Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Zähneknirschen in Orvieto

Die Romreise neigt sich dem Ende entgegen, und so stellt sich angesichts des unveränderten Unglaubens und der unausweichlichen Verdammnis die Frage, was man denn letztendlich gelernt und erreicht hat. Vermutlich nichts. Denn die Hölle sind immer noch die anderen.

Welche Lust kann größer sein als der Ekel an der Lust selbst.
Tertullian

Bild zu: Zähneknirschen in Orvieto[von Don Alphonso] Orvieto, rund 100 Kilometer nördlich von Rom gelegen, ist eine beschauliche Kleinstadt mit 20000 Einwohnern. Und mit einem Dom aus der Zeit um 1300, der in seinen gigantischen Ausmassen und seiner himmelsstürmenden Fassade absolut nicht zu diesem Flecken passen will. Die Erklärung für den steinernen Giganten auf dem Felsen der Stadt ist einfach: Orvieto war in der zweiten Hälfte des, vorsichtig gesagt, bewegten 13. Jahrhunderts die bevorzugte Residenz der formal römischen Päpste. Rom war zu dieser Zeit das, was man heute als Bürgerkriegsregion bezeichnen würde: Es gab weit über 100 Wehrtürme innerhalb der Stadt, und die grossen Adelsgeschlechter führten innerhalb der Mauern Krieg gegeneinander, mit Gift, Berufsmördern und bewaffneten Milizen, nicht anders als heute im Sudan oder im Irak.

Die politische Unsicherheit, aber auch die Hitze, der malariaverseuchte Tiber und der Dreck veranlasste die Kirchenoberhäupter, die zu oft selbst in die römischen Kämpfe verwickelt waren, lieber auf den luftigen Hügel von Orvieto auszuweichen. Fernab von Rom lebten hier 30.000 Menschen zwar auch nicht immer friedlich, aber für die Herren des Christentums insgesamt verträglicher zusammen. Es gab zu jener Zeit ernsthafte Überlegungen, das Papsttum dauerhaft in Orvieto zu installieren, aber im frühen 14. Jahrhundert gingen die Oberhäupter der Kirche noch einen Schritt weiter und liessen sich im südfranzösischen Avignon nieder. Orvieto jedoch erhielt einen Dom, der Rom mit seinen spätrömischen und barocken Rundbögen immer gefehlt hat: Eine Papstkirche der hohen Gotik, mit all ihren Spitzbögen, Rosetten und sonstigem Zierat.

Bild zu: Zähneknirschen in Orvieto

Während also das Papsttum, das seine Karriere als Nachfolge Petri in Rom begonnen hatte, als französische Marionette in die babylonische Verbannung ging, erhielt Orvieto im unteren Bereich der Domfassade eines der Hauptwerke der gotischen Kunst in Europa. Auf den vier Pfeilern finden sich die Geschichte der Schöpfung, die Prophezeiung Jesu Christus als Heiland, Szenen aus der christlichen Bibel und, ganz rechts, das Weltgericht am Ende der Zeit. Über 100 Quadratmeter feinste gotische Plastik, aber am Ende sind es dann doch nur zwei Quadratmeter, die besonders gerne abgelichtet werden. Zwei Quadratmeter ganz rechts und ganz unten. Die zwei Quadratmeter, auf denen das Ausscheiden und Quälen all jener vorgestellt wird, die es nicht in den Himmel nach kirchlicher Vorstellung schaffen, die im sonstigen gross angelegten Heilsplan keinen Platz haben, und deshalb unter Teufel geraten, wo sie in alle Ewigkeit Höllenqualen erleiden.

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Es ist nicht leicht zu erklären, warum es immer die Verdammnis ist, die Menschen so attraktiv erscheint. Natürlich hat sich der namenlose Künstler um 1300 alle Mühe gegeben, das Entsetzen und die vergebliche Reue der Sünder darzustellen, die gnadenlos-kalte Ablehnung des Erzengels links und die Freude der Dämonen über neue Arbeit rechts. Aber nach dem gleichen Prinzip funktioniert auch das Tympanon der Kathedrale von Autun im Burgund, das ein Giselbertus fast 200 Jahre früher schuf: Nicht der Weltherrscher Christus bleibt im Gedächtnis, sondern die um die Seelenwage turnenden Teufel und die Qual der Verdammten. Zeitgleich mit der Fassade von Orvieto schrieb Dante seine göttliche Komödie, beginnend mit einer äusserst unterhaltsamen Hölle, die sich hervorragend für Zitate eignet, einem etwas schlappen Fegefeuer und einem ausgesprochen öden und geistlosen Himmel, den man ebenso gelesen wie vergessen haben muss, um Dante zu kennen und dennoch weiter wertzuschätzen.

