Auch wenn man gut konsumiert, kann man dahinvegetieren.
Rudi Dutschke
Monte Carlo, St. Moritz, der Tegernsee – Sehnsuchtsorte verkaufen sich am besten, wenn sie an manchen Ecken so aussehen, dass Besucher und Bewohner mitunter innehalten, schauen, und sich sagen: Also wirklich, wie vor 50 Jahren, nichts hat sich verändert. Es könnte tatsächlich ein blauer Sportwagen mit Grace Kelly um die Ecke kommen, es könnte wirklich Aristoteles Onassis in einer Lobby sitzen, und bei uns am See würde es keinen wundern, säße da drüben auf dem Schiff Gunter Sachs mit Brigitte Bardot, ein Teil der Flick-Sippe, oder, noch wahrscheinlicher, einer der vielen Altnazis, die es 1967 in Mengen am See gab, und die auch wirklich Nazis waren, und nicht nur Leute, die den Thesen der Antideutschen und Genderaktivistinnen in den Hamburger Medien nicht vollumfänglich zustimmen.
Aber auch, wenn es noch genau so erscheint und die alten Schiffe vor der immer gleichen Bergwelt über das klare, blaune Wasser gleiten: Es ist nicht mehr 1967. Mag das Holz an Deck noch sauber geschrubbt sein, so hat sich doch viel verändert, und wo es früher obligatorisch war, einen Hut zu tragen, sieht man heute mehr und mehr Kopftücher. Das war ein schleichender Prozess, aber wenn man heute in einen Biergarten geht, sieht man das oft. Kaum wird das Wetter schön, kommen hier Fremde und tragen Kopftücher, wie es der Prophet befahl. Besonders die Alten machen das. Man sollte denken, dass es nach 1967 auch 1968 gab und überall die Menschen begriffen haben, wie sinnlos es ist, Propheten nachzueifern. Aber die tragen nun mal Kopftücher. Alte, weisse Männer mit Kopftüchern, die dem Radsportidol Marco Pantani nacheifern. Pantani hatte eine Glatze und trug ein Kopftuch, und alte, weisse, haarlose Männer, die hierher radeln, folgen ihm und tragen ebenfalls ein Kopftuch auf ihren Glatzen über den Altersflecken. Sonnenbrillen und Lycrahemden. 1967 hätte man so in kein Restaurant gehen können. Heute ist es üblich.
Und am Montag war es hier brechend voll mit Rentnern, allesamt bestens gelaunt, gesund und spendierfreudig. Die einen friedhofsblond, die anderen mit Kopftüchern, alle ziemlich fit, und Krücken trug nur ein junger Vater, dem sein Gebrechen vermutlich den Fluch der Arbeit ersparte, der in jenen sonnigen Stunden die meisten unserer Altersgenossen traf. Diese Leute hier werden nicht ohne Grund von Links und Rechts in die Zange genommen. Für Linke sind es teure, alte, weisse Menschen, fast so alt wie die meisten bekannten Vertreter der Grünen, die vermutlich das Falsche wählen, keine Rücksicht auf die Jugend nehmen und jetzt noch von einem Rentensystem profitieren, das für kommende Generationen nur Plackerei bis 70 mit folgender Altersarmut verspricht. Vermutlich haben sie recht. Und für die Rechten, die auch recht haben, sitzen hier die Alt-68er nach ihrem langen Marsch durch die Institutionen, die sie für sich geplündert haben und eine Welt erschufen, in der es erst möglich wurde, dass ein Zensurminister mit einer ´Schauspielerin durchbrennen kann, ohne aus dem Amt gejagt zu werden, eine Ex-Stasi-IM über Meinungsfreiheit befinden darf, und die Kanzlerin die Kontrolle über die Grenzen aufgibt.
Tatsächlich herrschte 1967 noch ein erheblich anderer Geist in diesem Lande, und obendrein der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang. Vor diesem Hintergrund war es natürlich leicht, eine Kommune zu gründen, deren Filmmaterial von modernen Pr0neauxseiten abgelehnt werden würde. Es war verführerisch, Ho-Ho-Ho Chi Minh zu beschwören und zu wissen, dass Schulen trotzdem dringend Lehrer brauchten. Wer hätte ahnen können, dass freundliche Herren wie Camus und Sartre eine spätere Ikone der schmollenden weiblichen Laune einschleppten. Die Zeiten waren so kohlrabenschwarz und rechtsdoktrinär, dass alles dagegen mitmarschieren durfte, was wollte, von der RAF-Anhängerschaft über Pädophile, Stalinisten und Maoverehrer bis zu Waldschraten, deren Nachfolger gerade um die 5%-Hürde kämpfen. Die meisten waren aber vermutlich eher wie der junge B..
Der junge B. ist inzwischen auch ein steinalter Mann, aber damals war er noch kommender Erbe eines Sattlergeschäfts, Student und der Meinung, man müsste in unserer sehr kleinen, sehr dummen Heimatstadt an der Donau auch einmal die Strukturen aufbrechen. Deshalb lud er seine Freunde ein, und fuhr mit dem geliehenen Porsche Cabrio seines Vaters, voll besetzt mit Maobibelschwenkern und Demonstranten hinter sich, die Strassen auf und ab. Das hat seinem Ruf damals schwer geschadet und alle haben es seinem Vater hineingedrückt. Heute ist der junge B. auch der alte B., und seine Firma stellt hier die Zelte für das 501. Jubiläum des Reinheitsgebotes auf. Demonstrieren war gefahrlos: Der Osten würde schon nicht kommen und einem den Porsche nehmen, und die unterdrückten Völker sollten zwar vom Joch des Kapitalismus befreit werden, dann aber Afrika und Asien als Leuchttürme des neues, sozialistischen Menschen entwickeln, zu denen der dekadente Mensch des Westens aufschaut. Heute spielt der B. eine wichtige Rolle bei den regionalen freien Wählern – das sind die, die Flüchtlinge vor das Kanzleramt fahren. Nicht im Porsche und nicht mit Maobibeln.
