In Amerika, dem Stiefmutterland von Freiheit, Demokratie, Waffenbesitz, Alkohol ab 21 und dem Recht, Invasoren auf dem eigenen Grund niederzuschießen, gibt es einen Witz:
Was ist ein Republikaner?
Ein Demokrat, nachdem er von einer Gang überfallen und ausgeraubt wurde.
Was so viel bedeutet wie: Edle Ideale schmelzen bei der Begegnung mit einer Realität, in der man an der Umsetzung derselben durch unschöne Gewalterfahrung gehindert wird, schnell zusammen, und führen zu einem lebenserhaltenden, wenngleich nicht unbedingt menschenfreundlichen Umdenkprozess.
Das kann bei Gewalt so sein, aber nicht immer und überall: Zum Beispiel scheiben heute jene Autoren, die im Blog Publikative das Verhalten der Polizei nicht eben zu Uugunsten der Autonomen anprangerten, etwas Ähnlichs im Zusammenhang mit der Gewalt von Hamburg erneut, indem sie die Fehler bei der Polizei suchen und – wenig überraschend – auch finden. Es findet nicht mehr nur bei einem linken Blog mit einem selbst gewählten Schwerpunkt auf “Polizeigewalt” statt, sondern bei der gebührenfinanzierten ARD. Auch entnimmt man der linkenfreundlichen Presse, dass das gar keine Linken gewesen sein sollen, weil Linke spätestens seit Pol Pot nicht mehr gewalttätig sind. Die Polizei habe zudem falsch reagiert und müsste sich die Fragen anhören, die erstaunlicherweise aber niemand den Autonomen stellt, die sich und ihre Taten mit Bezug auf einen RAF-Terroristen bei Indymedia ausgiebig und unbehelligt feiern.
Und weil es gerade so gut in die Verlagerung der Schuld weg von den Autonomen hin zur Staatsmacht passte, wurde dann noch das seit Monaten bekannte Polizeiaufgabengesetz in Bayern aufgewärmt. Im Gegensatz zu Bremen und Niedersachsen, wo es für die Präventivhaft keinerlei zeitliche Begrenzung gibt, gibt es in Bayern eine von zwei Wochen auf drei Monaten angehobene maximale Dauer – dann muss ein Richter neu entscheiden. Man hätte an dieser Stelle darüber reden können, was Juristen dazu in den letzten Monaten gesagt haben, oder über den eigentlich harten Aspekt der Reform: Das gleich Gesetzespaket erlaubt nämlich den umfangreichen Einsatz des Staatstrojaners. Aber die Schlagzeile einer unbegrenzten Präventivhaft passte besser zum Wunsch, weg von der linken Gewalt hin zum polizeilichen Übergriff zu gelangen. Niemand redet heute mehr darüber, die Rote Flora einzuebnen und einen Biergarten darüber zu errichten, und die 40 Millionen Schaden bezahlt der Staat, also wir alle. Wir sahen alle die netten Bilder vom Aufräumen. Hamburg bleibt bunt.
Man vergisst so etwas schnell, aber heute Nacht wurde ich wieder daran erinnert, als unten von der Strasse Rapmusik zu mir nach oben drang. Das ist vor dem Ende der Schulzeit in Bayern normal, heute beginnen die Ferien, davor wird gefeiert, und dann ziehen die Jugendlichen mit Musik durch die Stadt. Dann knallte es, und es gehörte eindeutig nicht zur Musik, es wurde gebrüllt, und da drehte ich schon das Schaltwerk in das Schaltauge – denn gestern ist ein neuer Rahmen für ein Rennrad eingetroffen, ein früher absurd teurer Isaac Sonic, deutsche Carbonkunst mit nur 900 Gramm Gewicht. Ich legte also den Inbus weg und nahm schon einmal das Telefon in die Hand, denn es klang, als würde da unten etwas zerstört. Und tatsächlich lag da unter der Laterne gegenüber ein Rad. Und ein junger Mann in der heutzutage üblichen Hooligantracht mit Hoodie sprang darauf herum.
