Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das stilvolle Überleben der Pandemie III: Betrachtungen der Großtanten aller Kakteen

Kakteen, man sehe den Tatsachen ins Auge, haben nicht die soziale Intelligenz von Menschen, besitzen die Dreistigkeit, nicht demütige Sklaven von Werbern zu sein, und lassen auch sonst jede Einsicht in freundliche Notwendigkeiten der PR vermissen. Das erlebte ich gestern Abend, als ich aus Gründen der angewandten Ritterlichkeit durch einen Berghang voller Gestrupp robbte, und dabei die Gelegenheit hatte, die Grosstanten aller Feigenkakteen bei ihrem Gespräch über über die Schweinegrippe zu belauschen.

Bewahr’n Sie ihren Kaktus gefälligst anderswo, hollerie, hollera, hollero. 
Bert Reisfeld, Mein kleiner grüner Kaktus

An jenem Nachmittag also trafen sich die Großtanten aller Feigenkakteen (Gattung Opuntiae) unter dem Sessellift von Meran nach Dorf Tirol, um mit der Mutter aller Feigenkakteen über Erziehung, Vermehrung und angemessene Stacheltracht zu sprechen. Sie liessen ihre Brut auf dem steinigen Abhang über der Tappeinerpromenade wurzeln, deren wilde Romantik fern aller Artig- und Unartigkeiten der Kurpromenade ist, und setzten sich zwischen die Gräser eines toten Baumes, trieben Blüten und neue Auswüchse, klagten über den Niedergang des Anstandes, und überhaupt, damals in Mexiko sei alles viel besser gewesen, aber immerhin, nun hat man in Meran diesen Abhang und macht auch in den Weinbergen gute Fortschritte.

Grosstante Euphemia wollte gerade fragen, ob man nun zur Torte kommen könnte, und sie hätte gern die Haselnusscreme des Cafe Imperial, wenn möglich – da klingelte ein Mobiltelefon in luftiger Höhe. Alle Opuntiengrosstanten und die Mutter aller Opuntien schauten nach oben und sahen ein Geschöpf in luftigem Kleidchen, das in einer Tasche wühlte, den Quälgeist fand, schnell an ihr linkes Ohr führte und –

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damit ihren Florentiner Modistinnenhut des Hauses “Petite Fleur” auf der rechten Seite hinabstiess, wo er durch die Luft nach unten trudelte und exakt zwischen der Mutter und Grosstante Eulalie zu liegen kam. “Mein Hut!”, schallte es von oben. “Diese neumodischen Menschen”, ärgerte sich Euphemia, während sich die schon immer etwas mondänere Grosstante Euridike fragte, wie ihr die Kreation vielleicht stehen könnte. Allerdings, seufzte sie in sich hinein, ein Sonnenhut, das passt nicht zur feinsten Opuntiengesellschaft.

Also ich finde ja, sagte Eulalie und reckte ihre Stacheln auf, dass nun endlich Schluss sein sollte mit der Dankbarkeit für die Menschen. Ja, sie haben uns hier eingeschleppt. Aber verbreitet haben wir uns selbst, und vermutlich hat der Mensch das nur zufällig getan. Diese ungezogenen Biester schleppen ja alles mögliche durch die Länder, gestern Müll aus China, heute faule Kredite, morgen eine Pandemie, und übermorgen wundern sie sich, wenn wir in ihren Kadavern Wurzeln schlagen.

Ach, fragte Tante Euridike, sie bringen sich schon wieder um? Daraufhin brachte Euphemia das ganze Wissen an, das sie aus der Ausgabe der “Dolomiten” von 25. Juli hatte, die ein unachtsamer Seilbahninsasse hier hatte fallen lassen. Soso, sagte Euridike. Schweinegrippe. Naja. Passt zu denen. Euphemia kicherte und zinkte heimlich die Canastakarten.

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Vielleicht, gab daraufhin die Mutter aller Feigenkateen zu bedenken, vielleicht sei das gar nicht so schlimm. Erfahrungsgemäss sei es nämlich so: Stirbt ein Teil dieser neumodischen Menschen durch eine Seuche aus, gehen alle Güter dieser Toten auf die Überlebenden über; ja, so mancher freue sich sogar, wenn die Grosstante dahingerafft werde und Platz mache für die Vergnügungssucht der Grossneffen. So schlimm das individuell sei, es beschleunige das Nachwachsen einer Erbengeneration, die nicht zu traurig sei, sobald sich der Sargdeckel schliesse. Ganz anders also als die feine Familie der Opuntiae, wo man das Alter noch ehre und als Zögling froh sein dürfe, wenn man einen harten Stein zugewiesen bekäme.

Richtig, betonte Grosstante Eulalia. Sie habe letzte Woche gar nicht anders gekonnt als jenen Deutschen Bankmanager zu belauschen, der auf der Tappeinerpromenade seine Meinung zur Krise in ein Mobiltelefon brüllte. Dem zufolge würde es ja vor allem die jungen Leute treffen, die auf spanischen Inseln mit Alkohol und Frauen Dinge tun, die deren Konten überziehen, woraufhin sie Privatinsolvenz machen. Es erwische also abgebrannte Kreditrisiken und jene Mitarbeiter, die sich kein Nobelbordell leisten könnten. So entledige man sich nicht nur ungeliebter Privatkunden, sondern elegant auch jener Mitarbeiter, die stilistisch nicht zum Haus passten, und die man ohnehin entlassen wollte. Ansonsten sei die Pandemie Anlass für ein erstklassiges Versicherungsprodukt, so denken die, jaja.

