Vieles wollen – nichts verlangen – alles bekommen.
Es beginnt mit Schmerzen im verlängerten Rücken. Nach 5 Kilometern hinauf zum Castell Brolio stellt sich ein ungutes Gefühl ein, das auf Dauer nicht zu ignorieren ist.
Es ist, als habe sich eine Frauenministerin dort breitgemacht und beklage Sexismus. So etwas schmerzt normalerweise im Kopf, denn wenn Genderaktivistin Gina-Manuela-Lisa Schwesig einen Aufstand gegen den Sexismus fordert, ist das so, als würde der Verband der Wodkaindustrie einen Aufstand gegen Rotwein verlangen. Sehr guter Rotwein wird hier oben in den Hochlagen des Chianti angebaut, aber der Sattel passt zu meinem Sitzmuskel wie ein Seeigel. Ich fahre von hier aus mit diesem Rad vielleicht morgen 140 Kilometer über Stock und viele Steine – ich brauche einen Sattel, der wie die junge Kahane zur Stasi passt.
Also rolle ich zurück nach Gaiole in Chianti, das dieses Wochenende dank der L’Eroica die Welthauptstadt der Freunde von geplatzten Reifen, Rost und ruppigen Wegen ist. Einmal im Jahr stürmen Tausende dieses malerische Dorf, um dort keine seltsamen Spinner mit einem abseitigen Freizeitvergnügen zu sein, sondern Teil einer weltumspannenden Bewegung, die schon durch ihr Äusseres zeigt, wie wenig sie zur Gegenwart gehören möchte.
Es geht hier grob gesagt darum, mit alten, verkehrsunsicheren Rennrädern Schotterpisten und Berge zu bezwingen, die diesem Ansinnen diametral entgegen stehen. Es ist ein wenig wie Bloggen gegen die Meinungsunfreiheitkampagne der deutschen Regierung oder Ermitteln gegen den Finanzsumpf der Deutschen Bank, aber es ist in schöner Landschaft, es machen viele, und nachher glaubt man, es hätte gar nicht so weh getan, wie es tatsächlich geschmerzt hat. Dazu muss man aber erst einmal über die Naturgewalten und die eigene Schwäche siegen, und das geht nur, wenn der Sattel passt. Ich brauche einen anderen Sattel.
Nun gibt es an diesem Wochenende vermutlich keinen Wunsch, den der Freund von alten Rädern nicht erfüllt bekommt. Es gibt Mechaniker, die alte Schrottmühlen wieder bereit für den Einsatz machen. Es gibt einen Markt, in dem auch das Abseitigste zu bekommen ist. Es gibt mehrere Geldautomaten im Ort, die man besser früher besucht – denn ein Limit für Einkäufe hat hier jeder, und jeder hält sich daran wie der Bundesnachrichtendienst an die Gesetze. Es gibt die allgemeine Überzeugung, dass man hier besser auf Vorrat kauft, wo es im Überfluss vorhanden ist, als teuer zu bezahlen, wenn es später tatsächlich gebraucht wird, aber nur schwer zu beschaffen ist.
Kurz, es gibt tausende von Ausreden und alle sind sie gut. Was es nicht gibt, ist ein passender Sattel. Ich hätte gern einen Brooks B17. Aber alle Sättel, die ich in die Hand nehme, sind entweder zu teuer. Oder zu hart. Oder zu alt. Oder zu breit. Oder ramponiert. Oder farblich unpassend. Oder verbogen. Oder eben nicht von Brooks. So muss man sich fühlen, wenn man im Rettungsboot auf dem Meer kein Trinkwasser bekommt. Es gibt alles im Überfluss. Aber nicht das, was ich dringend brauche. So sehr ich auch suche und in der zweiten und dritten Reihe schaue, in verstaubten Kisten wühle und – oh. Ein Patelli Super Corsa in Weiss und Rosa.
