Die Öffentlichkeit freute sich über die Entdeckung, dass sie trotz ihres vielen Geldes so scheussliche Monstren waren, und man war allerorten rundum zufrieden.
F. Scott Fitzgerald, Die unmögliche Figur
1931 war kein besonders schönes Jahr, für die meisten. Zu den Nichtmeisten gehörte Tante B., die aus Bayern kommend in Hamburg einen Senfhersteller mit notorischer Zigarre im Mund geheiratet hatte. So erzählt eines ihrer vielen Photoalben, die bei uns im Keller dem Vergessen entgegenmodern, in diesem Jahr nicht von Wirtschaftskrise oder Arbeitslosigkeit, sondern vom Urlaub fern der üblichen Sorgen. Links (die Dame im rechten Fenster) mit dem landestypisch gekleideten Generaldirektor in Bad Wiessee am Tegernsee, und rechts in Bad Doberan, mit der sogenannten Perlenkette von Heiligendamm im Hintergrund.
Man würde fehl in der Annahme gehen, dass ich an eben jenen Tegernsee gezogen wäre, weil mir die Zwei- bis Viersamkeit mit Tracht und Wadlstrümpfen besser gefiele als die elegante splendid isolation in Heiligendamm. In den Erzählungen von Tante B. war Heiligendamm nur noch eine verblasste Erinnerung, die nach dem Krieg und erfolgreicher Immonbilienspekulation in der Trümmerwüste von St. Pauli durch Urlaube auf Sylt überlagert wurde. Spätestens 1939 war es mit dem angenehmen Leben an der Ostsee vorbei, dann kamen die Wehrmacht, die Russen und die Kommunisten. Tante B. zog nach dem Tod des Generaldirektors zurück in die bayerische Provinz, und hat Heiligendamm nie wieder gesehen. Trotzdem bin ich einer der wenigen, deren Familientradition sowohl vom mondänen Ostseebades und als auch vom beliebten Tegernsees erzählen kann.
Denn was Heiligendamm für Preussen, war der Tegernsee für die Bayern. In Kreuth herrschte reger Kurbetrieb, bayerische Könige, österreichische Kaiser und russische Angehörige der Zarenfamilie trafen sich hier im Sommer, und wer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etwas auf sich hielt, hatte hier eine Villa, oder zumindest ein paar Wochen Sommerfrische. Die Wittelsbacher wohnen immer noch hier, und eine Wohnung am See gilt im Süden vielen immer noch als Lebensziel. Hier ist man. Nach Heiligendamm dagegen muss man hin. Das muss man gesehen haben, sagen die Medien. Heiligendamm hat eine enorme Presse als wieder auferstandene Legende an der Ostsee, und geht es nach dem Immobilienunternehmer, der die Anlage mit ihren Villen 1996 gekauft und 2003 teilweise wieder eröffnet hat, so stünde sie in einer Reihe mit Biarritz, Cannes und dem Lido von Venedig. Dazu aber passt überhaupt nicht die Nachricht, dass sich gestern die Hotelgruppe Kempinski mit sofortiger Wirkung vom dortigen Grand Hotel getrennt hat, und es wieder dem Besitzer, der Fundus-Gruppe und ihrem Gründer Anno August Jagdfeld überlässt. Höchst unschön sollen die Geschichten sein, die zum Bruch führten; von nicht eingehaltenen Versprechen und Missmanagement ist da die Rede, von Beschwerden der Gäste und einem stockenden Ausbau der Anlagen. Nun will die Fundus-Gruppe das Projekt alleine betreiben – und eine Kapitalerhöhung von 41 Millionen vornehmen, nachdem zu Beginn von Investoren 127 Millionen eingesammelt wurden und, von Ihnen, werte Leser, und leider auch von mir, über einen öffentlichen Zuschuss 50 Millionen in das kadaverknochenweisse Grand Hotel am Strand geflossen sind. Die Kapitalerhöhung stelle ich mir in Zeiten wie diesen als reichlich amüsantes Unterfangen vor, nachdem die Hypovereinsbank schon 2007 einen 15-Millionen-Kredit gekündigt hat.
Ich könnte hier nun vieles erzählen über die Töcher gewisser Starnberger, die unstandesgemäss Golf statt Boxster fahren, weil sich die eitlen Hoffnungen des Herrn Papa bei Zeichnung von Fundus-Fonds nicht erfüllt haben. Ich könnte die vielfältigen und unschönen Prozesse aufzeigen, die zwischen Investoren und der Fundus-Gruppe geführt wurden, oder von der Ödnis erzählen, die das aufdringliche “Russen”-Quartier 206 – auch aus dem Hause Fundus – in Berlin erfüllt. Ich könnte andere Dinge erwähnen, die im krassen Gegensatz zu den Ansprüchen der Möchtegern-Elite im von Fundus verantworteten Adlon und China Club stehen, die besonders im Hause Conde Nast immer genehme Berichterstattung finden. Fundus kann man so und so sehen, man kann die Prachtbauten und hohen Ansprüche des Gründers loben, oder auf die jüngst erfolgte Zwangsversteigerung der Gutenberggalerie in Leipzig mit nicht minder hohem zweistelligen Millionenschaden für die Anleger verweisen – ich aber bin, wie die Bilder zeigen, aller Plag abhanden am Tegernsee, es ist sehr angenehm hier, und das hat seinen Grund.