Seine Freunde riefen ihm unter Erwähnung seines Namens zu, zogen aber reichlich unberührt weiter, und während er vom Rad abliess, hatte ich schon die 110 gewählt, einen Beamten an der Leitung und schilderte ihm die Gruppe, den Täter und den Weg, den der junge Mann zusammen mit einem Freund in Wellenlinien beschritt. Man sollte denken, dass sich solche Leute unauffällig und schnell vom Tatort entfernen, aber sie wankten langsam und ohne jeden Blick zurück die Strasse hinunter. Der Schaden war angerichtet, das Leben ging weiter. Man tut etwas und schreitet voran, und wenn man etwas betrunken ist, legt der andere einem den Arm um die Schulter. So einfach. So banal. So völlig frei von jeder Sorge und schlechtem Gewissen. Er hat das Rad zusammengetreten, wie andere einen Zigarettenkippe wegwerfen.
Nun kann man sagen, dass es klügere Ideen als das laute Trampeln auf einem Rad vor den Fenstern eines Radliebhabers gibt. Man kann sagen, dass ich meiner Bürgerpflicht gerecht wurde, ohne jeden Skrupel, und die kleine Schar kam auch nicht besonders weit – sie lief, wenn man so will, der Polizei direkt in die Arme. In Berlin entkommen Autoanzünder auch nach dem 5. Anschlag, in Bayern fragt man, ob man hinunter gehen soll und schauen, wohin sie weiter gehen, und der Beamte meint nur, aber nein, das machen sie schon, und nach der 5. Minute haben sie die Gruppe. Jetzt gibt es einen Beschuldigten und eine Gang, die dabei war und daheim bei den Eltern, wenn sie keine Gangstaz und Hoolz mehr sind, etwas zu erklären haben. Das ist nicht angenehm, aber wenn es jetzt passiert, passiert so ein Vandalismus vielleicht, hoffentlich, nie wieder. Sie lebten in der Vorstellungswelt, dass man so etwas machen kann, ohne auch nur ein schlechtes Gefühl zu haben, und wissen jetzt: Nach nur 5 Minuten ist das vorbei.
Ich baue mein Isaac mit einer Campagnolo Record Gruppe auf. Der Rahmen kostete früher so viel wie vier von jenen Markenrädern, von denen eines da unten zusammengetreten wurde. Die Gewalt traf nicht den reichen Bonzen oben unter dem Stuck, der auf altem Parkett Titanschrauben in gefräste Ausfallenden dreht, sondern ein Stadtrad einer Frau. Kein Rennrad, sondern ein Lastenpferd mit Licht, Gepäckträger und Schutzblechen. Keine Sattelstütze mit dem Namen Masterpiece, sondern ein dickes Alurohr. Keine federleichten Proton-Laufräder von Campagnolo, sondern dicke Felgen, die trotzdem verbogen wurden. Immerhin kann die Geschädigte jetzt die Kosten geltend machen, denn es ist klar, dass das Rad da unten ein ökonomischer Totalschaden ist.
Es ist in meinem sozialen Umfeld kein teures Rad, neu kostete es nicht mehr als 700€. Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt, für die einen ist das ein halber Laufradsatz, aber für andere ist das Rad ein halber Bruttomonatlohn. Ganz normale Leute, die sparen, um dann in ein Fachgeschäft zu gehen und ein Rad zu kaufen, mit dem sie 15, 20 Jahre zu fahren gedenken. Sie haben nicht 10 oder 20, sondern nur dieses eine, und wenn es zerstört ist, haben sie keines mehr. Es sind Leute, die Steuern und Abgaben zahlen, und die sich entscheiden müssen, ob sie dieses neue Rad kaufen, oder mit ihren Kindern eine Woche mehr Pauschalurlaub bezahlen können. Vielleicht gehört es auch einer Studentin aus dem Wohnheim gegenüber, vielleicht ist sie gerade knapp bei Kasse und könnte kein neues Rad kaufen, wenn sie das Wrack zur Werkstatt getragen hat – gut ein Kilometer weit – und dort hören würde, dass man hier nichts mehr machen kann. Vielleicht gehört so ein Rad auch einer Flaschensammlerin, die wir in diesem Land bei all dem Reichtum und den vielen Milliarden für Integration wegen der Altersarmut haben – für die wäre das dann das Ende der individuellen Mobilität.
