Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument.
Karl Marx
Also, Sie kennen das ja auch, wenn Sie schon einmal eine Fäkaliengrube der frühen Neuzeit im Keller ihres Barockpalastes ausheben mussten, um darin stilsicher Ihre Leichen zu vergraben: Es kommen kubikmeterweise Fäkalien heraus. Es finden sich bergeweise Scherben von irdenem Geschirr. Hin und wieder stößt man auf ein Henkelchen einer Favenceschüssel, oder auf einen zerbrochenen Weinbecher aus Waldglas. Aber nur ganz selten und nur, wenn Ihr Palast wirklich bedeutungsvoll war, finden Sie nördlich der Alpen auch mal ein Stück eines venezianischen Glases. Und noch seltener sind darin rosarote Färbung und Goldflitter. Wenn Sie das finden, dann wissen Sie: Sie wohnen wirklich standesgemäß. Also, wenn Sie so einen Palast mit Fäkaliengrube haben natürlich. Das hier ist so ein venezianisches Glas, wenngleich auch aus dem frühen 20. Jahrhundert, aber dafür unzerbrochen.
Ich habe es natürlich nicht aus meinen Fäkaliengruben im Keller, sondern von einem Antikmarkt in Mantua, und als ich es sah, hatte ich schon einiges gekauft, und hatte fast so wenig Geld übrig wie die SPD Wähler. Ich habe nicht einmal nach dem Preis gefragt, aber der Händler machte daraus kein Geheimnis, als er mich Deutschen das Glas begutachten sah. Und nannte einen so niedrigen Preis, dass mir das gute Stück fast aus der Hand gefallen wäre: Bei uns im Antiquitätenhandel hätte man früher ein Vielfachen bezahlt. Aber die rosagoldene Schale ist gross, und der Italiener lebt wegen der Euro-Krise eher beengt. Also trennt man sich öfters von den guten Stücken, als es für den Preisen gut tut. Man entkulturiert sich von einer großen Vergangenheit des eigenen Landes und dem nationalen Kunsthandwerks unter dem Zwang der Ereignisse. Die Deutschen dagegen sind die Herren des Euro und ihrer eigenen Leibeigenschaft von Banken und Wirtschaft: Wenn die sich von der früheren Größe des Landes, vom alten Luxus, vom Überfluss der errafften Geschichte trennen, dann tun sie es mutwillig. Und je wichtiger den Deutschen etwas früher war, desto böswilliger vernichten sie es ideologisch. Heute wird das Auto auf 80km/h auf Landstrassen von einer Partei gedrosselt, deren Wähler so einen Klimazielruinierer als Statussymbol des eigenen Erfolgs betrachteten. Davor vernichtete man schon den Ruf des Porzellans.
Wie das Auto ist auch das Porzellan ein wichtiger Teil der deutschen Wirtschaftsgeschichte – grad so, wie die Fayence und Gläser für die Italiener. Porzellan wurde in Deutschland neu erfunden, um sich von der Abhängigkeit von den Chinesen zu befreien. Weil die Herstellung ein komplizierter Prozess ist, mussten viele Erfindungen gemacht werden, von denen wir bis heute profitieren. Porzellan war immens teuer, die nötigen Kapitalmittel erzwangen Konzentrationsbemühungen jenseits der alten Zunftordnungen, und es war ein Luxusgegenstand der absoluten Selbstverwirklichung: Vor der Porzellanentdeckung durch Johann Friedrich Böttger 1708 musste man an Tellern und Figuren kaufen, was die Chinesen lieferten. Aber mit den eigenen Arkanisten konnte man eigene Vorstellungen verwirklichen, und sich auch selbst in den Mittelpunkt stellen. Es entstanden Hofmanufakturen, in denen das eigene Leben und – idealisiert – das der Landbevölkerung dargestellt wurde, in 20cm hohen, weissen Püppchen, die damals schon pro Stück den normalen Nettomonatslohn eines höheren Beamten kosteten.
Nichts hat sich seitdem eigentlich geändert. In der Manufaktur Nymphenburg bekommt man die erstklassigen Kommödianten des Franz Anton Bustelli ab etwas über 4.000 Euro, es kann aber auch leicht fünfstellig werden. Es gibt noch Menschen, die das kaufen, aber die wenigsten werden die Stücke noch als Tischzier bei Banketten verwenden, wie sie eigentlich gedacht waren. Es sind Vitrinenstücke, und genau so wurden sie auch aufbewahrt, als die wahrhaft grosse Zeit der Porzellanfiguten begann. Denn während die frühen Manufakturen oft mit der französischen Revolution und den Krisen der napoleonischen Zeit schliessen mussten, entstanden neue Firmen für das zu Reichtum gelangte Bürgertum vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Biedermeier wurde vom Historismus und vom Wiener Barock abgelöst, und in jener Zeit des Rückgriffs ergötzte man sich auch wieder gern an alten und neu geschaffenen Figuren. Oder wie man es heute pauschal nennt: Kitsch.
