitwohnsitze nicht mit). Ich kenne eigentlich nur so Leute wie mich: Das heisst, dass viele nicht mehr Platz als solche Comfortapartments haben. Bitter. Aber so ist das in der Single- und Dienstleistungsgesellschaft. Hart arbeiten, hart zusammenrücken. Aber eben draussen vor der Stadt.
Man baut solche Waben nicht so, wie ich das bei meiner Gästewohnung gemacht habe, weil es gerade ging – man macht das da draussen mit Bedarfsanalysen und Einrechnung der zukünftigen Entwicklung. Man bietet das nicht zufälligerweise jenen an, die Geld haben: Sie wissen, es gibt die Besitzenden und diejenigen, die zwangsweise mit dem Raum auskommen müssen. Es ist, im Gegensatz zur Altstadt, alles durchdacht und geplant. Es muss eben reichen. Mehr ist nicht da, für jene, die dort einziehen.
Und noch etwas. Es gibt eine App. Die Wohnanlage hat eine App, mit der man sie verwalten kann. Der Mieter wird dadurch zu einer Funktion auf dem Mobiltelefon.
Ich habe heute, wie immer, viel Dreck gesehen. So ist das nun mal, wenn Häuser abgewohnt sind, und restauriert werden müssen. In einem Raum kamen 170 Farbschichten hervor, aufgetragen in 550 Jahren. Das sind Spuren des Lebens. Aber dieses neue Objekt da draussen hat eine Verwaltung und eine App und einen Rundumservice für den Besitzer und einen, der je nach Finanzkraft Comfort oder Comfort L/XL bewohnen darf.
Hin und wieder mache ich hier Witze darüber, dass die Leibeigenschaft besser als ihr Ruf war, und der aufgeklärte Absolutismus weder Merkel noch AfD zugelassen hätte, und darüber sollte man auch mal nachdenken. Ist es so viel besser, Verwaltungsgegenstand einer App zu sein? Es heisst nicht “Sklaverei“. Andere Städte haben auch 21m² zu bieten. Es ist die Zukunft des Wohnens, die man überall bekommen wird. Genau diesen Comfort. Solange man es sich leisten kann.
Jedenfalls, das, was meinen Eltern für Gäste als unzumutbar hielten, ist jetzt Mittelklasse-Comfort. Die Villen, die man früher einfach so baute, können sich viele nicht mehr leisten. Die Claims in der Altstadt sind verteilt. Die einen sind drin und die anderen draussen, hinter der App.
Und einmal im Jahr geht man in alte Häuser und schaut sich an, wie es früher war, und wie das Leben sein wird, das die meisten sich nicht mehr werden leisten können. Wir leben in einer Welt, in der der Comfort bei 21m² beginnt. Das hätten sich meine Eltern nicht träumen lassen, als sie meinten, so eine Dachkammer, das ginge allenfalls für das Wochenende. Eventuell, wenn ich das so deutlich sagen darf, erscheint die Entwicklung dieser Gesellschaft weitaus weniger vorteilhaft, als man vielleicht glauben möchte, wenn man durch längst vergangene, mittelalterliche und überwunden geglaubte Bausubstanz streift. Politiker versprechen Ihnen mehr Wohnungen. Aber keine Villen und Paläste.
Denken Sie mal drüber nach.