Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Menschenjagd in den Bergen – Epilog

Es gibt keine Börse in den Bergen. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Alle Börsen sind weit weg von Bergen. Und Berge sind meist auch reichlich weit entfernt von exotischer Geldwirtschaft. Die wenigsten Bergbewohner wissen überhaupt, was Derivate sind, und dann ist es gut, wenn es heisst: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Es ist also gar nicht so dumm, die Berge in Zeiten der Krise zu mögen.

We fought him hard we fought him well
Out on the plains we gave him hell
Iron Maiden, Run to the hills

(Teil 1, Teil 2, Teil 3)

Man bekommt dort nichts mit von der Welt jenseits der Berge. Absolut nichts. Man geht hinunter in die Stube, legt die Hände an den Kachelofen, das Knistern des Holzes ist Sensation genug. Man redet über diese besondere Wärme, die alte Öfen machen, über Metallringe über dem Feuer, über den Geruch und die Leichtigkeit, mit der hier das Holz beschafft werden kann. Die Moderne ist hier reichlich neu, es ging 600 Jahre ohne Strom und Heizung, es würde auch wieder gehen. Ich erzähle das, was mir Louis Nussbaumer als Kind vom Tod seines Vaters erzählt hat, oben in den Bergen über St. Andrä, den sie an seinem letzten Tag nicht ins Krankenhaus nach Brixen gebracht haben, sondern auf den Ofen gelegt haben, und am nächsten Tag war er tot, aber immer noch warm wie der Ofen unter ihm, das Leben war erloschen, aber die Glut war noch im Körper.

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In China bereitet der Chef eines abstossenden Regimes eine Rede vor, in der er Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung schönlügt, in Frankfurt und Neu York warten Börsenmenschen mit teuren Anzügen und billiger Bildung auf die Gelegenheiten, Kurven nach oben zu treiben, in Rüsselsheim haben sie Angst und in Berlin beten sie, dass die Menschen nicht zu viel nachdenken, und ich warte auf den Gewürzkäse und achte nur auf das Knacken aus dem Ofen. Ich bin erstaunlich ruhig und gelassen, aber das ist in den Bergen meistens so. Berge strahlen diese angenehme Gewissheit aus, dass nichts wirklich Grosses je geschaffen würde, man könnte Manhatten abreissen, und all der Schutt wäre nicht mehr als ein Geröllfeld an einem der vielen Zweitausender oberhalb von Müstair, wo kaum ein Mensch sich im Sommer hinverirrt, und im Schnee die Geister unter sich bleiben. Nach ein paar hundert Jahren hätte das Wetter die Trümmer so verwaschen, dass man sich allenfalls über die fremdartigen Steine wundern könnte, die ein launiges Schicksal hier vergessen hat. Frankfurts Türme sind hoch, aber an jedem Berg kleben hier Bauernhäuser, die seit Jahrhunderten auf die Frankfurter hinunterspucken könnten. Da oben können sie noch kochen, da würde keiner verhungern, wenn die Supermärkte keine Waren mehr haben, weil irgendwo eine Bank ihre lange bekannte Insolvenz eingestehen muss, oder ein Zocker aus London in Bangkok eine Währung ruiniert.

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Natürlich würde man einen Kollaps in den Bergen merken: Es gäbe keine Spielekonsolen mehr und kein Benzin, man müsste die alten Kraxn wieder aus den Schuppen holen und öfters in der Stube zusammensitzen. Die Weinkarte würde sich auf heimische Gewächse reduzieren, und die besseren Lokale müssten sich etwas anderes als Hummerschaum einfallen lassen. Aber als ich daheim bin, befreie ich meinen Wagen vom fettigen Gestank der toten Hirsche in den Würsten, ich packe das würzige Brot aus, den Bergkäse und die Nudeln mit der Steinpilzfüllung. Das alles machen die dort, die leben darin, das ist keine Feinkost, sondern vollkommen normal, und sie würden auch bruchlos so weiter machen, wie man das in den Bergen tut: Schicksalsergeben, demütig, ohne Gejammer und all die Schreihälse aus PR und Medien, die das Geflenne in die Welt tragen. Irgendwo bei München und Verona wird der Krise die Puste ausgehen, sie wird die Ferienhäuser noch erreichen und vergeblich bei den Bauern in den Bergen an der Tür kratzen, während man in den Städten erst mal lernen muss, was das heisst: Zurückstecken. Reduzieren. Zufrieden sein.

