Ich bin keine Frau, die männliche Eitelkeit befriedigt, wer nicht ganz aus Fleisch ist, aus festem Fleisch, dem geht es bei mir nicht gut.
Aldo Palazzeschi, Die Befragung der Contessa Maria
Nun; natürlich ist das Leben in der besseren Gesellschaft nicht unbedingt das, was man aufregend nennt. Man kann sich dieses Leben gezielt aufregend machen, mit einer Heirat und einem Rosenkrieg etwa, oder mit der Einführung von Personen, die Regeln nicht beachten und, vom Regen durchnässt, über den Perserteppich gehen. Es ist aber sehr, sehr schwer, sich definitiv mittels eigenem Benehmen aus der Gesellschaft auszuschliessen. Ein Psychiatrieaufenthalt reicht nachweislich nicht, es sollte schon ein kompletter Bankrott oder schwere Veruntreuung sein, aber solange man noch relativ jung und vor allem weiblich ist, gibt es keine Möglichkeit, sich dem Umfeld zu entziehen, in das man geboren ist – es sei denn, man bricht bewusst jeden Kontakt ab.
Man kommt kaum heraus. Man kommt aber auch nicht hinein. Der Hauptgrund, warum es in der besseren Gesellschaft so wenig Mesalliancen, also Ehen zwischen ungleichen Partnern gibt, ist schlichtweg die geringe Verfügbarkeit von unangemessenen Versuchungen. Und das wiederum liegt nicht daran, dass man keine Gelegenheit hätte, in die Nähe einer höheren Tochter zu gelangen: Nichts leichter als das. Es kostet nichts, es bedarf keiner grossen Vorbereitung, die Gelegenheit hat man jeden Sonntag.
Man müsste nur am Sonntag die Orgelmatinee in der Asamkirche meiner kleinen Heimatstadt besuchen. Es gibt dort keine Einlasskontrolle, keine Karten und keine Platzzuweisung. Es reicht, halbwegs früh zu kommen und nach Frauen unter 45 Ausschau zu halten, die dort nicht in eindeutiger Begleitung ihres Ehemannes sind. Es bilden sich dort auf den Bänken diverse Gruppen; die alten Witwen sind zu meiden, und die herausgeputzten jüngeren Frauen, jene mit den feinen Schuhen und dem Lippenstift, sind zu fragen, ob neben ihnen Platz wäre. Man muss nur nach den Schuhen gehen: Je schöner die Schuhe, desto unwahrscheinlicher, dass die junge Dame gerade aus der Kirche kommt. Die Kirchenmäuse, die es auch gibt, sind natürlich zu meiden.
Frauen mit schönen Schuhen, sorgfältig aufgetragener Schminke und mit einer Haltung, die ihre schlanken Hände und lange Hälse zur Geltung bringt, oder gar im Frühsommer noch Handschuhe tragen, sind zweifellos höhere Töchter. Wenn man sie fragt, und dies mit einer knapp angedeuteten Verbeugung tut – Verzeihen Sie, wäre neben Ihnen noch Platz – und sie den Eindruck haben, dass man eine vorteilhafte Erscheinung ist, gute Schuhe trägt und auch sonst nicht wirkt, als würde man zwischen den Sätzen klatschen oder pfeifen, werden sie kaum nein sagen. Letzte Gewissheit erhält man, wenn die Erwählten einen Blick auf die – hoffentlich gepflegten – Fingernägel des Fragenden werfen: Daran erkennt man eine Erziehung, die den Töchtern gelehrt hat, in der Oberfläche die Tiefe zu erkennen.
