Klesias, Bacchide und Plangon lebten hinfort in vollkommener Einigkeit und führten in ihrem Palast ein elysisches Dasein.
Théophile Gautier, Die goldene Kette
Da standen wir also, die drei Grazien und der bocksbeinige Satyr, allesamt mit blutroten Fingern, in den Körben leuchteten die süssen Opfer unseres Raubzuges auf dem Erdbeerfeld der sozialen Gleichheit, wartend in der Schlange, auf dass man unsere Beute wiegen möchte. Vor uns waren zwei flüchtig bekannte junge Frauen, die einen anderen Lebensweg als meine Begleiterinnen eingeschlagen hatten – ihre Männer und Kinder waren schon mal in die Büsche gegangen, und sie standen nun vor uns, das gebärfreudige Becken wippend und mit übergrossen Sonnenbrillen auf den Nasen, und redeten. Über Kinder. Und die eine sagte über ihre Tochter nach einigen Klagen: I heds ondwaand kladschn kenna. Zu deutsch: Ich hätte meine Tochter am liebsten an die Wand geschlagen.
Nun ist das hier das konservative Kernland von Bayern und auch von Deutschland, hier werden die Reaktionäre gezüchtet wie andernorts das Genfood und die Wahlen entschieden; ohne Städte und Regionen wie diese wäre Deutschland knallrot wie die Erdbeeren. Damit das auch so bleibt, haben wir eben Mütter wie jene beiden vor uns, die zwar selbst die reaktionären Gymnasien der Stadt gehasst haben, aber ohne mit der Wimper zu zucken ihren Nachwuchs in die gleichen Anstalten verfrachten. Das war hier schon immer so, die Aufklärung in Bayern kam nicht mal bis Aschaffenburg, und schon gar nicht in den besseren Kreisen an. In den besseren Kreisen ist man immer konservativ, in den Schattierungen schwarz, knallschwarz oder schwarzbraun. Und nie, nie, nie, hätte man auszusprechen gewagt, man könnte die Tochter an die Wand klatschen. Prügelstrafe war natürlich etwas anderes, aber ein derartig öffentliches Bekenntnis der Unfähigkeit, die Tochter anständig zu erziehen – das liess uns den Atem stocken.
Und das – das muss dazu gesagt werden – obwohl wir eigentlich so gar nicht konservativ geraten sind. Ein notorisch schlechterer Sohn aus besserem Hause und drei nicht mehr ganz junge Frauen, von denen eine einen schweren Scheidungskrieg hinter sich hat, die andere mit Männern in anderen Städten verkehrt, und die dritte hat auch keine Neigung erkennen lassen, ihre Eltern mit einem Enkel zu beglücken.
Wir sind nicht in der Nähe der Staatspartei des Freistaates. Niemand hätte etwas gegen die Türkei in der EU, nachdem man ja auch die Österreicher aufnahm, alle haben einen eher lockeren Lebenswandel, niemand verkehrt an jenen “Premiumstammtischen”, an denen die lokale Parteiprominenz Briefe verfasst und sich beschwert, wenn auf dem Nockherberg ein Niederbayer mit türkischen Vorfahren auftritt. Trotzdem finden wir es unerträglich, wenn eine Mutter öffentlich betont, ihre Tochter an die Wand zu klatschen. Wir sind auch nicht der Meinung, dass Mütter sich beklagen sollten, wenn sie selbst so rumlaufen: Früher, meinte eine der Grazien, hätten sie sich die Haare geschnitten, wenn sie Kinder bekamen. Heute lassen sie sich eine Tätowierung stechen. Und tragen Pornosonnenbrillen. Und das wollen Mütter sein? Vorbilder gar? Mit dem Stigma des Prollblau in der Haut?
Später dann wird das Unvermeidliche kommen, das es früher auch nicht gegeben hätte: Die Scheidung über die Kinder hinweg. In meiner Jugend gab es das. Einmal. Bei einer Familie, die aus dem Norden kam, ein Manager einer Raffinerie vor der Stadt. Der liess sich von seiner Frau und dem Kind scheiden. Das war monatelang das Gesprächsthema schlechthin, bis sie von dannen zogen. Es gab im Laufe der Jahre noch andere Fälle, aber akzeptiert ist das deshalb noch immer nicht. Trotzdem haben wir auch hier inzwischen das, was man in Berlin als Patchworkfamilie bezeichnet. Und das geht unserer Meinung nach nun wirklich nicht. Unsere Eltern hätten sich da lieber vierteilen lassen.
