Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Nicht ganz Detroit an der Donau

Wir haben alle Vorteile der Kleinstadt gegen die Nachteile der Grossstadt eingetauscht.
Herr B., Ladeninhaber

”Huhu T.”, schreibt die Jungredakteurin, die normalerweise im Jugendportal zu Genderrollen berichtet, aber dank ihrer 4 abgebrochenen Semester BWL nun Urlaubsvertretung in der Wirtschaft macht, “also der Beitrag über unseren Faktencheck war echt supi, meine Mom fand das Bild von mir ganz toll, ich soll GaLieGrü sagen <3. Ich habe eine grandiose Idee, die sicher bei den Lesern hier oben gut ankommt: Ich möchte einen Beitrag über Auditown machen, der es jetzt mit dem Dieselskandal und den Einsparungen nass reingeht, hihi. Meinst Du, es geht mit der Werbeabteilung klar, wenn ich frage: Wird Auditown das neue Detroit? Weil, gestern war die Jana da und die Jana macht den Social Media Kanal von einer Umwelt-NGO und die meint, dass das genau so wird.”

Denn jahrelang erfreute sich die Auditown, die die Leser dieses Blogs nur als “dumme, kleine Stadt an der Donau” kennen, wohlwollender Berichterstattung. Vollbeschäftigung, Zuzug, Export, Einkommen, Lebensqualität, Kultur, Reichtum, soziale Leistungen, Innovation, Preissteigerung bei Immobilien – egal welche Umfrage von Wirtschaftsinstituten, immer war die Region ganz vorne mit dabei, und so kamen die Journalisten aus aller Welt und versuchten zu ergründen, was dieses masslos gewordene Kaff an die Spitze gebracht hat. Meines Erachtens sind das zwei Dinge gewesen: Sehr viel Dusel und sehr engagierte, sturköpfige Menschen, die anpacken, nicht jammern und von ihren Grosseltern wissen, dass nur die Asozialen zu den Ämtern gehen, wie Berlin zum Länderfinanzausgleich. Möglicherweise schreibt der T. jetzt auch der Jungredakteurin zurück, dass der Detroitvergleich sicher ein prima Thema ist, aber man stehe Air Berlin als Kunde nahe, und sie soll jetzt erst mal das soziale Schicksal der Fluglinien-Angestellten bedauern. Sie wird daher keinesfalls darauf hinweisen, was für steuerbegünstigte Dreckschleudern und Lärmmacher Luftflotten mit ihren Businesskunden, die sich für die Bahn zu fein sind, im Vergleich zum Diesel darstellen. Und mir die Gelegenheit bieten, vorher mit 0 Semestern BWL einen strategischen Erstschlag über die Stadt zu schreiben. Nämlich jetzt.

Ich mein, schauen Sie, als ich geboren wurde, hatte die Stadt gerade einmal halb so viele Einwohner wie heute, und schon vier schwere Krisen hinter sich. Sie stieg im 14. Jahrhundert zur Residenzstadt eines Herzogtums auf, das zeitweise immens reich war, und stürzte ein Jahrhundert später zur vergessenen Nebenresidenz ab. Sie stieg langsam mit der berühmten Universität und der Gegenreformation wieder zu einem bedeutenden Zentrum der Gelehrsamkeit auf – mein Wohnhaus ist ein Seminar aus jener Epoche. Sie überstand dank der Festung im Gegensatz zum Rest des Landes den 30-jährigen Krieg unbeschadet. Die Franzosen unter Napoleon beseitigten die Festung, und die Universität wurde nach München verlegt: Für die Stadt war das eine Katastrophe. Aber das Königreich Bayern leistete sich mit dem Bau der Landesfestung unter Klenze die grösste und sinnloseste Staatsausgabe, die erst vom Rhein-Main-Donau-Kanal, der WAA Wackersdorf und dem Länderfinanzausgleich an Dummheit übertroffen werden sollte. Meine Familie profitierte damals enorm von einer monopolartigen Brotbelieferung der Rüstungsarbeiter. 1918 kam der nächste Zusammenbruch, die “ganz schlechte Zeit”, und besser wurde es erst, als sich hier Petrochemie und eine Spinnereimaschinenfabrik ansiedelten.

