Tadle nicht den Ofen, in den du deine Erbtante geschoben hast
Kongolesisches Sprichwort
Ich trage eine grüne Weste von Grasegger, maßgefertigte Wildlederstiefel aus Verona, eine beige Kniebundhose, karierte Wollsocken aus Sterzing und einen langen Janker von Waizmann in Miesbach. Ich fühle mit der Hand hinein in den nicht ganz blitzblauen Himmel über dem Oberland und sehe meinen schlimmen Verdacht bestätigt: Keine Spur von den versprochenen 19 Grad eines angeblichen Novembersommers! Höchstens 13 Grad und Novembermärz! Das ist das beste Angebot, das mir das Wetter an diesem Tag zugestehen will, obwohl ich ihm dafür 120 Kilometer entgegen gekommen bin. Zähneknirschend akzeptiere ich und verlasse das Auto.
Unter dem nicht ganz blitzblauen Himmel ist ein blitzübervoller Biergarten, also beschließe ich, erst einmal, wandern zu gehen. Erfreulicherweise geht vom Biergarten aus ein Weg über Almen zu einem Hochmoor und weiter zu einem Moorsee. Die kleine Wanderung regt den Hunger an, und ich muss nicht immer der Erste am Tisch sein – ich kann auch warten. Also spaziere ich über immer noch erstaunlich grüne Wiesen durch kleine Gehölze, und wenn der Weg zu feucht ist, weiche ich auf die Wiesen aus. So komme ich gut voran, bis sich der Sumpf rechts und links in das Licht der Frühwintersonne weitet, und stelle fest, dass die Pfützen weiter vorne auch den Weg überbrücken: Oben Eis, unten Schlamm, in dem meine Schuhe tief versinken. Der Begleitung wird das zu morastig, als sei es die Kooperation eines Zensurministers mit einer Stasi-Zuträgerin. Sie kennt den See auch schon, und verlangt, dass sie nicht bis zum Äussersten gehen muss – nun gut, dann kehren wir eben ohne Seeblick wieder um.
Im Biergarten gibt es zwei Arten von Menschen, die einen sitzen direkt am Panorama, und die anderen in zweiter Reihe. Und weil weder Sumpf noch 13 Grad andere Reisende abgehalten haben, hier ihre Mahlzeit einzunehmen, bleibt mir nur Bankerl weiter hinten, denn, so denke ich mir, besser schlecht sitzen als gar nicht sitzen. In der Speisekarte finde ich Brezenknödel, die ich auch prompt bestelle. Allerdings weist mich der Kellner darauf hin, dass es saure Brezenknödel sind, so etwas wie saures Lüngerl, in Essig eingelegte Brezenknödel und kalt, also wie das Gesicht einer Wahlverliererin, der der Jamaikapartner davongelaufen ist, was an Tagen wie diesen vielleicht nicht die ideale kulinarische Freude ist. Ich will schon den Mund aufmachen und sagen, ich ginge mit diesem erneuten Verzicht nun wirklich an die Schmerzgrenze, aber da fällt mir auf, dass dort unten auch keine Journalisten stehen, denen och vom balkonartigen Biergarten erst zuwinken und dann in die Mikrophone mein Leid klagen kann.
Ich mache also kein Drama, gehe einen Kompromiss ein, und bestelle Bergkästopfenpflanzerl mit Sauerrahm und Salat. Zusammengefasst habe ich also keine 19 Grad bekommen, sondern nur 13. Ich konnte meine Weste nicht ausziehen, sondern musste sie anbehalten, kam mit meinen Schuhen in den Schlamm, ohne den See zu sehen, und sah mich gezwungen, in der zweiten Reihe etwas zu essen, das ich aber gern mit Bergen und nicht mit anderen Menschen dahinter abgelichtet hätte. Ich bin wirklich an die Schmerzgrenze gegangen, so auf ein paar Kilometer oder sogar Lichtjahre vielleicht, denn es hat eigentlich kaum weh getan und alles in allem ging es mir doch ganz gut, im Vergleich zu jenen, die nicht hier waren. Denn mehr Leute hätten auch gar nicht in den Biergarten gepasst, und so muss ich sagen: Ja, ich bin Kompromisse eingegangen. Trotzdem war es schön und ich bin niemandem böse. Ich komme wieder, auch bei 11 Grad, selbst wenn mir so ein Sommertag lieber wäre.
