Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der große Ungleichmacher Tod

Vor zweihundert Jahren reichte eine mittlere Tuberkulosewelle, um Arm und Reich gleichermassen an die Endlichkeit des Daseins zu erinnern. Vor hundert Jahren erinnerte die gleiche Krankheit die Armen an den Tod und die Reichen an den erfreulichen Umstand, dass sie noch eine Villa am Tegernsee hatten, wo sich die unschöne Zeit bis zum Wegräumen der Leichen aus den schlechteren Vierteln prima aushalten liess. Insofern bin ich mehr als skeptisch, wenn heute die soziale Gerechtigkeit des Todes gepriesen wird - bei allem Respekt: Auch der Tod respektiert die bessere Gesellschaft und weiss sich zu benehmen.

Lasst euch nicht vertrösten, Ihr habt nicht zu viel Zeit.
Lasst Moder den Verwesten, das Leben ist am grössten, es steht nicht mehr bereit.

Bertolt Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Im Tod sind wir alle gleich, sagen die Linken, die Unzufriedenen, die Realitätsverleugner, die Neider und alle, die keine Weltrevolution mehr sehen werden. Das letzte Hemd hat keine Taschen, singen die Toten Hosen, glauben die Hartzvierer, versichern sich die Besitzlosen, schreibt man in diesem Blog in die Kommentare. Die Maden fressen jeden, erzählen die Betschwestern, die Profiteure der sozialen Berechtigung, es rülpst der Vulgärmarxist, und es stände so geschrieben im Urin der Obdachlosen und der Seniorenresidenzler. Es lebe der Tod, der alle unterschiedslos niederstreckt, der alle erwischt, und der als einziger keinen Unterschied zwischen reich und arm macht. Der Tod, die letzte Zuflucht für die Hoffnung auf so etwas wie irdischen Ausgleich. Das Ende des Lebens als Anfang des Sozialismus, die Brüderlichkeit der Fäule in der Stadt der Schmerzen, denn Gerechtigkeit bewegte ihren Bauherrn, die erste Liebe und die höchste –

Weisheit*, naja. Wirklich? Ist der Tod der finale Gleichmacher, der Lafontaine-Gysi mit Kutte und Sense, das letzte höhnische Lachen über den eitlen Glauben, dem Unausweichlichen entkommen zu können? Oder ist dieser sozial gutmeinende Tod nicht etwas älter als Karl Marx und alle Sozialrevolutionäre?

Bild zu: Der große Ungleichmacher Tod

Denn exakt diese Art des gleichmachenden Todes findet man schon im Jahre 1655. Ausgerechnet in einer von extremer Ungleichheit geprägten Gesellschaft: Im barocken Spanien, das bis 1648 mit militärischer Gewalt versucht hatte, jede Gleichheitsbestrebung in den – vormals spanischen – Niederlanden in Blut zu ertränken. In diesem reaktionären Gottesstaat, in dem die Korruption wucherte und die Bevölkerung verarmt war, schrieb der Priester Pedro Calderon de la Barca Propagandaschauspiele, um die Massen bei der Stange zu halten. 1655 kam “Das große Welttheater” auf die Bühne, in dem alle Stände vorgestellt werden, eine Weile leben, dann unterschiedlich schnell sterben und beurteilt werden. Leicht geht etwa der Bettler von der Welt, leicht befreit sich der Bauer von der irdischen Mühe, aber der Reiche winselt vergeblich um sein Leben. Und am Ende sind sie alle, wirklich alle tot. Und das Publikum ist trotz aller sozialen Unterschiede zufrieden, den Reichen auf Knien gesehen zu haben. In Calderons Theaterpuff kriegt jeder, was er braucht.**

Es sollte offensichtlich sein, dass irgendwas nicht stimmt, gar nicht stimmen kann, wenn die Linke des 21. Jahrhunderts die Thesen des totalitären Klerus des 17. Jahrhunderts nachplappert. Tatsächlich ist am Ende jeder tot, aber manche sind schneller und unschöner tot als andere. Grob gesagt: Der Arme stirbt früher. Und weil es hier um den Tod geht, der immer auch brutal und ehrlich ist, möchte ich es auch sein: Ich, der ich diese Worte am mit Millionären gespickten Tegernsee schreibe, habe eine weitaus bessere Lebenserwartung als Leser dieses Textes in Berlin, Hamburg, Essen oder Frankfurt.

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Die Gefahr etwa, von Angehörigen bildungsferner Schichten beraubt oder auch nur zu deren Vergnügen verletzt zu werden, ist hier mangels solcher Schichten praktisch gleich Null – der übliche Raub wird hier gewaltfrei über Steuerhinterziehung am Staat begangen. Wenn es hier schneit, rückt sofort die Gemeinde aus und sorgt dafür, dass alle Wege begehbar sind, während das Schaben von Schneeschaufeln in Berlin seltener gehört wird als die Schreie der Rentner, die stürzen und sich die Oberschenkel brechen. Gesundheitliche Risikofaktoren wie Feinstaub und Luftverschmutzung sind hier so gut wie nicht existent, und der See hat Trinkwasserqualität. Die Ärztequote ist extrem hoch, die Wege sind kurz und liegen bei mir exakt auf der Route des Heilklimawanderwegs. An diesem Weg findet sich auch ein Schild mit “Vorsicht – freilaufende Hühner”, wo ich meine Eier kaufe, und die Milch der Biokäserei kommt exakt von jenen Kühen, deren artgerchte Haltung mit Glocken auf der Weide zehn Meter vor meiner Terrasse stattfindet. Dazu kommt das subjektive Wohlbefinden: Es gibt nichts, was einen ärgern könnte. Niemand versaut Häuser mit Schmierereien, keiner brüllt einen an, keiner will mal einen Euro oder die ganze Brieftasche, man ist nicht das Freiwild von Rasern, für Hundekot gibt es Beutel. Man geht sorglos aus dem Haus und kommt, wenn man sich nicht gerade mit dem Rodel derrennt oder von einem Niederländer mit Lizenz zum Autotöten von der Bergstrasse gefegt wird, ebenso sorglos nach Hause.

