Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der breite Trampelpfad nach Arkadien

Heute beschäftigen wir uns mit dem Grandtouristen protestantischer, insbesondere englischer Prägung und seiner Begegnung mit der fremden, katholischen Kultur. Desweiteren geht es um den schädlichen Einfluß kontinentaler Mode und um italienische Bausubstanz als stilistischer Steinbruch für englische Landsitze.

“No!” exclaimed Mr. Emerson, in much too loud a voice for church. “Remember nothing of the sort! Built by faith indeed! That simply means the workmen weren’t paid properly. And as for the frescoes, I see no truth in them. Look at that fat man in blue! He must weigh as much as I do, and he is shooting into the sky like an air balloon.”
E. M. Forster: A Room with a View

Interessant kann es sein, als Anglist durch italienische Kirchen zu wandern. Da deutet man auf ein eine bemalte Gewölberippe und denkt sich, ach, da hat der Morris sein Tapetenmuster her. Oder man steht vor einer kleinen Seitenkapelle und staunt: Sieht aus wie das Treppenhaus, das William Kent für Hampton Court entworfen hat.

Bild zu: Der breite Trampelpfad nach Arkadien

Italien war lange so etwas wie ein Musterbuch für englische Landsitze, aus dem man sich nach Belieben bedienen konnte. “Vitruvius Britannicus” hieß die Bibel aller klassisch orientierten Architekten. Wer sich für die Baukunst interessierte, den schickte man deshalb zuerst einmal auf Studienreise in den Süden, um das im Original kennenzulernen, was er später in England nachahmen und weiterentwickeln sollte. So erging es auch dem jungen Architekten William Kent, der sich besonders für Palladiovillen begeisterte und, zurück in England, den Palladianismus populär machte. (Erfunden hat er ihn nicht, diese Ehre muß man Inigo Jones lassen.) Das ist so etwas wie der englische Sonderweg um den Rokoko herum, der auf der Insel als viel zu französisch galt. Und “französisch” war ungefähr gleichzusetzen mit dekadent, absolutistisch und verkommen.

Italien hingegen! Da wollten alle hin, die es sich leisten konnten, denn wenn schon in ein katholisches Land, dann wenigstens in dieses. Reisen bildet ja auf vielfältige Weise, das hat man in England früh erkannt, und zu den Lektionen gehörte kulturelles Verständnis, Sozialkompetenz, politische Bildung und moralische Festigung. All das konnte man auf dem Continent lernen, wenn man es richtig anstellte.

Manchmal ging das auch entsetzlich schief, wie man an einigen jungen Herren sehen konnte: Die kleideten sich fürderhin in einem für englische Verhältnisse gnadenlos übertriebenen, italienischen Stil, man nannte sie Macaroni. Das war natürlich nicht Sinn der Sache, daß man schrille ausländische Moden in seine Heimat mitnahm. Schrilles besichtigt man, vergewissert sich innerlich seiner Englishness und kehrt zurück in der Gewißheit, fortan über die Erfahrung des Fremden seine nationale Identität gefestigt zu haben.

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Wer einmal in Arkadien war, geht ungern von dort weg. Daher war es nur folgerichtig, seinen englischen Landsitz mit arkadisch anmutendem Gelände zu umgeben, mit Tempelchen, Brücken und Grotten. Der englische Landschaftsgarten, so wird immer gern gespottet, ist eigentlich die einzige originäre künstlerische Leistung, die die Engländer zustande gebracht haben – mit William Kent als wichtigstem Wegbereiter. Aber das, wovon er inspiriert ist, ist die Reiselust, ist die fremde Landschaft, der Süden. Das ist eine kulturelle Substanz, auf die sich die gesamte Oberschicht einigen konnte und die sie unterschied von denen, die sich die Reise nicht leisten konnten. Oder von stillosen Neureichen ohne Sinn für klassische Bildung. Die Kenntnis Italiens war auch Distinktionsmerkmal.

Ausgerechnet das katholische Italien mit Umweg über das heidnische Altertum hielt also Einzug in die grundvernünftige, nüchterne Welt der englischen Countryside und wurde zum beherrschenden Stil. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts, dann bekam die Gotik wieder Oberwasser. Aber die Engländer, so wird immer gern gespottet, haben ja nie wirklich aufgehört mit der Gotik. Und ist die nicht eigentlich eine grundkatholische Angelegenheit? 

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Damit wären wir bei den Viktorianern angekommen, bei John Ruskin und, etwas später, bei William Morris. Ruskin bezeichnet die heidnische klassische Architektur als standardisiert und unmoralisch, der Gotik hingegen attestiert er gemeinschaftsstiftende Qualitäten. Diese Bauhüttenromantik findet er auch in Italien, vor allem in Venedig verwirklicht. Auch Morris studiert die Baukunst Kontinentaleuropas gründlich, er sympathisiert mit der Anglo-Katholischen Bewegung, die die anglikanische Kirche reformieren will, er erhebt die Hochgotik zur höchsten Bauform und das Handwerk zum Gegenentwurf maschinengefertigter Industrieprodukte.

Immer wieder ist es Italien, immer wieder sind es Aspekte der italienischen Geschichte, die im Norden Europas als Gegenmodelle herhalten müssen. Und immer wieder zieht es Reisende nach Süden, um dort zu finden, was der Norden nicht leistet. Man pickt sich das heraus, was einem gerade in die Ideologie paßt, das Land ist groß und die Kulturgeschichte überreich. Wer heute dort reist, der sieht nicht nur das fremde Land, der sieht auch die Spuren, die es in der eigenen Kultur hinterlassen hat. Tapetenmuster zum Beispiel, oder Treppenhäuser.