Ach so, und es gab hier auch noch ein Ersatzteillager der Auto Unión, deren Zentrale in Zwickau in der sowjetisch besetzten Zone lag. In diesem Lager wurde die westdeutsche Auto Union gegründet, die zuerst unter Mercedes und dann unter Volkswagen mit rückständigen Zweitakt-DKWs Mitte der 60er Jahre beinahe pleite gegangen wäre. Ich sage aus gutem Grunde “dumme, kleine Stadt an der Donau”. Es kam aber anders, man baute ein Auto namens “Audi”, es war nicht ganz unbeliebt, und heute sind hier Petrochemie und Spinnereimaschinen bedeutungslos.

Tatsächlich hat die Stadt ein halbes Jahrhundert des stürmischen Fortschritts hinter sich, und wenn Sie bei mir aus dem Fenster schauen, sehen Sie oben alle Epoche vereint. Das grosse Dach mit der Apsis gehört zum Münster der mittelalterlichen Residenzstadt. Das kleinere Gebäude links daneben ist die Hohe Schule der Gegenreformation, Das langgestreckte Dach gehört zum bedeutenden Jesuitenkolleg des Barock, und das Backsteingebäude ist Teil der Biedermeier-Festung. Und davor ist ein Studentenwohnheim der Universitäts- und Wirtschaftsstadt, die nun im Zentrum des sog. Dieselskandals steht. Grad so, als wäre der trickreiche Umgang mit Harnstoff – oder wie wir sagen, Odel – für im Kern immer noch bayerische Landökonomen etwas Ungewöhnliches.

Jetzt also muss Audi wegen des Skandals Milliarden einsparen, und die 2016er Überlegung, dass die Stadt mittelfristig dank des Wachstums im Jahr 2030 160.000 Menschen beherbergt, erscheint auch etwas übertrieben. Möglicherweise ist das Wachstum erst einmal vorbei, ja, es kann auch sein, dass die Stadt etwas zurück fällt. Und wissen Sie was? Ich finde das gar nicht so schlecht. Denn selbst für einen Profiteur wie meine Person, die den Rest des Lebens durch überteuertes Vermieten auf der faulen Haut liegen könnte, sind die unangenehmen Folgen offensichtlich.

Zum Beispiel da drüben, wenn ich aus der Altstadt zu unserem traditionellen Biergarten fahre. Da drüben ist das Grundstück der Frau P., die zu einer Zeit öko war, als das unter Reichen keinesfalls gut angerechnet wurde. 4000m² feinstes Westviertel benutzte Frau P. lediglich, um ein paar Ziegen, Schafe und Hühner herum laufen zu lassen. Ohne jede Gewinnabsicht. Wir Kinder konnten sie, wenn sie im Garten war, auf dem Heimweg von der Schule um Eier bitten. Einfach so, weil sie ein Faible für Tiere und Landwiertschaft hatte. Frau P. ist vor ein paar Jahren gestorben, und ihre Kinder haben das Grundstück an einen Bauträger verkauft. Die Kinder können mit dem Gewinn und dem restlichen Erbe in Frührente gehen, und der Bauträger muss sich überlegen, wie er den bezahlten Rekordpreis von gerüchteweise 5 Millionen wieder erwirtschaften will. In dieser Bestlage und der Nähe der neuen Villa des Audichefs konnte man vor der Krise mit neuen Rekordpreisen für Wohnungen rechnen. Mit den absehbaren Preissteigerungen von über 5% pro Jahr war das ein bombensicheres Geschäft. Aber jetzt, wo die Gratifikationen von Audi nicht mehr so üppig sind, stagniert auch der Immobilienmarkt.

Es war hier so überhitzt, dass der Makler die Strasse runter keine Angebote für die Stadt hatte, sondern nur noch für das Altmühltal, München, das Oberland und Dubai. Die Mieten haben teilweise 20€/m² übertroffen. Und mit dem Geld kamen komische Leute: Schräg hinter der Villa meiner Familie im Westviertel zog ein leitender Mitarbeiter in ein Haus neben einem der schönsten Gärten des Viertels. Damit er diesen Garten mit seinen Bäumen nicht von der Steinwüste seiner Terrasse und seinem Golfrasen aus sieht, hat er eine verspiegelte Verblendung errichten lassen. Der Professor K. vom Klinikum hat das Grundstück neben seinem gekauft und lässt es verwildern – “damit da keiner von denen hinziehen kann”. Ich will nicht sagen, dass bei uns Krieg herrscht, aber die Verdrängungsprozesse sind unübersehbar. Es ist einfach zu viel Geld in der Stadt, und es geht nicht mehr in prunkvolle Kirchen oder Schlösser wie früher, sondern in Verschwendung, Luxus und absurdes Wegwerfverhalten.

