Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Passo Continuo: Sportpolitik ist Lustmordpolitik

Wie’s die Bücher überprüft ham, ham’s glei gmerkt die Schwindelei,
Und zum Franz und mir ham’s gsagt, Ja, des war aner von euch zwei
Georg Kreisler, Der gute, alte Franz

Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Die einen sind unten und die anderen sind auf dem Gipfel. In meinem normalen Dasein gehöre ich zu jenen auf dem Gipfel, nur ist der Gipfel am vergangenen sonnigen Septembertag das Pfitscher Joch auf 2248 Meter Höhe, und wenn ich nicht oben erfrieren oder die Schutzhütte aufsuchen will, muss ich da runter, wo längst kein Sonnenlicht mehr hinab fällt. Kurz, ich stehe im Begriff, ohne ausreichende Beleuchtung reichlich schnell 1300 Höhenmeter nach Sterzing zu brennen. Sterzing ist da ganz unten und hinten.

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Manche werden jetzt behaupten, das sei gefährlich, aber das ist, wie anderes, auf das wir noch zu sprechen kommen werden, ein gefährlicher Trugschluss: Die wenigsten sterben bei der Abfahrt von unbeleuchteten Pässen in der Gebirgsfinsternis. Die meisten Deutschen sterben, statistisch gesehen, im Altersheim, in der Geriatrie und in der Intensivstation. Das sind nachweislich die lebensgefährlichsten Orte der deutschen Gegenwart, und wer dort erst einmal eintritt, hat wirklich schlechte Überlebenschancen. Die Mortalität am Berg ist dagegen überschaubar und ausserdem, wenn man in finsterer Nacht eine Serpentine übersieht – Hoppla! – dann merkt man es gar nicht so. Jedem klar denkenden Menschen müsste also bewusst sein, dass ich hier auf der Rüttelpiste und nachher auf der dunklen Strasse sehr viel sicherer als an Orten bin, von denen uns eine heimtückische Krankenhausindustrie einredet, sie seien der Gesundheit und dem Wohlergehen verpflichtet.

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Antizyklisch denke ich dann auch im Schwarzen Adler, denn dort habe ich zum ersten Mal seit dem Beginn meiner kürzesten und doch sehr langen Reise etwas Zeit, das Internet zu frequentieren. Normalerweise, so hat man das den Menschen vom Turnvater Jahn über Leni Riefenstahl bis zu den Staatsdopingprogrammen in Ost und West eingeredet, sollte man Sportler sehen, sie ehren, und ihrem Vorbild nacheifern. Mir geht es da ganz anders, denn wann immer ich so ein Steroidmonster, einen Epofresser, einen Eigenblutjunkie oder andere Apotheken und Entsagungsirre in Bewegung sehe, bekomme ich Hunger und könnte essen, bis ich platze. Profisportler sehen ist für mich eine der ungesündesten Beschäftigungen, die ich mir vorstellen kann: Ich bekomme miese Laune, und ihr faschistoider Motivationssprech aus ehrgeizzerfressenen Restseelen lässt mich von einem Bad in Zwetschgendatschi träumen. Wenn ich ehrlich bin, gibt es auf diesem Erdenrund wenig, was ich mehr als Berufsleistungssportler meide.

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Das sind für mich Demotivationsmonster, denn ich werde nie auch nur ansatzweise so weit kommen. Ich bin eher unsportlich. Ich war für den Bund untauglich. Ich habe Heuschnupfen. Ich war vom Sport befreit. 100 Meter laufen, und ich war platt. Wenn ich meinen Körper auf einen Pass schleppe, den sie leichtfüssig überwinden, dann ist das für mich sehr viel. Ich habe mir das hart erarbeitet. Ich brauche keinen dürren Spargel, der mir als abschliessenden Tritt noch in die Ernährung hinein pfuscht. Ich mache das Internet auf, sehe den Franz Beckenbauer, mache das Internet sofort wieder zu und gehe noch schnell zur Sport Pizzeria, um die Schlutzkrapfen im Magen unter einem öligen Fettbetondeckel einer Quattro Formaggi zu begraben. Dann schlafe ich ein.