Das hier ist so ein Stück, das das Pech hat, nicht von einem bedeutenden Künstler des Rokoko, sondern nur von einem Modellierer des späten 19. Jahrhunderts entworfen zu sein. Wie so oft bei Kitsch sind auch diese Stücke mit hohem Aufwand verbunden gewesen, und waren für den Bürger damals richtig teure Luxusgegenstände. Aber es war nur Nachahmung einer vergangenen Zeit, es ist nicht alt genug, und es war so populär, dass die schieren Mengen auf dem Antiquitätenmarkt den früheren Luxus zum Ramsch machen. Heute will das kaum jemand mehr. Viele haben auch nicht die passende Einrichtung. So etwas bleibt beim Erbfall liegen, und selbst die Nachlassverwerter können damit nichts anfangen, wenn es nicht Meissen, Augarten oder Nymphenburg ist. Und in den Augen meiner Zeitgenossen ist es süßlich und kitschig, wie sie die beiden da um den Übergabe einer Rose zusammen winden. Die 68er haben mit dieser falschen Romantik gründlich aufgeräumt. Mit den 68ern begann der totale Niedergang der Porzellanindustrie, und das gnadenlose Wegwerfen.
Dabei sind die Ideale, die von diesem Paar verkörpert wurden, in der Entstehungszeit alles andere als rückschrittlich gewesen. Das Bürgertum eignete sich um 1870 eine Geschichte und einen Luxus an, die seine Vorfahren 1770 in aller Regel nicht hatten. Das Bürgertum wollte aber eine gute Vergangenheit zur Selbstlegitimierung, und kaufte daher Möbel und Kunst der untergegangenen Epoche. Was es nicht gab, wurde eben nachgemacht, so wie diese Tanzgruppe. Wer sich mit der Zeit um 1770 beschäftigt, weiß natürlich, dass damals die Zwangsverheiratung erheblich wichtiger als jene freie Liebe in der Natur war, die hier vor Augen geführt wird. Man muss die beiden Tänzer als Boten der neuen Zeit betrachten, in der Frauen ihre Rechte einforderten und sich nicht mehr wie ein Stück Vieh für die Steuereinnahmen einiger Dörfer verhökern ließen. Die Bürgerfrauen des 19. Jahrhunderts hatten gewisse Erwartungen an die Männer, und wenn man sich das Paar anschaut, dann sieht man: Er schmachtet sie an, und sie weiß, dass er etzad der Katz ghert, wie man in Bayern so schön sagt.
Es zeigt also im Rosenkavalier und der Angebeteten eine bestimmte Art des Courtoisie, ein an sich adliges Verhalten, das das Bürgertum durch den Kauf so einer Preziose als Standard für das eigene Benehmen neu definiert. Es ist eine selbstbewusste Aneignung und Überhöhung, denn die Paare des 19. Jahrhunderts sind feiner, prächtiger und pompöser als die frühen Originale, die Blicke sind nicht mehr manieristisch, sondern emotionaler, und die Gestik wird deutlich dynamischer. Es ist eben alles in Bewegung zu jener Zeit, Klassengrenzen lösen sich auf, die Wirtschaft brummt, der nächste Krieg ist noch Jahrzehnte entfernt, und die eigene Vergangenheit ist allen reichlich heilig, speziell die in der guten, alten Zeit mit echter Leibeigenschaft und ohne Notwendigkeit von Sozialistengesetzen. Franz Blei gräbt dazu die Lustbarkeiten jener Epochen aus, und vergisst die Schattenseiten: So wird der Tanz des Adels auf der sommerlichen Blumenwiese von 1770 im Salon von 1870 gern gesehen.
