When his troubles will begin will be when by any chance something goes wrong with the governing machine.
Meine Lieblingsbeschreibung des Deutschen an sich ist über 100 Jahre alt: In seinem Reisebuch “Three Men on the Bummel”, das eine Radfahrt dreier Briten durch das damalige deutsche Kaiserreich ironisch und liebevoll beschreibt, wird der Autor gegn Ende hin noch einmal ernst und sagt, wie er die Deutschen sieht: Romantisch, fleißig, aufrichtig, selbstlos und diszipliniert. Ein wunderbares Volk, um in ihm von Hamburg in den Schwarzwald zu gelangen und sicher zu sein. Aber er schreibt auch, dass diese – heute würden wir sagen, Sekundärtugenden – in der Übertreibung als Pedantierie, Heroismus und Kadavergehorsam gefährlich werden könnten. Three Men on the Bummel erschien 1900 – 14 Jahre später sollte sich auf tragische Weise zeigen, wie zutreffend die Analyse in ihren negativen Ausformungen gewesen ist.
Jeromes Überlegungen zum obrigkeitssaatlichen Denken münden im Ausspruch, dass der Deutsche, verurteilte man ihn zum Tode und gäbe man ihm einen Strick, tatsächlich zum Galgen gehen und sich selbst aufhängen würde. Das ist natürlich überzeichnet, aber seit einiger Zeit wurde hierzulande die Willkommenskultur staatlich verordnet, und prompt zeigten die Umfragen Zustimmung wie das letzte Mal beim Ausbruch des ersten Weltkriegs. Und auch heute, da wir bei mir daheim laut Kriminalstatistik in Oberbayern Nord 2016 einen Anstieg der Kriminalität von 7% haben, und rund 1% der Bewohner als Flüchtlinge 11,7% der Straftaten begehen, darunter auch Übergriffe mit 551 deutschen Opfern, finden sich noch immer genug Personen, die nicht von der bei der Zeit und der Prantlhausener Zeitung proklamierten Begeisterung abweichen wollen. Ein schönes Beispiel ist ein Medienmacher, dem in Berlin der Keller ausgeräumt und teure Räder offensichtlich gezielt entwendet wurden: Derselbe beklagte sich damals über die nicht seltenen Einbrüche, und vor kurzem aber darüber, dass einfach zu viel über Kriminalität berichtet werde. Auch eine bekannte Gattin eines bekannten Ex-Stasi-Mitglieds, die sonst voller sozialistischer Tugenden ist, beklagte die Überführung ihres zweirädrigen Privateigentums in andere Hände. Unter Mielke wäre das nicht passiert!
So ist der Deutsche eben auch unter dem roten Lack: Romantisch und gleichzeitig ein wenig pedantisch, wenn es um Fragen des Eigentums geht, aber gleichzeitig gehorsam, wenn sich Polizeidienststellen politisch gewollt jenseits von Bayern schwer tun sollen, die Realität, die nicht unproblematische Entwicklung und deren Verursacher – die Zahl der deutschen Tatverdächtigen bleibt rückläufig, andere Tatverdächtige füllen die Lücken – zu erkennen. Bei uns ist das anders, denn die spektakulären Einbrüche in Verbindung mit Tötungsdelikten in Königsdorf und Meiling gehen nicht einfach so als regionale Einzelfälle unter, wie etwa der Raubmord von Bad Friedrichshall oder der Mord von Neuenhaus. Sie werden breit diskutiert. Und ich sehe mich dann hin und wieder genötigt, auch im Kreise der Besorgten auf das Positive hinzuweisen: Es gibt bei uns auch den regionalen Einzelfall der ganz erstaunlichen Sicherheit. Wie etwa beim Radständer eines von mir geschätzten Gasthauses, der die hiesigen Men on the Bummel zum Verweilen einlädt.
Denn der Radständer wurde vor ein paar Monaten wegen des gestiegenen Andrangs von Radlern neu gestaltet. Es ist überhaupt keine Frage, dass sich hier ohne jeden Zwang und Parkplatzgebühr und gefälschte Statistik eines Ministeriums, aber mit schönen, neuen Radrouten, die Zahl der Radler vergrößert, und so brauchte man eben auch mehr Platz für all die schönen, neuen Gefährte, die bei uns sie Strassen zieren. Weil Räder auch einmal Platten haben und Ersatzteile benötigen, hat der nächste Radelhändler dort auch zwei Rahmen anmontiert, und in diesen Rahmen steht zu lesen, wo er zu finden ist. Bei den Rahmen handelt es sich um offensichtlich gebrauchte und schadhafte Exemplare des Simplon Pavo. Wer nur ein wenig Ahnung von der Materie hat, der weiss, dass hier nicht alter, billiger Schrott hängt, sondern zwei früher wirklich teure Rahmen mit ebenfalls nicht billigen Komponenten. Natürlich schaut da jeder hin, und viele schauen auch, wie die Rahmen befestigt sind.
Die Sättel sind von ein paar Schrauben durchbohrt und am Holz befestigt, und so schwanken die Rahmen, deren Neupreis auf dem Niveau eines gebrauchten Kleinwagens lag, also im zarten Frühlingswind des Voralpenlandes. Sie tun das seit Monaten und seit diesen Monaten unterdrücke ich den Impuls, bei dem Radgeschäft anzurufen und zu fragen, ob man den blauen Rahmen nicht doch haben und restaurieren kann, denn das hier ist eine Form des Überflusses, der mir weh tut. So ein Rahmen gehört auf die Strasse, da müsste man retten, was zu retten ist. Nach meinem privaten Gerechtigkeitsempfinden, das dank meiner Herkunft nicht komplett deutsch, sondern teilweise ritterlich, ja gar fränkisch-raubritterlich ist, wäre es vielleicht ethisch vertretbar Als guter, pedantischer Deutscher käme ich natürlich nie auf die Idee, mir etwas anzueignen, und ich sehe auch bei anderen, dass sie mit der Hand überprüfen, ob der Rahmen vielleicht entfernbar wäre. Aber jeder lässt ihn hängen.