Es ist lange her, dass ich einen Fernseher besaß, aber damals lief ab und zu der neorealistische Film “Fahrraddiebe” von Vittorio de Sica, der an einem individuellen Beispiel erzählt, was für einen Menschen davon abhängt, ob er ein Rad hat, oder nicht. Vielleicht ist das heute nicht mehr gar so schlimm, vielleicht bedeutet es nur einen Anruf bei einem Vater, der ohnehin nicht wusste, was er seiner Tochter noch zum Geburtstag schenken sollte. Oder jemand steht zwei Wochen in einem Lager eines Discounters, um das benötigte Geld für eine Neuanschaffung zu erarbeiten. Oder es ist das Rad einer Alleinerziehenden, die nicht auf ein Auto ausweichen kann und auch nicht nahe an einem günstigen Supermarkt wohnt – dann muss ein Kind vielleicht länger allein daheim warten, weil ihr der Edeka nebenan zu teuer und der Weg zur günstigen Alternative weit ist. Es muss nicht ausgehen wie bei Vittorio de Sica, und man muss den Film auch nicht gesehen haben. Man muss eigentlich nur ein klein wenig über das nachdenken, was man tut, und welche Folgen es haben kann. Ich schraube konzentriert mit dem richtigen Drehmoment die Schraube für die vordere Bremse ein, weil mein Leben davon abhängen wird. Ich weiss nicht, was beim Opfer des Vandalismus davon abhängt, und ob es mehr ist als ein paar Scherereien bei der Polizei.
Aber ich weiss, dass die abgehobene Debatte um Polizeigewalt gegen Demonstranten nur in Ausnahmefällen -wie etwa Stuttgart 21 oder beim Münchner Übergriff gegen eine Dolmetscherin – zu Ungunsten der Behörden verläuft. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen für den Stand der Gesellschaft und ihrer Sicht auf jene Behörde, die befugt ist, angemessen Gewalt auszuüben. Selbst mit meiner Vorgeschichte, die einige der heftig kritisierten Einsätze der Polizei in München und Wackersdorf mit einschliesst, ist der normale Umgang so gut und professionell wie in dieser Nacht, wenn der Wagen schnell zur Stelle und meine Aussage aufgenommen ist. Wir alle könnten uns eine schönere Situation vorstellen, ich oben beim Rad und die Polizisten daheim bei den Familien. Ich war am Freitag bei einer Radldemo – neudeutsch Critical Mass – bei der die Polizei ausgesprochen freundlich war. Die Polizei wird dafür sorgen, dass das Unrecht in dieser Nacht nicht straffrei eines bleiben wird, und sie wird den Teil zur Erziehung von einer Gruppe betragen, den die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, nicht erbringen konnten. Nur um das klar zu sagen: Es waren eindeutig junge Deutsche.
Die Sichtweise unter jenen, die ein geklautes Rad, ein eingeworfenes Fenster oder einen abgetretenen Aussenspiegel nicht einfach mit zwei locker geschriebenen Plaudereien oder Faktenchecks auf Gebührenzahlerkosten refinanzieren können, ist nach meinen Erlebnissen noch weniger konziliant und vielschichtig als meine: Noch nicht einmal der Einsatz der Bundeswehr im Inneren wird da abgelehnt, wenn es darum ginge, die fraglichen Personen mit ihre Böllern von den Dächern und hinein in die Alter zu befördern. Ich schreibe das noch nicht einmal so drastisch auf, wie es in der Realität formuliert wird, aber nur die wenigsten Bürger sehen sich als Ziel eines Wasserwerfers, oder geben Anlass, ihr Nachtschwärmertum als überführter Vandale auf dem Revier zu beenden. Das Grundrecht, das Rad nach einem Abend in der Stadt unbeschädigt vorzufinden, wiegt da mehr als das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit einer Person, die es zerstören möchte. Es gibt dort keine Sympathien für den Schwarzen Block, Ausschreitungen und akademische Debatten, ob nicht doch die Polizei mitschuldig gemacht werden kann. Es ist empirisch leichter, die Folgen eines zerstörten Rades zu verstehen, als die juristische Bewertung der Polizeibefugnisse, die stetig – und auch im Bereich Datenschutz zu meinem Missfallen – ausgeweitet werden.
Um so mehr, je mehr passiert und je weniger aufgeklärt wird, und danach auch noch billige Ausreden wie “Es war nur Gewalt gegen Sachen”, ‘es war nicht links”, “die Bankenkrise war teurer” und “oh schaut mal, ein Neonazikonzert” formuliert werden. Es gibt an einem zerstörten Rad so wenig zu beschönigen, wie an einem Flaschenwurf gegen einen Polizisten. Manchmal muss jemand noch nicht einmal selbst von anderen überfallen werden, um seine Meinung zu ändern. Bilder reichen schon mitunter.