Als ich jung war und nichts hatte ausser einer Wohnung in Münchens bester Lage, ein Auto und eine Apanage, die für eine 4-Tage-Feierwoche gerade so ausreichte, wenn ich beim 3-Tage-Wochenstudieren nicht zu sehr über die Stränge schlug, gab es in Sendling einen kleinen, aber sehr feinen Radladen namens Baldi. Der Besitzer war damals, in der Zeit vor dem Internet, in der Lage, alle italophilen Wünsche zu erfüllen. Man konnte zu ihm gehen und sagen: Ich möchte ein Rad in dieser und jener Grösse mit folgender Ausstattung, weiss soll es sein wie der Testarossa von Sonny Crockett und rosa wie ein Hemd von Ricardo Tubbs. Dann rief Signor Baldi bei Signor Patelli in Bologna an, und vier Wochen später hielt man sein Wunschrad in Händen. Wenn man Zahnarzt war und vor dem Cafe eine sportlichere Figur abgeben wollte, als man eigentlich hatte. Super Corsa! Das war schon eine Ansage. Und ein Grund zum Neid bei den Jüngeren, die sich kein Rad bestellen konnten.
Aber die Älteren werden alt und können irgendwann nicht mehr, und die Jüngeren rücken an ihre Plätze. Es gibt welche, die die früheren Generationen mit unerbittlichem Hass verfolgen, und der Welt ihren eigenen Stempel aufdrücken wollen. Es gibt welche, die sind nicht progressiv, sondern einfach nur voller Hass auf das, was ihnen nicht alles gibt, was sie für richtig und angemessen halten. Es gibt welche, die Chancen und Belohnungen tatsächlich bekommen, und das nicht achten, weil sie denken, das sei ja wohl das Mindeste, was man erwarten könnte. Es gibt welche, die keine Dankbarkeit für Privilegien zeigen, sich schlecht benehmen und mokieren, wenn sie die Privilegien verlieren. Sie sagen nicht, dass sie einen falschen Sattel montiert haben. Sie glauben, die Welt hätte die Pflicht, ihnen den besten Sattel unter den Hintern zu schieben. Sozialismus ist für sie, genau das zu fordern und die Leute draussen vor Kreuzberg zu hassen, die wirklich benachteiligt sind und das Falsche ganz ohne fünfzackige Sterne wählen.
Ich habe den falschen Sattel montiert und stehe jetzt vor einem Patelli Super Corsa der Miami Vice Ära. Der Zustand könnte besser sein, es ist eine Menge Arbeit damit verbunden, und ich könnte nun weiter Sättel suchen und Verkäufer anraunzen, weil ihr Angebot nicht meinen Wünschen entspricht. Aber ich bin kein Sozialist, der die Welt so haben will, dass sie zu seinen egomanen Zielen passen muss. Ich bin privilegiert, und wenn neue Privilegien des Wegs kommen, sollte man nicht lange fragen und zugreifen. Der falsche Sattel war ein neuer Schmerz, aber das nie gekaufte Patelli schmerzte schon vor einem Viertel Jahrhundert – da muss man eben Prioritäten setzen. Man kann nicht gleichzeitig mit dem Rad fahren und in der Sonne sitzen. Eins nach dem anderen.
Erst das Patelli. Dann der Sattel. Das ist der Super Corsa meines Lebens. Manchmal eilt man dahin, manchmal muss man schieben, es hängt von den eigenen Beinen ab, von der Schwäche des Fleisches und der Stärke des Geistes und gar nicht mal immer vom Vermögen der Vorfahren. Das hilft einem nämlich auch nicht über den Berg, auch wenn Nichtsnutze, die einem die Privilegien checken, ohne dass man sie darum gebeten hätte, etwas anderes behaupten.
Vieles ist einfach Zufall. Ich suchte einen Sattel und fand einen Rahmen, gestern schien die Sonne und heute Nacht begann der Regen, der immer noch herunterprasselt, während ich das hier schreibe. Es ist kurz vor fünf Uhr, bald breche ich auf und weiss nicht, welchen Corsa ist super oder weniger super, sondern nass und dreckig befahren werde. Vielleicht fahre ich in einer Stunde in ein Unwetter, vielleicht rolle ich um 10 Uhr mit jungen Damen in Sommerkleidern durch eine bukolische Landschaft. Man muss nehmen, was man kriegen kann.
Fahren. Geniessen. Ankommen. Glücklich sein. Das sind genug Privilegien für so einen – hoffentlich nicht verregneten – Tag in der Toskana. Oh, und einen Brooks fand ich dann doch noch. In meinem Gepäck. Ich habe ihn mitgenommen und das vergessen, als ich auf den Merkt ging, um den Patelli zu finden.
So kann es gehen, auf dem Super Corsa.