Und nun haben wir in Bayern eine Partei, von der das Wohl und Wehe der konservativen Politik in diesem Lande abhängt. Eine Partei, die in der Krise ist, seitdem sie Bayern nicht mehr allein beherrscht, und nun versuchen muss, alle “konservativen” Kräfte um sich zu scharen. Aber welche konservative Kraft? Uns, die wie konservative Werte vom Rosenthalgeschirr bis zum korrekten Sitzen am Tisch beherrschen, weil wir das noch mit den Büchern unter dem Arm gelernt haben? Oder die anderen, die zwar Familien gründen, aber an der Erziehung scheitern, scheitern müssen, weil der Mann nicht passte und das achtstufige Gymnasium, das die Partei unbedingt wollte, zu viel von ihnen verlangt; sie, bei denen die amerikanische Glamourserie längst jede Betätigung in der Kirche abgelöst haben?
Es ist nicht mehr so einfach mit den Konservativen. Früher waren sie ein fester Block ohne Alternativen, heute ist “konservativ” extrem postmodern, ein Zitatenschatz, aus dem sich jeder herausklaubt, was gerade in sein Leben passt. Konservativ ist der Milchbauer, der gegen die Staatsregierung ein Haberfeldtreiben entfesselt, konservativ bin ich, der ich auf dem Wochenmarkt mein Essen kaufe, konservativ ist die weisse Hochzeit in der Asamkirche, jeder möchte etwas bewahren und für sich nutzen – und trotzdem haben selbst höchste Politiker gschlamperte Verhältnisse, der Bauer verkauft die Wiesen mit Bergblick an Projektentwickler, die Bürgersfrau klatscht ihre Tochter, und meine kulturkonservative Einstellung erlaubt es mir, auch eingefleischte CSU-Anhänger als berlinerisch verseuchte Modernisten (mit TV-Besitz!) zu betrachten, die man nicht auf der Gartenparty sehen möchte.
Es ist leicht, eine linke Partei zu machen; ein wenig Besitzstandswahrung und Umverteilung, Freibier und Staatsausgaben, keine Einmischung in das kleine Glück und Bundesliga für alle, fertig ist das Erfolgsmodell. Eine konservative Partei dagegen muss heute all die auseinanderbrechenden Haltungen einsammeln, sie muss dem Ausländerfeind eine Heimat geben und dem Aufsteiger Chancen versprechen, dem Kirchenmann den Einfluss zusichern und der Mutter Hilfe in ihrem Alltag, dem Bauern einen Milchpreis und meinen Freundinnen, dass die Oper weiter gefördert wird; kurz, die konservative Partei muss ihren Angehörigen hinterher kriechen in der Trümmerlandschaft konservativer, teilweise gar konkurrierender konservativer Überzeugungen. Es gibt keine Lösung für den Konflikt zwischen dem Wunsch der Wirtschaft nach schnellem Abitur und den Klagen der vom achtstufigen Gymnasium gestressten Mütter. Man kann nicht den Landfrauenschaft sichere Strassen versprechen und die Landkinder saufen lassen.
Und wenn sie den Brückenschlag doch versuchen, endet es wie bei der Bundesfamilienministerin. In einer der letzten Ausgaben des bei Lobbyisten und PR beliebten Fachblatts “Cicero” schiebt sie ihre Familie ins Rampenlicht und betont die Bedeutung des Vorlesens – vor einem, sagen wir es unter Bibliophilen deutlich, mit vielen Lücken versehenen Bücherschrank, ganz ohne die für echte Leser eigentlich typischen Bücherstapel. Von dort aus lässt sie die Leser wissen: “Vorlesen ist ein grosses Chillen.” Steht da so. Ich weiss nicht, welche konservativen Pilleneinwerfer die Person mit dem “Chillen” ansprechen möchte, aber dieser Laissez-fair-Konservatismus, dieser Wellnesszugang scheint die Antwort der bürgerlichen Parteien auf ein zunehmend fragmentiertes Bürgertum zu sein. Ohne sich die Frage zu stellen, warum man sich als Anhänger konservativer Überzeugungen für eine Partei entscheiden sollte, die so beliebig ist wie die unreife Mutter, die mal Kinder und sie ein paar Piercings später an die Wand klatschen will.