Die breite Mehrheit wollte aber keine Revolution, sondern einfach modernes, demokratisches und gleichberechtigtes Leben im Wohlstand, dazu ein Haus, einen Garten, zwei Kinder, und zwei Autos, vier Wochen Urlaub in Italien, ohne Krieg und Napalm und Nachrüstung. Man wollte die repressive Ära Adenauer nicht mehr. Man wollte die uniformierte Gesellschaft auflösen Wenn man heute in Lycra und Kopftuch im Biergarten sitzt und auf den Sprizz wartet, ist das Veränderung, die gefällt, in einem Klosterbrauereikontext, der gern so bleiben kann. Was man aber 1968 ganz sicher nicht wollte, sind Leute, die mit gebrochenem Deutsch der Polizei erzählen, wo sie einen tödlich verletzten Rentner findet. Man ging nicht auf die Strasse für die Zuwanderung eines Messerstechers, und auch nicht für einen psychisch labilen Migranten aus Afghanistan, der versucht, sich im Amri-Stil Autos anzueignen und dabei Menschen verletzt. Für solche Erscheinungen demonstrieren 30 Kilometer nördlich die Nachfahren der Waldschrate am Flughafen, weil das Abschiebeland Afghanistan nicht sicher ist. In den Augen der Alt-68er hier ist es vielmehr so, dass sich die Sicherheitslage für alte Menschen der Lage in Afghanistan drastisch annähert. Und daran ändern auch die Tricks der regierungsnahen Medien nichts, die die abnorm gestiegene Gewaltkriminalität durch Zuwanderung relativieren wollen.
Tatsächlich haben die 68er das Land nachhaltig und unumkehrbar verändert – nicht einmal die AfD will zurück zum gesellschaftlichen Klima unter Adenauer, in dem der krawattenlose Gauland sozial geächtet wäre, von den feministischen Vorreiterinnen der Partei ganz abgesehen. Aber die 68er, die mit Kopftuch und restauriertem Porsche Cabrio hier sitzen, sind mittlerweile so etabliert, dass sie gefahrlos die Sehnsuchtsorte ihrer Väter wieder für sich entdecken können. Niemand macht hier ein Streikplenum, niemand wirft Steine ins Idyll, und nachher sind sie alle am See und lassen sich auf dem Boot zwischen den Villen der echten, alten, lange toten Nazis über das Wasser fahren. Nächstes Jahr ist 1968 50 Jahre her. Es gibt keine Traditionslinie von der damaligen Ablehnung der Religion hin zum Verständnis für wahhabitischen und schiitischen Islam, die genau jene Repression leben, die damals gesprengt wurden. Es gab nur damals schon laute Provokateure, und es gibt sie heute mit van der Bellen und seiner Kopftuchaufforderung und dem feigen Verstecken hinter Juden wieder. Aus 68 heraus mutierten später grüne Kirchenvertreter, die sich freuen, weil es Menschen geschenkt gibt, und das Land religiöser wird. 1968 positionierte sich die SPD gegen die Macht der Kirchen, heute lehnt der SPD-Kanzlerkandidat Kirchenaustritte als Zeichen der politischen Opposition ab.
Es hat sich viel getan, in diesen letzten 50 Jahren. 68 ist nicht tot, es ist nur damit beschäftigt, einbruchssichere Fenster zu kaufen und darauf hinzuwirken, dass die Enkel auf eine Schule mit minimaler Migrantenquote kommen. 68 hat verstanden, dass es als Feindbild herhalten muss, aber noch sitzt es mit Piratenkopftuch im Biergarten, und die anderen müssen arbeiten. 68 weiss, was es wollte, was es sich später anders überlegt hat, und was es jetzt auf gar keinen Fall haben will. 68 findet den niedrigen Benzinpreis gut, weil 68 grosse Motoren hat, aber auch, weil die Saudis dadurch weniger verdienen und daher merklich weniger Clans in die Kliniken am See schicken, was die Zahl der anderen Kopftücher ebenso reduziert wie die Zahl der Mietwagenraser. Öffentlich sagt 68, dass es ihm egal sein kann, denn in diesem Alter ist die Entwicklung nur noch für die Nachfolgenden schlimm. Aber die Grünen kann 68 leider wirklich nicht mehr wählen. 68 ist immer schuld. Da kommt es auf einmal mehr auch nicht mehr an. Vielleicht hat 68 schon zu viele Dummheiten mitgemacht, um erneut Fehler zu begehen.
Grace Kelly, Aristoteles Onassis und Gunter Sachs sind schon länger tot, aber die frühere Gemahlin von Sachs Brigitte Bardot lebt noch, und verbindet ihr Anliegen für den Tierschutz mit einer Affinität zu Le Pens Front National. Wahrscheinlich erinnert sich 68 noch an die Bilder der jungen BB und denkt sich, dass sie eben noch eine richtige Frau war. Alle werden älter, aber der See bleibt, wie er ist, und wird auch dann noch Freunde finden, wenn die neuen Revolutionen und Veränderungen längst gescheiterte Fehleinschätzungen sind.