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Das Wetter am Tegernsee ist immer noch schlecht wie bei der Abfahrt, und in all dem Schnee und Regen steht Thomas Mann am Ufer, mit seinem Hund in Bronze gegossen. Mann hält ihm ein Stöckchen hin, und der Hund hechelt freudig. Das Denkmal erinnert an die vorvorvorletzte grosse Krise nach dem ersten Weltkrieg, als in München der Hunger wütete und die Bauern aus Gmund Thomas Mann und seine Familie durchfütterten. Mann hat über diese Region und die nahen Berge das Buch “Herr und Hund” geschrieben und sich damit abgelenkt von all den Sorgen und Nöten dieser schlimmen, schlechten, alten Zeit. Ein reichlich frohes und lebenslustiges Buch über Landschaft und das Leben, so gar nicht depressiv und furchteinflössend, wie die Zeit im Rückblick erscheinen mag. Es wird kein tiefer Sturz wie damals, die Gesellschaft ist technisch weiter und unfassbar reicher, sie hatte eine gute Zeit und viel, sehr viel Fett am Körper, in den Tiefkühlfächern und in den Hirnen, das sie erst mal schmerzfrei los werden kann. Das ist alles noch kein Unglück hätte meine Grossmutter, die noch unter dem Prinzregenten geboren wurde, den fallenden Herren der Welt im Vorbeistürzen zugerufen, und sie hätte damit recht gehabt. Was stört es die Berge und die Menschen darauf, wenn sich ein Mensch in Frankfurt keinen Maserati kaufen kann, was schmerzt es, wenn in China das Volk ein paar Bonzen aufknüpft. Man sagt, die Welt sei viel zu verwoben, als dass nicht alles alle beträfe, aber es reicht eigentlich, kein Internet und keine Zeitung, sehr wohl aber einen Berg zu haben.

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Das ist der Berg, den Thomas Mann mit seinem Hund bestieg, gleich vor meinem Haus, nicht hoch, nicht steil, üppig bewaldet und an Spätwintertagen wie heute voller Schnee, ein Wunder wie eine Grisaillemalerei der französischen Hofkunst um 1420. Hier oben gibt es keine Krise, nur einen Weg, der die Geschwindigkeit und die Atmung diktiert, und Wolken, die den Blick in die Ebene versperren, wo Politiker und Eliten schwitzend und fluchend an der Änderbarkeit des Unabänderlichen feilen. Man ist allein mit den Bäumen, dem Schnee und seinem angemessenen Weg hinauf zur Spitze, es hat alles seine Richtigkeit, und wenn man umdreht und auf dem Rodel in das Tal hinabschiesst, gibt einem der Berg nur das, was man an ihm geleistet hat. Nicht mehr, nicht weniger. Man kann in diesen Bergen Geld verstecken und Steuern hinterziehen, man kann der Krise entgehen und sein Leben in Kurven lassen, man kann seinem Glück hinterher jagen und eine gewisse Art Menschlichkeit finden, und die vielleicht auch die erfreuliche Gewissheit, dass eines Tages der Schnee nicht schmelzen wird, sondern liegen bleibt, sich wieder zu Gletschern auftürmt und unaufhaltsam alles Kleinliche beiseite schieben wird, was da unten im Tal geschaffen wurde. Der Berg, der weiss schon, was er macht, und warum er die Menschen in den Tälern jagen wird.

Begleitmusik: Wenn Sie in die Berge fahren, und wirklich in die Berge, also über Pässe und nicht nur im Strom der minder Klugen über die Autobahn, müssen Sie sich unbedingt die Ouvertüren von Johann Friedrich Fasch beschaffen, einem völlig zu Unrecht vergessenen Zeitgenossen von Bach. Besonders die Ouvertüre in G-Moll beginnt trist wie ein Nebeltag in Frankfurt, und reisst dann auf wie die Wolken im Fönsturm in den Bergen, die man hinaufjagt über enge Strassen zu den Höhen der Joche mit dem weiten Blick, fern aller Belästigungen des Alltags und seiner Lügen.