Der Rest ist gar nicht so schwer; höhere Töchter beherrschen vorzüglich die Kunst der inhaltsleeren Plauderei, mit der man Manieren und Primärwortschatz überprüft, und ob man genehm ist, ob man sich am nächsten Sonntag für eine freundliche Begrüssung qualifiziert, lassen sie einen schon merken. Weiter hinten werden alte Frauen die Köpfe zusammenstecken und überlegen, wer der Herr sein könnte, und ob er überhaupt weiss, warum die sich hat scheiden lassen, wo der Mann doch so nett war, also wirklich, aber gut, wenn sie einen Neuen findet…
Das alles könnte so einfach sein. Zumal es bei der jungen Generation gar nicht mehr so auf die Klassenschranken ankommt, wenn der Partner nur freundlich, lernfähig und bereit ist, sich den Gegebenheiten anzupassen. Besonders im zweiten Heiratsmarkt sind alle Anforderungen deutlich gelockert. Man gewöhnt sich, wenn man bereit ist, umgekehrt schnell an ein Leben in besseren Verhältnissen, schneller jedenfalls als an Armut und ein Leben ohne Putzfrau. Diese Schicht hat durchaus ihre Methoden, um aus “Neigschmecktn”, wie man in Bayern sagt, akzeptierte Mitglieder der Gesellschaft zu machen, wenn man die beste aller möglichen Welten als solche befürwortet, indem man die an sich läppischen Regeln zu akzeptiert, gerade sitzt, den Kuchen lobt, sich nicht über die sadomasochistischen Neigungen der Tochter öffentlich äussert und den Exmann nicht auffordert, mit vor die Tür zu gehen.
Aber das alles passiert nicht. Es liegt nicht an den höheren Töchtern, denn die sitzen in Mengen im Kirchenraum und langweilen sich etwas. Es liegt sicher nacht an deren Erscheinung, denn sie geben sich alle Mühe. Sie sind fraglos reizend, zuvorkommend, höflich und angenehm, weil man das so gelernt hat, und im privaten Umgang gar nicht anders kann. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass sie andere einschüchtern. Aber es passiert nichts – weil die niederen Schichten es nicht tun.
Sie kommen einfach nicht. Sie sind nicht anwesend. Nie. Unter keinen Umständen. Obwohl es hier, zu jener Mittagsstunde, die man so leicht in einen Cafehausbesuch übergehen lassen könnte, ohne alle Schranken und Hürden möglich wäre, obwohl es hier einen echten Bedarf an frischem Blut gibt, denn allzu eng ist mit all den naturgemäss desinteressierten Schwulen und Verkorksten und Libertins der zweite Heiratsmarkt, obwohl man zu nichts verpflichtet ist und auch nicht das Opfer einer Versorgungsehe wird, obwohl man hier leichten Herzens Menschen treffen könnte, denen man sonst nicht vorgestellt wird – sie haben offensichtlich kein Interesse. Hier ist es, als würde es sie einfach nicht geben, als existierte jenseits dieser barocken Mauern keine andere Klasse.
Ist das Konzert vorbei, sieht man immer das gleiche Bild. Die Besucher verlassen die Kirche und gehen nach rechts, Richtung Südwesten. Dort, wo die Viertel sind, in dem man wohnt. Nach Norden, wo die Mehrheit der Bevölkerung der Stadt wohnt, geht kaum einer. In der Richtung, in die man geht, wohnen keine armen Leute. Ich stehe danach oft noch vor dem Tor und plaudere mit Freundinnen. Oder vor meinem Kollegiatsgebäude, zu dem unter den Jesuiten eben jene Kirche hinzugebaut wurde. Ich lade gern höhere Töchter zum Tee ein, auch, weil keine anderen Töchter da sind, und so bleibt alles in dieser Klasse unter sich.
Mir ist durchaus klar, dass ich mir damit nur begrenzt Freunde mache, aber: Die höhere Tochter ist zwar das Produkt ihrer Klasse. Ihre Existenz jedoch, wie auch die gesamte Existenz dieser Klasse wird durch die selbst verschuldete Unfähigkeit der restlichen Gesellschaft definiert, damit umzugehen. Warum das so ist, entzieht sich meiner Kenntnis, denn selbst in der einbetonierten Soziallandschaft der oberbayerischen Kleinstadt gäbe es genug Möglichkeiten, das zu ändern, es steht in der Zeitung, und man muss nicht eingeladen werden. Die anderen wollen offensichtlich nicht. Ich weiss nicht, was sie wollen, ein Videospiel vielleicht oder einen Spoiler an ihr Auto bauen, eine DVD oder schlecht gebratenes Fleisch vom Grill: Ich habe nichts dagegen, beschert es mir doch ungeteilte Aufmerksamkeit und amüsante Unterhaltung mit jenen, deren nicht standesgemässe Partner ich vermutlich wegen all meiner Dünkel ebenso entsetzlich fände, wie ich es mir keinesfalls anmerken lassen würde:
Darf ich Ihnen noch etwas Tee anbieten?