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Erst am nächsten Morgen begreife ich dann, warum der Beckenbauer da zu sehen war: Hat sich der Beckenbauer Franz doch von einem halbstaatlichen Wettanbieter sein Ehrenamt mit ein paar Millionen vergüten lassen, um das sog “Sommermärchen“, das meine Heimatstadt in eine grölende Säuferzone verwandelte, zur Zufriedenheit der Partner durchzuführen. Ich erinnere mich da sehr gut an eine Kanzlerin, die in etwa so sportlich wie ein Ziegelste jubelnd für die Kameras aufsprang. Ich erinnere mich an eine eventbegleitende Medienkampagne, in der die Nazis nicht vorkamen, die vor meinem Haus “Wir sind keine Fussballfans, wir sind deutsche Hooligans, wir haben Euch was mitgebracht, Hass, Hass, Hass“ und anderes gebrüllt haben. Jetzt also, 11 Jahre später, wird der ganze Moloch endlich von seiner Geschichte eingeholt.

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Welche Wonne, welche Lust, herrscht nunmehr in meiner Brust. Und weil ich das ganze Frühstück – 2 Vintschgerl, 4 Semmeln, ein Eimer Jogurt, 2 Stück Apfelstrudel, 2 Stück Torte, 2 harte Eier, ein gefühltes Pfund Käse, Obstsalat, alle Säfte, Milch, Butter, Bananen – beinahe beim Lachen über Beckenbauer und den DFB und seine mit drin hängenden Hilfspolitiker und die Kahanestiftung, die sich auch über den DFB Geld geben lässt, über dem Bildschirm verteilt hätte, fahre ich nicht gleich heim. Ich stelle mein Gepäck im Hotel unter und nehme den Jaufenpass in Angriff, bevor ich diese Transalp mit dem Brenner wieder auf Nordkurs bringe. Gestern war ich mir noch unsicher, was ich nach den Strapazen am Pfitscher Joch tun würde, heute weiss ich es: Da oben auf 2094 Meter gibt wahre Tortengebirge.

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Denn natürlich gibt es Menschen, die etwas für unser Land tun. Jede Pflegekraft, jede Kindergärtnerin, jede Ärztin im Praktikum, jeder Müllmann und auch der ein oder andere Schriftsteller tut etwas für dieses Land, ohne dass deshalb ein Wettanbieter, der von der Spielsucht der Leute profitiert, einen generösen Vertrag anbieten würde. Die Geschäfte auf Gegenseitigkeit mit dreckigen Diktaturen, die sportlich unterlegte Mediengrossereignisse über den Erdkreis verschachern, tun herzlich wenig für unser Land. Wenn ich versuche, gesund und trainiert zu bleiben, ist das dem Staat genauso egal, wie wenn ich jeden Tag drei Schachteln rauchen und danach eine Flasche Wodka trinken würde. Ich beklage mich nicht. Ich mache das für mich selbst. So wie alle anderen auch und besonders dann, wenn sie dafür ökonomische Vorteile für sich sehen. Dann wird getan, was nötig ist, um den Erfolg zu sichern, egal ob in den Hinterzimmern der Spritzenpfuscher oder der Sportfunktionäre.

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Vielleicht bin ich diesmal besonders schnell, weil ich kein Gepäck dabei habe. Vielleicht liegt es aber auch an der Befriedigung, dass zumindest ganz kurz, bevor wieder willige Helfer in Politik und Medien zu ihren Idolen und Apparatschiks dahinter stehen, einen Tag lang das Licht auf diese dunklen Geheimnisse solcher Verbände fällt. Verbände, die, würden sie mit Wurstwaren oder Eisenbahnschienen statt mit politisch gewünschten Emotionen handeln, nicht jahrelang von einem Skandal zum nächsten stolpern dürften, bis dann endlich amerikanische Behörden anfingen, das aufzudecken, was andere erkennbar eher nicht so gerne taten. Das hat Folgen. Formel 1, Tour de France, Fussball-EM, Olympia: Der Funke der Begeisterung will längst nicht mehr leicht auf die Massen überspringen. Die Begeisterung ist da, als ich mich mit zwei anderen alten Männern zusammentue und durch die Serpentinen nach oben in die Bergwälder schraube, 1520, 1610, 1722 Meter über dem Meeresspiegel.

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Es ist ein phantastischer Spätsommertag. Nicht zu warm, nicht zu kalt, sonnig mit ein paar pittoresken Wolken an einem Himmel, so blau wie auf einem Rokokogemälde. Es kommt ein leicht kühler Wind aus den Bergen, die Beine fühlen sich gut an, saftig und flink, die Kurven tauchen auf, nähern sich und verschwinden wieder. Heute ist die Welt ein klein wenig gerechter als sonst und hier oben noch etwas schöner, als man sich das unten vorstellen kann. Früher, als Kind, war der Sommer vorbei, wenn die grossen Ferien vorbei waren. Hier oben könnte man glauben, im ewigen Bergsommer angekommen zu sein.