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Reichlich indezent überdehnte Euridike ihre neun Blüten, um den anderen zu bedeuten, dass man vielleicht doch besser über das diesjährige Moderot sprechen sollte, aber die Mutter aller Feigenkakteen setzte noch hinzu: Bitte, seien wir doch realistisch. Jedesmal, wenn diese Menschen da eine Pest, Typhus oder TBC hatten, ging es bald wieder aufwärts. Kaum war ein Teil der Population, oder besser, der untere Teil dahingerafft, der eben nicht so einfach nach Meran konnte, schon war die Vollbeschäftigung wieder erreicht, und prompt stiegen die Preise für Arbeit an. Es verdienten erst wieder die verarmten Ärzte und die Pharmaindustrie, die Leichenträger und die Sargmacher hatten Sonderkonjunktur, bei Mercedes mussten Sonderschichten für Leichenwagen gefahren werden – der Tod ist ein Geschäft, und danach muss trotzdem wieder jemand die Arbeit tun. 20% Letalität, und die Arbeitslosigkeit ist weg, ganz ohne Bürgerkrieg – und auf der anderen Seite türmen sich die Vermögen durch die Erbschaften himmelhoch. Das war schon bei der Pest so, das war bei den sterbenden Indios in den Silberminen Mexikos so, das wird diesmal nicht anders sein.

So also plapperten die Grosstanten der Opuntiae ein wenig weiter, wechselten das Thema, weil der Kaktus von Welt natürlich Wichtigeres zu besprechen hat, als diese putzlumpenbehutete und pinkfarbene Hemden tragende Gehwegsverschmutzung namens Mensch, bis dann Tante Euridike am späten Abend noch mal das Thema anschnitt und sprach: Oh, seht mal, da unten, die junge Dame schickt ihren Begleiter zu uns hoch! Vielleicht eine Blumenfreundin, die ein paar Artgenossen mitnehmen will, auf dass wir in den Töpfen nördlich der Alpen Basen und Vettern bekommen?

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Tatsächlich dirigierte die junge Frau ihren Begleiter durch das Gebüsch, wo die Mutter aller Feigenkateen und die Grosstanten ihre Blüten reckten und ganz spitze Stacheln bekamen. Sie würden sich zieren und sich verweigern, sie würden sich wehren und ihn stechen, und dann natürlich trotzdem mitkommen, denn so eine Gelegenheit auf neuen Lebensraum hat man nicht alle Tage. Vielleicht würde man auch ins Krankenhaus mitgenommen, als floralen Genesungswunsch für einen verdienten Mitarbeiter, eine aus Mallorca heimgekehrte PR-Spezialistin, oder jenen hustenden Werbeguru, der es sich von ihr ganz im Stile des Schnitzlerschen Reigens geholt hatte und nun, die verbesserte Variante im Blut, den Eindruck hatte, die Mutter aller Opuntiae würde in seinem Rachen wurzeln.

Doch der Begleiter achtete nur begrenzt der Stacheln und der grünen Leiber; er hielt sich an Eichen fest und kletterte über Geröll, durchstieg achtlos, achtlos! die vornehme Opuntiengesellschaft, ohne sich an ihr zu reissen, und angelte, von unten angewiesen und von seiner Ritterlichkeit gescheucht, den Modistinnenhut aus einem Gestrüpp von totem Holz, Müll und Kakteen, das er mit offensichtlicher Erleichterung wieder verliess.

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Hach, fragte Grosstante Euridike, ist der galant! Ob er auch in den Ozean gesprungen wäre, hätte sie ihren Hut auf einem Schiff verloren?

Sicher nicht, ätzte die Mutter aller Feigenkakteen, während von der Tappeinerpromenade neben viertelverzückten Freudenschreien üble Rechthaberei empordrang dergestalt, dass der Begleiter doch recht gehabt hatte, ansatzweise bergtaugliche Schuhe anzuziehen. Als er dann aber die Grösse der Grosstanten aller Kakteen schamlos übertrieb und jenes zu wahren Bäumen voller mörderischer Dolchstacheln werden liess, was ein paar Zentimeter über dem Boden kreuchte, liefen die Blüten der Opuntien im letzten Licht des Tages erneut knallrot an. So ein angenehmer junger Herr, sagte Euridike. Noch etwas Tee?, überspielte die Mutter aller Opuntien ihre Tröpfchen an den Stacheln.

In Berlin infizierten sich Dutzende von Partygängern angesichts der typischen Berliner Hygiene und des Umstandes, dass man dort natürlich nicht die Hand vorhält, wenn man einen Prenzelberger Gruss aus der Lunge hustet, Porsche ging fast Pleite, und der Himmel über Meran schimmerte rosa, als Euphemia die anderen beim Canasta ausnahm, als wäre sie die Bank und die anderen die Kreditkartenüberzieher.