Im Ergebnis leben die Reichen in diesem Land – und hier kann man nicht wohnen, wenn man arm ist – laut Statistik durchschnittlich zehn Jahre länger als die Armen. Was mich wirklich erstaunt, wenn ich sehe, wie sich die alten Schachteln mit dem Taxi ihrer Seniorenresidenz in ein anderes Dorf am See fahren lassen, um dort mit wirklich harten Torten den ärztlichen Weisungen Hohn zu sprechen. Was man hier vom Alter sieht, macht absolut nicht den Eindruck einer schwierigen Zeit vor dem Tod. Es gibt Konzerte, Seniorenwandergruppen, Pferdeschlittenfahrten und alle paar Wochen Gelegenheit, den alten Mercedes oder Bentley mit vielen Gleichgesinnten zu lüften. Die ganze Region hat sich sehr genau überlegt, wie man eine Zeit amüsant gestaltet, die der untere Durchschnitt der Deutschen im Erdreich gedankenlos angehen kann.

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Es mag zynisch klingen, aber das ist die Realität. Zehn Jahre ist eine Menge Zeit. Im klaren Widerspruch zur sozialistischen Todeserwartung ist man diese zehn Jahre absolut nicht gleichgemacht. Es sind auch nicht zehn Jahre im Rollstuhl oder im Altersheim. Man ist einfach etliche Jahre später dran mit all den Problemen, die das Sterben so mit sich bringt. Es ist natürlich nur Statistik, keiner kennt die Art und Stunde seines Todes, auch hier sterben manche reich und jung. Individuell kann man sich nicht sicher sein, aber als Klasse, als Kollektiv lebt man länger und angenehmer. Als Verschlechterung getarnte Reformen des Gesundheitssystems dürften in Zukunft dafür sorgen, dass die Unterschiede noch grösser werden. Was dem einzigen Trost aus den Zeiten Calderons, den Armen noch unterstellen zu dürfen, dass der Tod eine Befreiung von irdischen Qualen sei, wieder Geltung verschaffen wird.

Den Rest der Illusionen Calderons sollte man schnellstens vergessen. Wir leben ungleich, wir sind ungleich krank und gesund, wir sterben ungleich. Schlechtere Viertel in Berlin sind da auf dem halben Weg zwischen dem Tegernsee und der Ukraine. Es mag wie Hohn klingen, wenn ich vom Tegernsee aus die Lektüre von Bertolt Brechts Mahagonny empfehle, in dem geschrieben steht: “Denn wie man sich bettet, so liegt man. Es deckt einen keiner da zu.” Genau so ist es.  Man muss die weitere Handlungsmaxime des Textes, der ironischerweise von einem Herrn Ackermann gesprochen wird – “und wenn einer tritt, dann bin ich es” – nicht befolgen. Aber der Tod ist längst ein Komplize der Reichen, wie der Brandner Kaspar haben sie es am See verstanden, ihn zu vertrösten, es ist natürlich teuerer geworden als zu der Zeit, da noch eine Flasche Kirschgeist reichte, aber Geld spielt keine Rolle.

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Letzten Sommer war ich in Seeglas, einem Restaurant unten am Strandbad. Es war sehr voll, aber bei uns war noch Platz. Ein ziemlich alter Mann mit Krückstock fragte, ob hier noch frei wäre, wollte sich nicht den Stuhl hinschieben lassen, und erzählte dann, dass ihn die Krücke sehr störe – und schuld sei nur diese Tennisspielerei, da habe er sich den Bruch geholt. Vor vier Jahren, als er noch 90 war. Calderon selbst wurde in ärmlichen Verhältnissen 81 Jahre alt und starb 1681, aber nie waren er und seine Stücke so tot wie an jenem Sommertag, da der alte Herr aus dem silbernen Flachmann den Tee im Rum ersäufte, sich eine Zigarette anzündete und hinüberblickte zum sanften Hügel, auf dem sich seine Villa befindet.

Liebe Marxisten, der Tod ist kein Meister mehr, sondern ein fauler, korrupter und unzuverlässiger Gastarbeiter aus Berlin.

[*, **: mit Anleihen bei Dantes göttlicher Komödie und Villons Ballade von der dicken Margot]

Begleitmusik: Ähnlich populär und volksnah, aber heute ungleich erfreulicher als Calderon ist die Musik des spanischen Komponisten José Marin, der von 1618 bis 1699 lebte, und dessen Wege Calderon gekreuzt haben dürfte. War der Theaterautor ein sittenstrenger Mann am Hofe von Madrid, hielten Marin die Priesterweihe und sein Amt als Tenor am Hof nicht davon ab, als Wüstling und Freund der Unterwelt zu erscheinen. Marin ist ein Fälscher, Räuber und Mörder; in Zeiten des grossen Welttheaters wird er gefoltert und zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Während Calderon die hohen Sitten verherrlicht, läuft Marin vor dem Galgen davon, nimmt die Musik der Strassenmusikanten und die lasziven Texte der Liebhaber auf, und leistet so seinen Beitrag zu einem Spanien, das man auch heute noch mit Genuss hören kann – etwa auf dem bei Aliavox erschienenen Tonträger “Tonos Humanos”, auf dem Montserrat Figueras vom Tod, dem Leben und der Liebe singt.