Aber das ist nichts gegen den Luxus, den wir uns leisten, wenn wir das für Kitsch halten. Es ist heute möglich, diese Tänzer zu belächeln, weil man auch ohne jede Konsequenz und Tanzübung im Schlamm bei Wacken moshen kann. Man schiebt heute keine Hände mit Rosen weg, sondern gleich ganze Profile bei Tinder. Man verfällt sich nicht mehr, weil man die Sexualpartner bei Nichtgefallen jederzeit wechseln will. Man will sich nicht mit zerbrechlichen Figuren belasten, die kaum den zweijährlichen Umzug überstehen. Man hat in Jeans und T-Shirt keinen Bezug mehr zu Kleidung, die erst nach einer Stunde richtig am Körper saß. Und Prestige und Luxus sind nicht mehr im Porzellan zu finden, das als Goldrand nicht in die Spülmaschine kann, und als Starterset nur ein paar Euro kostet. So weit muss man erst mal kommen, dass man den Luxus früherer Zeiten so verachten kann.
Denn in weiten Teilen der Welt wäre es auch heute nicht möglich, frei mit einer Frau so oder anders zu tanzen. Eine Frau würde nach solchen Bewegungen als entehrt gelten. Es gibt Regionen, in denen man diese Frau nach dem Tod des Mannes in den Selbstmord treiben würde, und andere Regionen – zu denen auch die westliche Welt mit ihren Migrationsströmen gehört – in denen man manche Frau schon als Kind an der Klitoris verstümmelt hätte. Es gibt politische Partner unseres Landes, die ihre Bewohner auspeitschen würden, würden sie ein Tänzchen wohl wagen. Es gibt Regionen, in denen die Männer das Geld verspielen, das ihre Frauen im Strassenbau verdienen, und Regionen, in denen die freie Liebe nichts, überhaupt nichts zählt. Wir leben in einer freien Gesellschaft, die es uns erlauben würde, den Kitsch nachzustellen und auf Blumenwiesen zu tanzen. Diese Welt umfasst noch nicht einmal das Mittelmeer und nur einen kleinen Bruchteil der heute lebenden Menschen. Der Rest ist immer noch reichlich nah an den Dystopien des Rokoko, durch die Voltaire seinen Candide stolpern lässt. Unser Kitsch ist nicht einmal die ferne Hoffnung für andere. Er ist einfach nicht verständlich.
Es liegt mir fern, den aktuellen Präsidenten der Vereinigten Staaten zu bemühen, aber im Prinzip stehen wir auch nur über einer historisch reich gefüllten Abfallgrube dieses Planeten, in der manches Relikt verführerisch funkelt und von frühem Luxus kündet, und anderes eher nicht, und gern übersehen wird, selbst wenn es schrecklich riecht. Wir werfen in dieses Loch unsere eigene Vergangenheit und unterschiedslos ihre Flausen, Dummheiten, Stärken und Ideale, weil wir es können, und weil wir denken, wir wären weiter und etwas Besseres. Souverän ist, wer über Kitschzustand entscheidet. Wir tun das mit der sorglosen Leichtigkeit eines Porzellanpaares, mit aufgemalten Lächeln der Selfies und so selbstvergessen, wie man 1770 nicht mit einer Revolution rechnete, und 1900 nicht das Rattern der Maschinengewehre und dem Gestank der chemischen Waffen ahnte. Es geht uns sehr, sehr gut, so gut, dass wir alle paar Jahre neue Möbel kaufen, statt die einen Vitrine von Tante Gerdi zu behalten, die längst vom Entrümpler abgeholt wurde. Die Erwartungen an die Zukunft sind groß, Geschichte ist etwas für Romantiker und andere Rechte. Den Klassenkampf lagern wir an die roten und schwarzen Steuereintreiber aus, und das porzellanweiße Mobiltelefon kommt auch wieder aus dem fernen China. Manche denken möglicherweise, dass das Frauenbild in Porzellan schon ziemlich patriarchalisch ist, während an der Grenze der Türkei Leute warten, die in Syrien gern Sexsklavenmärkte gehabt hätten, und der Meinung sind, man sollte uns allen den Kopf abschneiden, und unsere Leichen dann in die Abfallgruben werfen, mit allem, was uns heilig und was uns Kitsch ist.
Auf den Tag genau seit 9 Jahren schreibe ich dieses Blog über das Alte Europa, seine Eliten und seine materielle und geistige Natur. Und es mag sein, dass das Alte Europa kaum snobistischer und kitschiger als in diesen Tänzern sein kann, und ich damit einen kulturellen Tiefpunkt in unserem voralpinen Pralinen-und-Lederhosengraben auslote. Trotzdem: Seien wir froh, dass Teile unserer Geschichte so viel besser sind, als die absehbare Zukunft so vieler anderer.