So ist das nun mal., das Leben ist ein einziger Kompromiss, und gut leben bedeutet nicht, alles zu bekommen was man will, sondern die Kompromisse so zu gestalten, dass auch die zweit- und drittbeste Lösung für Individuum und Gesellschaft gut erträglich sind. Im niederen Volk nennt man das “Fünfe auch mal gerade sein lassen” oder “die Kirche im Dorf lassen”, penibel abweichendes Verhalten gilt dagegen als unkommod, und man mache doch bitte keine Visimatenten. Der Kompromiss unterscheidet die bürgerliche Gesellschaft vom diktatorischen Absolutismus mit seinen Sonnenkönigen, die nach Laune entscheiden können und keinerlei Rücksicht nehmen müssen. Im Reich des Sultans ist das heute noch so, aber bei uns hat man sich aufgrund der Erfahrungen dazu entschieden, dass man auf Ausgleich bedacht ist. Wir rutschen also auf dem Bankerl zusammen, damit mehr Platz ist, wünschen gut zu speisen und erstellen keine Liste von Punkten, in denen wir uneinig sind, um dann das nächste Mal woanders zu essen. Es ist genug für alle da. Und man glaubt dem Wirt, dass er sich bemüht, es den meisten so recht wie möglich zu machen.
Früher funktionierten auch politische Verhandlungen so: Es gab Gewinner und Verlierer, und weil die Gewinner an den Trögen der Macht bleiben wollten, zogen sie nicht ihre Programme eiskalt durch, sondern überlegten sich, wie sie denen, die sie nicht gewählt hatten, vertretbare Angebote machten. In einer uniformen Gesellschaft, in der jeder Wohlstand und Sicherheit will, und möglichst einen sozialen Aufstieg mit Haus und zwei Autos, war das nicht sonderlich schwer: Man stellte die Nationalökonomie auf das Staatsvolk ein, und so konnten zwar nicht alle, aber doch sehr viele recht gut leben. Es gab üble Fehlentwicklungen wie Atomkraftwerke, Betonburgen des Brutalismus, das achtstufige Gymnasium, einen überzogenen Fortschrittsglauben und auch heute noch die Aufweichung des Alpenplans un Bayern, aber, das muss man zugeben, es häte auch noch schlimmer kommen können. Hin und wieder revoltierte das an die Schmerzgrenze getriebene Wahlvolk, um die Politiker darauf hinzuweisen, dass die Sache mit dem allgemein akzeptablen Kompromiss zwischen Volk und Politik vergessen wurde. Dann wurde mehr oder weniger einsichtig aus Gründen des Machterhalts nachjustiert.
Früher zumindest. Heute sagt Julia Klöckner, Vizevorsitzende der CDU, dass Aussagen wie “Deutschland den Deutschen” andere ausgrenzen würden und deshalb fragwürdig sind, obwohl Staaten gemeinhin keine Grenzen haben, um alles und jeden einzugrenzen. Außerdem gibt es da einen Amtseid mit der Klausel “zum Wohle des deutschen Volkes, was sich auf die Deutschen bezieht, und eben nicht auf jeden, der sich hier legal oder illegal aufhält. Klöckners Beinahekoalitionspartnerin Katrin Göring-Eckardt sieht sich auch als Lobby der Staatstiervölker: “Wir wollen dass in diesen vier Jahren, dass jede Biene, jeder Vogel und jeder Schmetterling weiß, wir werden uns für sie einsetzen.” Mal abgesehen von der Frage, wie man das Vögeln, Bienen und Schmetterlingen erklären will: Sie sind keine Wähler. Genauso wenig wie die Europäer, für die die Sozialdemokraten die Vision einer europäischen Sozialpartnerschaft vertreten. Als Wähler muss man sich statt dessen möglicherweise von Andrea Nahles angesprochen fühlen, die auf dem Kongress der Jusos den SPD-Weg zur Groko als Schuld von “anderen” deklarierte: “Meiner Meinung nach brauchen wir in den nächsten Wochen alle, auch die Jusos, um aus dieser ungeheuerlichen, von anderen angerührten Kacke einen guten Weg nach draußen zu finden“, sagte sie, wenig elegant und bar jeder Einsicht, dass das katastrophale Wahlergebnis ihrer Partei möglicherweise, eventuell, vielleicht auch etwas mit dem politischen Kuhfladen zu tun hat, die SPD und CDU seit Jahrzehnten in führender politischer Verantwortung gemacht haben.