Obwohl es technisch gesehen vermutlich kein Problem wäre, sich zu bereichern. Man könnte in der Nacht, wenn hier wenig los ist, mit der Säge an den Balken gehen. Oder mit dem Schraubenzieher an den Sattel. Oder mit dem Inbus die Sattelstütze vom Rahmen trennen, oder sich mit etwas Schrauberei zumindest der wirklich schönen Gabel bemächtigen. Für den Kenner gibt es hier kein ernsthaftes Hindernis. Und bei Ebay ist die Mutter der Idioten, die auch einen beschädigten, prestigereichen Rahmen kaufen würden, natürlich auch immer schwanger. Noch nicht einmal einen anderen Radler würde man schädigen, keiner müsste deshalb den Heimweg zu Fuss antreten, man könnte sich sagen, man führte den Rahmen nur seiner eigentlichen Bestimmung zu und protestiere gegen die kapitalistische Verschwendung. Wir alle stellen dort unsere Räder ab, wir alle schauen den Rahmen an und denken, wie es wäre, mit ihm über die Berge nach Italien zu fliegen. Und wir alle haben ein Multitool dabei.
Ich besitze, gut verborgen in den Innereien meiner Anwesen, über hundert Räder und gegen mindestens 10 ist der Pavo eine billige Plastikschleuder – letzte Woche habe ich erst ein Siegerrad einer Deutschlandrundfahrt neu aufgebaut. Ich habe das überhaupt nicht nötig, sage ich mir, auch wenn es mich irgendwo schmerzt. Wie alle anderen. Manchmal stehen einige zusammen davor und seufzen. Gelegenheit macht Diebe, sagt ein altes Sprichwort, aber hier sind nun mal eben Deutsche, wie Jerome K. Jerome sie beschrieben haben, und seit Monaten macht sich keiner an den Schrauben zu schaffen. Vielleicht steht irgendwo eine Kamera, und es handelt sich um Sozialexperiment – sollte es so sein, wird dort eher die Linse verfaulen, als dass jemand die Gelegenheit nutzt. Die Versuchung ist da. Das ist nicht zu bestreiten, denn man könnte sich moralisch den Raub schönreden. Aber es tut keiner.
Wie lange würde ein Spitzenmodell eines beliebten Herstellers in Berlin offen zugänglich an seinen Schrauben am Holz hängen?
Lebensqualität ist, sich diese Frage stellen und auf die unschöne Antwort mit einem Schulterzucken reagieren zu können.
Ich bin hier öfters und verunziere mein Rad nur ungern mit einem Schloss. Schon früher hatte ich den Eindruck, dass es möglich ist und keinerlei Gefahr droht. Andere halten es ähnlich, und die Cabrios auf dem Parkplatz werden offen gelassen. Die Rahmen, ohne anwesenden Besitzer und eigentlich überflüssig, schreiben die Sicherheit noch ein weiteres Kapitel fort. Die nötige Disziplin und das Übereinkommen ist da, auch wenn hier täglich Hunderte vorbei kommen. Es liegt sicher auch daran, dass die meisten hier sich so ein Rad leisten könnten, wenn sie wollten. Aber auch daran, dass es noch ein altmodisches Verständnis von dem gibt, was man tut, und was man nicht tut. Eine Art Leitkultur im Sinne gemeinsamer Eigentumswerte, die es sogar zulässt, dass die Rahmen in Wind und Wetter vor sich hin gammeln und das Eigentum über kurz oder lang irreparabel wird. Schlecht für den Rahmen, aber ein Ausweis der Sekundärtugenden der Hiesigen.
Man kann die Unterschiede in diesem früher so disziplinierten Land, das seit Jeromes Klassiker schon lange nicht mehr so unschuldig wahrgenommen wird, auch positiv erfahren. Es ist nicht nur so, dass die Menschen den Eindruck haben, es würde viel passieren. Es ist auch so, dass die Menschen hier an vielen, kleinen Selbstverständlichkeiten erlebten, wie sicher es trotz der regionalen Vielzuvielfälle ist: Weil die Bretterzäune hier so niedrig sind, dass man einfach drüber steigen kann. Weil beim Bäcker ein Schild aufgestellt wird, um darauf hinzuweisen, dass jemand seinen Geldbeutel verloren hat. Weil ein jeder darauf achtet, dass die Steingärten vor den Häusern jetzt erblühen, und es früher keinem als Problem erschien, dass die Polizei ihre einzige Dienststelle am anderen Ufer des Sees hat. Wenn man hier solche Rahmen ungesichert aufhängen kann, kann es insgesamt nicht so schlimm sein.
Schwer liegt das Multittool in meiner Tasche, aber schwerer wiegt das Gewissen, und ich möchte auch in Zukunft auf die Kraft der verbindlichen Sekundärtugenden verweisen können. Sollte der Rahmen doch einmal fehlen: Dann habe ich vermutlich beim Radladen angerufen und ihn rechtmäßig erworben, um nach Italien zu fahren.