Selbst die Profiteure hatten in den letzten 10, 15 Jahren das Gefühl, dass einem hier das Leben entgleitet. Man hat zwei Museen gebaut, die kein Mensch besucht. Man hat den Reichen die obige Mauer gebaut, damit die Reichen die Pendler nicht sehen müssen. Man hat einen riesigen Kreisel mit einem Autodenkmal gebaut, bei einem riesigen Einkaufsviertel mit doppelstöckigen Parkplätzen und einem Cafe mit Blick auf den Parkplatz. Entlang meines Radwegs soll dort, wo jetzt noch ein Feld ist, eine 7-stöckige Wohnanlage entstehen – Gerüchten zufolge stockt das Vorhaben nur, weil die Ärzte nebenan kein niedriges Blockvolk neben sich haben wollen und klagen. Das neue Auslieferungslager der Audi hat mir den alten Weg ins Altmühltal verlegt. Ganz ehrlich: 2010 war die Stadt schöner als heute und 2000 schöner als 2010. Vollbeschäftigung hatten wir schon damals. Was wir noch nicht hatten, waren Werbeplakate an der Autobahn, hier abzubiegen und sich bei der Firma zu bewerben.

Und weil die Firma sparen muss, fällt beim Open Air Konzert für Alle diesmal aus Kostengründen das Feuerwerk aus, weshalb ich niemanden dorthin begleiten muss, und in den Biergarten kann. Der Erfolg hat längst die ersten Villen abgerissen und an ihrer Stelle enge Klötze gestellt. Der Erfolg errichtet keine Villen und Kathedralen, sondern Würfelhäuser in unüberschaubarer Menge. Es kommen Leute wegen des Geldes und fühlen sich fremd. Es ist keine Entscheidung für ein soziales System oder eine Heimat, sondern für Einkommen und das Prestige des Arbeitgebers, und wenn es sonst nichts gibt, fällt so eine Gemeinschaft eventuell auch auseinander. Künstlich, das ist der Eindruck, den viele haben, wenn sie die Viertel des Erfolgs sehen, der sich anschickt, all die Gärten, Felder und Blumenbeete anzufressen, die seinem Bestreben im Weg sind. Da hilft auch keine künstliche Festkultur an jedem Wochenende darüber hinweg.

Früher, in den Zeiten der Deutschland AG, wussten Journalisten noch, dass es auch ungesundes Wachstum gibt, das durch seine Nebeneffekte den eigenen Untergang nach sich zieht – das war, bevor Telekom-Aktien, die New Economy, Zalando, Air Berlin und Solarworld nach oben geschrieben wurden. Ganz so schlimm war es hier nicht, der Aufstieg war kontinuierlich und nachhaltig, aber wenn nun die Zeit der Konsolidierung des Erfolgs auf hohem Niveau kommt, ist das immer noch ganz oben in einem der obersten Länder dieses Planeten.

Und sollte es wirklich eine Krise geben: Die Region hat ihre Vorräte. Es ist durchaus möglich, kleiner zu denken, ohne dass das Leben hier gleich hässlich wird. Weniger Menschen würden hier momentan nur eine Linderung der Wohnungsnot nach sich ziehen. Ein paar Spekulanten würden bluten, ein paar Einkaufszentren nicht entstehen, und vielleicht kann ich sogar meine alte Radstrecke mit den Apfelbäumen am Rand behalten. Einige Mitarbeiter der Firma müssten eventuell kleiner bauen. Der Konzernüberschuss bei VW würde sinken, aber der gehört den Niedersachsen, die an Hungerwinter und Sturmfluten gewohnt sind. Ein, zwei deutsche Winter mit nachlassender Radeuphorie und Erkenntnissen über Akkuleistungsverlust in der Kälte hält man hier schon durch, während man fleißig an gut klingenden, urbanen Mobilitätskonzepten arbeitet, über die wieder nett geschrieben wird

.

Und wenn es ganz schlimm kommt, und wirklich wieder marodierende Horden aus dem Norden wie früher die Schweden kommen: Zwei alte Festungsringe stehen hier noch, ein Wassergraben ist auch noch da, die Kanonen hat man im Museum aufgehoben, und die alte Bäckerei im Hinterhaus ist schnell wieder eingerichtet.