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Oder nehmen wir Mozarts Don Giovanni: Seine Höllenfahrt, das Pentite! des Komturs und das No! No! des Lüstlings ist der eigentliche Höhepunkt der Oper, und wenn danach all die Randfiguren überflüssigerweise zusammenkommen und sich gegenseitig ihre banale Tugend vorsäuseln, fragt man sich, ob der Komtur Don Giovanni nicht einfach das Leid erspart hat, unter solchen mediokren Figuren voller Dünkel und Moral leben zu müssen. Oder besuchen wir einen Flohmarkt in Rom: Zu Tausenden werden Gebetbücher billigst angeboten, jesuitische Hetzschriften sind schon teurer, aber die wirklich sündhaften Werke von Catull an werden erst gar nicht feilgeboten, weil sie längst verkauft sind: Frevel, Gottlosigkeit, Unzucht und Völlerei mögen nicht zum christlichen Wertekanon passen, und dennoch machen sie die besten Mitbringsel, egal wie nachher all das Fett durch Würste und der schwere Schädel durch den Grappa beklagt werden.

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Es ist der Stoff, aus dem der Bischof Mixa seine Osterpredigt schnitzt, es ist der Sumpf, über den die Kirche sich erhöhen möchte, und natürlich haben sie auch alle irgendwo recht, die von der Kirche vorgeschriebene Tugend kann den Schwachen helfen, den richtigen Weg zu finden: Nur ist die Tugend hat immer recht und ist deshalb nach heutigen Massstäben so entsetzlich langweilig, oder auch unkommod, wie meine Grossmutter immer sagte. Die Moderne leidet unter der gleichen Krankheit, die die Fassade von Orvieto mit ihrem Figurenaussatz überzog: Der Horror Vacui, die Angst vor der leeren Fläche, vor dem Nichts und der Gleichtönigkeit, die einen zwingent, innezuhalten und sich ein paar Gedanken zu machen. Die Moderne hasst nichts mehr als die Langeweile, das Ausbleiben von Unterhaltung, die Gegensätze von Qual und Lust, und deshalb funktionieren die beiden Quadratmeter in Orvieto ohne jede Kenntnis von der Heilslehre bis heute, während der Rest, die eigentliche Botschaft des Glaubens und die Erlösung, unbeachtet bleibt.

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Hier aber liegt auch ein entsetzlich banales Problem des Papsttums in dieser Gesellschaft: Denn auf das unserer Zeit eigentlich entsprechende Heissmachen der Hölle verzichtet man lieber, und überlässt das Feld den Schürknechten an den Unterhaltungsöfen der TV-Sender. Ketzerverbrennungen und Jesuitentheater, wundertätige Reliquien und Messen von Biber, schockierende Bilder von Caravaggio und grössenwahnsinnige Ansprüche an die weltlichen Mächte, Prachtentfaltung und Verbote von Andersdenkenden, Missverständnisse, Klassenschranken und Todeskult, ungebaute Säulenheilige und öffentliche Bekenntnisse, Extremisten und gemütliche Brüder, Massenunterhaltung und Strassenfeger dieses grossen Welttheaters hat das römische Papsttum zu Zeiten geliefert, da es noch keine Superstars und gefälschte Reallebenformate gab. Die Kirche mag auf dem Rückzug aus der Gesellschaft sein, wie sie schon 1300 auf dem Rückzug aus Rom war, aber das heisst nicht, dass es nicht neue Idole, Ideologien, Denkverbote, Unterwerfung und Anpassung gäbe, die in Formate gepresst werden, wie weiland die Befehle des heiligen Stuhls in Bullen. Der Niedergang der Kirche als unterhaltende und gestaltende Kraft hinterlässt Freiräume, die andere füllen. Ein Marktteilnehmer zieht sich zurück, andere Anbieter drängen nach, die Nachfrage bleibt bestehen. Die eine Laterna Magica geht aus, die andere wird eingeschaltet.

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So gesehen könnten die Jammernden am Dom von Orvieto auch jene Aufgeklärten sein, die nach dem Niedergang der Religion mit den neuen Götzendiensten auch nicht besser dran sind.