Der Tegernsee hat eine durchlaufende bürgerliche Tradition. Hier könnte niemand wie in Heiligendamm einfach öffentlichen Raum am See zugunsten zahlender Gäste schwer zugänglich zu machen. Es gibt hier keine Exklusivität im Sinne des Ausschlusses der anderen, die man so gerne in Heiligendamm mit fünf Sternen in Anspruch nimmt. Man kann hier mit der Bummelbahn aus München anfahren und in ein Strandcafe gehen, einfach so. Heiligendamm ist dagegen der Versuch, an die Legende des durch Klassen definierten 19. Jahrhunderts anzuknüpfen, weil das 20. Jahrhundert mit seinen Betreiberinsolvenzen, Krisen, Nazis und, für Freunde gepflegter Dünkel noch schlimmer, Zeiten als spottbilliges Ferienbad sozialistischer Kader nicht ganz zur Mythenbildung passend war. Heiligendamm wollte keine Mischung und kein Nebeneinander, Heiligendamm wollte die Elite inmitten der Ödnis von Mecklenburg-Vorpommern, nahe Rostock und anderer Orte, wo niemand wohnt, den man kennt. Dieses am Ende in der Ostsee gnädig ersäufte Nichts wurde erfüllt vom Innendesign der Gattin von Herrn Jagdfeld, die man bei Conde Nast für eine Stardesignerin hält und deren Einrichtung keinen russischen Oligarchen nach dem dreimonatigen Besuch seiner mittelsibirischen Uranaufbereitungsanlage enttäuschen würde. Auch freie Journalisten mit einem Monatseinkommen von durchschnittlich 1500 Euro sind begeistert von der Eleganz, die sie dort erwartet, und voll des Lobes für einen Lebensstil, der ihnen mangels Vergleichsmöglichkeiten als gehoben erscheint. Ja, ich würde es auch nicht ausschliessen wollen, dass Metzgermeistersgattinnen aus Vierharting nach dem Besuch wirklich wünschten, auch so ein isabellabraunes Pseudobiedermeier und neochinesischen Plunder, so eine Art Merkmal dieser stilbildenden Interieur-Schule der Berliner Schwippschwagerrepublik, daheim zu haben.
Misery loves company, würde ich sagen, wenn es um die real existierenden Besucher der Anlage geht, wollte ich den Conde Nast Stil mit seinem Denglisch kopieren, der Nazimöbel als “Thirties” schick, chique findet. Denn auch, wenn hier die Legende wortreich beschworen wird: Es gibt keine bürgerliche Verbindung mehr. 65 Jahre sind zwei Generationen des radikalen Bruchs voller Krieg, Völkermord und Totalitarismus, und zu lang, um mehr übrig zu lassen als eine Legende. Eine Legende ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell. Und so findet man im Internet überall billigste Angebote, um die leeren Räume des Kempinski Grand Hotel mitsamt Legende an den Mann zu bringen, und zumindest so etwas wie regen Betrieb und Auslastung vorzutäuschen. 81 Euro für Heiligendamm, sagt sich dann die Metzgermeistersgattin, das kann sie sich auch mal leisten, den Grossbürger für eine Woche nachmachen, an der Legende partizipieren und daheim im Konzertverein mitreden, und vielleicht sogar erzählen, dass die in real Schweine hütende Grossmutter vor dem Krieg auch schon immer dort Urlaub gemacht hat. Ach, haben Sie auch das 81-Euro-Sonderangebot gebucht, möchte ich dann zurückgiften. Und damit klarstellen, dass Heiligendamm keine Legende lebt, sondern der misslungene Versuch eines Ausschlusses von eben jenen vulgären Leuten ist, die man danach mit Sonderangeboten wieder in diese Zone ohne Landschaft, Tradition und Zukunft locken muss. Mag sein, dass der Service für Ostdeutschland exzellent ist, und das Ambiente sich zaghaft über das Niveau von Einrichtungsshows im TV erhebt – aber unsereins würde es nicht überraschen, sässe angesichts des real existierenden Preisniveaus am Nebentisch eine gewisse Tine Wittler oder der Swingerclub “FKK-Freunde Neuruppin”, und deshalb fahren wir da nicht hin, oder zahlen gar die Preise, die am Empfang gefordert werden. Exklusivität geht anders. Das Bürgertum, das man an der Ostsee gerne hätte, lebt nicht in Legenden, sondern in Traditionen. Man ist, was man ist, und nicht das, was man laut Werbung und gekaufter Presse sein sollte. Man wohnt nicht bei Neureichen. Herr Jagdfeld verweist, wenn er nicht gerade Werte beschwört, gerne auf seine Selfmade-Karriere. Es überrascht nicht, dass er und der isabellabraune Stil seines Hauses in der nach Tünche plärrenden Berliner Republik etwas gelten, dass er mit Heiligendamm das potemkinsche Dorf einer grossen Vergangenheit betreibt, dort hinter einem Zaun texanische Ölmillionäre und uckermärkische Politiker beherbergt
– und den Unterschied zwischen konstruierten Legenden und fälschungssicheren Traditionen nicht kennt.