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Es ist die Stunde der langsamen Dilettanten und lahmen Amateure. Alles ist im Lot. Mein Weg nach Sterzing war hart und anstrengend, ich habe unterwegs viele Fehler gemacht und mich grandios überschätzt. Ich sollte nun die Gelegenheit nutzen und aus meinen Defiziten lernen. Ein Besinnungsaufsatz über das rechtzeitige Aufbrechen und die gewissenhafte Planung wäre angemessen, aber wem hier oben die Sonne lacht, der ist letztlich doch auf der richtigen Seite.

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Oben steht eine Japanerin wie aus Porzellan mit weiten, leicht durchsichtigen Kleidern, mondänem Strohhut und riesiger Sonnenbrille, um die Taille herum in etwa so breit wie mein Handgelenk. Sie ist mit dem Bus aus Meran gekommen und applaudiert, während ich mich die letzten Meter an ihr vorbei wuchte. Arigato gozaimasu, bedanke ich mich mit dem Restjapanisch, das ich einer früheren Mieterin verdanke. Solange mir das nach 1150 Höhenmetern verbeugend noch über die Lippen geht, bin ich sportlich genug

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für die letzte grosse Herausforderung am Berg für einen echten Mann: Die Früchtesahnetorte.

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Dann geht es hinunter nach Sterzing. Ich habe diesmal eine Kamera am Unterrohr befestigt und möchte dazu zwei Dinge sagen: 1. bin ich normalerweise 3 Minuten schneller unten, ich bin also recht langsam gefahren. 2. Versuchen Sie das nicht daheim auf der Kellertreppe.

In Sterzing kommen von der anderen Seite, über den Brenner, zwei Deutsche an, die mit dem Rad nach Venedig wollen. Ich empfehle ihnen mein Hotel, denn das Frühstück ist wirklich vorzüglich und unter Transalp-Veteranen berühmt. Sie sind in Lenggries losgefahren und haben den Fehler gemacht, den dort alle Anfänger machen: Sie haben in Innsbruck übernachtet und haben den steilen, alle Kraft kostenden Anstieg hoch nach Patsch erst am nächsten Morgen in Angriff genommen. Der raubt einem alle Kraft, und deshalb ist man in Sterzing oft völlig am Ende. Sie wollen trotzdem über das Grödner Tal und Cortina weiter: Wahrer Sportsgeist. Da haben sie einiges auf sich genommen. Aber nichts ist so schlimm wie das, was mir nun droht:

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Der Heimweg. Keine viertel Stunde den Brenner hoch, und Sterzing ist nur noch eine idyllische Miniatur in einer grandiosen Landschaft. Zwei Tage kämpfte ich mich ab, um hierher zu kommen, dann fahre ich wieder heim. Beckenbauer, der DFB, die Kanzlerin, ich: wir machen Fehler. Aber ich erkenne sie wenigstens und gebe es zu. Das passiert mir nie wieder. Nächstes Jahr, wenn es wieder wärmer wird, bleibe ich länger, und flechte weitere Pässe, Schlutzkrapfen, alte, weisse Männer und Japanerinnen in meine Reise ein. Ganz langsam, ganz entspannt. Nie mehr als 2000 Höhenmeter und 100 Kilometer an einem Tag.

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Dann komme ich auch meist noch vor der Dunkelheit an meinen Zielen an. Überraschend leichtfüssig überschreite ich die von willkommenskulturell bedingten Polizisten gesäumte Grenze, auch bekannt als das freundliche Gesicht der Kanzlerin in der Ausgabe von 2016. Ich durcheile die Ellbögenstrecke zwischen Pfons und Patsch, und der Grünwalder Hof bietet heute die erste herbstliche Kürbiscremesuppe an. Dann noch Schlutzkrapfen und Butter drüber, und ich versinke im Bett, vergesse den Beckenbauer, den DFB, ihre Geschäfterl mit den Freunderln, und schlafe den Schlaf der gerechten Pilger im Namen des Wohlbefindens, die noch lange dem lebensgefährlichen Krankenbett der Mörderintensivstationen zu entgehen gedenken.