Denn wenn neben Bienen, Vögeln und Schmetterlingen am Koalitionstisch auch über das Wohl und Wehe der europäischen Banken und Schuldenrisiken anderer Länder verhandelt wird, über Geldtransfer zur EU und über die für die Grünen zentralen Menschenrechte von Leuten, die noch gar nicht hier sind, wenn entgegen dem Geist des Asylrechts die Neuerfindung des “Klimaflüchtlings“ auf das vom Dämmwahn schon schwer benebelte, moralische Grundgerüst gepfropft wird, und jede Partei die ihr nahestehenden Grüppchen mit Privilegien hier und Quoten dort und zwischendrin Verbandsklagerechten begütern will – dann sind das wirklich viele Interessen, die gebündelt werden müssen. In so einem Regierungsmoloch sind Kompromisse nur möglich, wenn man die Steuerreinnahmen des Staates reihum verteilt – wie das in Berlin angeblich draghiesk hieß, „whatever it takes“, Hohe Energieeinspeisungstarife für die einen und Befreiung für die anderen. Ein Kohleausstieg, juristisch so fragwürdig wie der Atomausstieg mit seinem Minuserfolg bei der Brennelementesteuer. Oder der Versuch einer einheitlichen Bildung im Land, die kaum eine allgemeine Angleichung an den bayerischen Goldstandard nach sich ziehen wird. Oder die Abschaffung des Ehegattensplittings, die bindungsunfähige Feministinnen fordern, und die der SPD wegen jener Steuereinnahmen gefällt, die dann freihändig an Sprachpolizisten verteilt werden.
Auch so kann man in einer nicht mehr uniformen, sich auseinander entwickelnden Gesellschaft Kompromisse machen. Es sind leider nur Kompromisse, die mit dem Geld der Steuerzahler verschwenderisch umgehen und die Frage aufwerfen, wo da eigentlich noch das Volk bleibt, von dem eigentlich alle Macht ausgehen sollte. Sicher, das Volk ist ein anderes als unter Adenauer oder Schmidt oder Kohl, es lässt sich nicht mehr so leicht unter einen Hut bringen. Nicht umsonst sitzen heute sieben Parteien im Bundestag, die versuchen, für ihre Anhänger und Lobbygruppen das Beste herauszuschinden. Vermutlich findet man Anhänger aller Parteien auch im Biergarten, aber hier gelingt es, allen einen Platz und ein gutes Essen zu geben, weil man sich am Gemeinsamen orientiert und es erkennbar gut mit ihnen meint. Man könnte auch noch eine Champagnerlounge für EU-Steuerbetrüger und Apotheker einbauen, Retro-DDR-Wochen veranstalten, einen Veggie-Day einführen, und einen Tag moralisch korrektes Ökohungern mit Klimakatastrophensimulation feiern, sowie einer Zwangsabgabe für Vögel, Bienen, Schmetterlinge, EU-Banken, Ex-Stasis, Frauenquoten und inklusive Gesamtschulen auf den Preis erheben, und den Parkplatz für alle Dieselbesitzer sperren – und das alles mit der “ungeheuerlichen, von anderen angerührten Kacke” erklären. Das wäre dann ein ungeheuerlicher Groko-Biergarten, in dem sich jede mögliche Regierungspartei irgendwo wiederfindet. Ich glaube aber, dass es gute Gründe gibt, das nicht zu tun, denn die normalen Gäste würden wegen dieser Kompromisse auf ihre Kosten davonlaufen.
Besser wäre es, sich wieder zu überlegen, wie man Kompromisse für das Volk macht, direkt und ohne Umwege über kassierende Lobbyisten, Verwaltungschaos, überzogene Ideale, Weltfiedensbemühungen und ausserstaatliche Strukturen. Kompromisse, die das Volk versteht, und die ihm den Eindruck vermitteln, es ginge erst einmal um die Menschen, wie das auch im Biergarten ist. Danach akzeptiert man auch gern den ein oder anderen Kompromiss. Wir sind ja nicht so, wenn wir gespeist und anderen in den Büros Bilder vom guten Leben geschickt haben.