Bitte… Lasst mich in Ruhe… Nein, hab ich gesagt.
Maddalena (Anouk Aimée) in Fellinis “La Dolce Vita”
Im Mittelalter gab es in den Städten Mauerrechte. Es war ein Privileg, in der Stadt eine Mauer errichten zu dürfen, das üblicherweise nur besonderen sozialen Gruppen zustand: Bischöfen, Klöstern, Vögten, Vertretern des Kaisers und auch Juden, deren frühe Wohnviertel durch eine gebaute Trennlinie als Zone mit Sonderrechten gekennzeichnet wurde. Die Mauern in der Stadt waren wegen der offenkundigen Bevorzugung ihrer Bauherren Konfliktherde, und wenn die Bürger die Macht ergriffen, sorgten sie oft für deren Schleifung. Das Bürgertum will keine Mauern und Sonderrechte, es will freien Austausch und Handel, lehrt uns die Geschichtswissenschaft, und verbindet mit dem Einreissen der Mauern den Aufstieg der Stadtbewohner zum Machtfaktor des späten Mittelalters. 500 Jahre später, erneut beim Bürgertum:
Dieses Bauensemble aus Strasse und Mauer nennt sich offiziell “Ringstrasse” und “Lärmschutzwall”. Der Lärmschutzwall ist vier Meter hoch und zieht sich von der Donau bis zum Westfriedhof meiner Heimatstadt hin, insgesamt 1100 Meter. Östlich der Strasse liegt der Stadtpark und die Altstadt, westlich davon das Westviertel. Genauer: Das “alte Westviertel”, wie es in den seltenen Immobilienanzeigen genannt wird. Das alte Westviertel heisst so, weil auch andere Siedlungsbereiche im Westen “Westviertel” genannt werden, ohne jedoch das echte, alte und einzig wahre Westviertel zu sein: Das Westviertel mit den Tennis- und Ruderclubs und, im Naturschutzgebiet daneben, mit dem schönsten Badesee im Umkreis von 30 Kilometern gesegnet; das Westviertel, in dem man wohnt, und das vom Friedhof, den Donauauen und vom Schutzwall gegen den Rest der Stadt abgeschirmt ist.
Das ist der Schutzwall aus Sicht des Westviertels. Älteren Berlinern und Freunden der DDR dürfte dieses Konzept mit dem Fahrstreifen, der Mauer, den Bogenlampen und dem Asphalt davor bestens bekannt sein. Es gibt hier keine Minenfelder und Selbstschussanlagen, aber nur ein Lebensmüder würde die Ringstrasse dieses raserfreudigen Städtchens betreten – hier produziert schliesslich ein Weltmarktführer begehrte Fahruntersätze für Autobahndrängler. Man kann an der Ringstrasse und Mauer nicht parken, sondern nur vorbeifahren. Hier kommt keiner so leicht rein. Hier kann auch keiner von der falschen Seite aus mal eben zufällig hingehen. Es gibt keinen Weg hierher.
Natürlich gibt es eine Zufahrt in die Tempo-30-Zone dahinter. Eine einzige Zufahrt. An dieser Stelle im Westwall wacht ein Betonungetüm mit einer zweiten Mauer in Tarnfarben und Fenstern, die an Schiessscharten erinnern. Anwohner werden erklären, dass es nur Zufall ist: Zuerst wurde das Gebäude gegen die laute Ringstrasse errichtet, und danach kam auf Drängen und Drohen der Anwohner die eigentliche Mauer. Was sie an dieser Stelle vielleicht zu erwähnen vergessen: Die Leute, die in der Stadt entscheiden, werden von den hiesigen Ärzten betreut, sind mit dem Apotheker im Rotary Club, oder wohnen einfach hier. Andere Bewohner der Stadt haben mehr Lärm, und trotzdem keine Mauer, sondern allenfalls dicht gestellte, von der Stadt gegen Gebühr lizensierte Werbetafeln. Dafür haben sie aber keinen Waldorf Kindergarten – denn das ist dieser Betonbunker in Tarnfarben.
Der andere Weg von der Stadt ins Westviertel führt über eine nicht ganz billige Hängebrücke aus dem Stadtpark heraus, die für Radler und Fussgänger geeignet ist. Oben kann die bessere Gesellschaft in wenigen Minuten die pittoreske Altstadt besuchen, unten fährt der Arbeiter in die Fabrik. An dieser Stelle muss ich jedoch gestehen, dass ich diese Brücke gut finde: Weil sie an der Stelle ist, an der mein früherer Schulweg die Ringstrasse kreuzte, und eine Gefahrenzone entschärft. Ich selbst, wenn ich ehrlich bin, lebte als Kind auch im Viertel hinter dieser Mauer. Und schon damals, als es den Schutzwall nicht gab, war diese Gegend eine eigene Welt. Ich fuhr mit dem Rad und dem Sohn eines Managers los, traf unterwegs die Töchter des Chefs der Dresdner Bank, die Tochter eines Chefarztes, wir kurvten um den Mercedes des Ölfirmenbetrügers und den zitronengelben 911er der reichen Witwe herum, sammelten die Apothekertochter und den Firmenjunior ein, und erreichten nach ein paar grünen Minuten zwischen grossen Gärten, Auwald und dem Stadtpark unsere Schule. Wir kannten einfach keine Blockbewohner, das gab es dort nicht, und ich bezweifle auch, dass nächste Generation von anderen Lebensformen Kenntnis nehmen muss, zumal jetzt die Mauer dafür sorgt, dass noch weniger Menschen Zugang finden.
Manche werden darin vielleicht soziale Trennung und eine Art Klassenkampf von oben sehen, aber vielleicht tröstet die historische Perspektive: Nach dem Niedergang der mittelalterlichen Städte bildeten sich aus den Besten, Reichsten oder auch nur Brutalsten der Bürger die neuen Adligen heraus, die prompt wieder anfingen, Mauern in den Städten zu errichten. Und mehr noch: Ihre Wissenschaftler erdachten eine vertikale Trennung zwischen den Mächtigen und den Machtlosen, der Pöbel unten in den schmutzigen Strassen, die bessere Gesellschaft darüber in Sicherheit auf eigens angelegten Brücken und Wegen. In Florenz etwa baute der Architekt Giorgio Vasari ein System von Gängen zwischen dem Palazzo Pitti, den Uffizien und dem Palazzo Vecchio. Das heutige Kulturdenkmal kam bei seiner Errichtung den gewalttätigen Bauherrn Cosimo I de´ Medici sehr teuer, lohnte sich aber angesichts seiner Feinde, die kleinlich genug waren, ihm die Tätigkeit seiner Henker und bezahlten Mörder zu verübeln. Die heutigen Schutzmauern und Korridore werden von frei gewählten Vertretern des Volkes beschlossen, vom Staat für das Wohl seiner Bürger bezahlt, und hinter der Mauer hat es keiner mehr nötig, mit Killern seine Herrschaft zu wahren.
So gesehen ist das keine Oligarchie. Das ist Fortschritt.