In ganz Europa gehen die Lichter aus, wir werden sie in unseren Lebzeiten nicht mehr leuchten sehen.
Sir Edward Grey, 1914
Ab und an liest man ja von einem arglosen Wanderer, der unversehens auf eine vergessene Mine der Weltkriege tritt und davon zerrissen wird. So schlimm ist es nicht. Aber…
Paris muss im Sommer 1913 ein angenehmer Ort gewesen sein. Wie überall in Europa geht es voran, Industrialisierung und Kolonialismus schaffen – auf globale Massstäbe übertragen – reichen Oberschichtenkontinent, Paris ist die Hauptstadt des Stils und der Liebe, gerade wurde Le sacre du printemps von Strawinsky mit grandiosem Skandal aufgeführt, man liest als deutscher Tourist vielleicht angenehme Nichtigkeiten wie Ernst Decseys kleinen Herzog Cupidon, schaut sich Ausstellungen an und hört, dass es im Rotlichtviertel auch etwas gibt, das sich Kubismus nennt, dabei sind doch schon Franz v. Stuck und diese, na, wie hiessen die noch mal, vor zwei Jahren in München, Blauen Reiter, richtig, also, die waren auch schon stressig. Aber es ist 1913, das Leben ist schön, und das hier ist Paris! Paris!
Gut, auf dem Balkan ist mal wieder Krieg, aber das ist bei denen immer so, die Franzosen führen eine dreijährige Militärzeit ein – dabei ist es hier doch so schön, was könnte man nicht alles machen, Biarritz vielleicht oder auch Nizza! – in Österreich hat sich gerade der Spion und Oberst Redl erschossen, und manche Töne aus Deutschland, etwa zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals, sind auch nicht gerade nett, wie auch das, was andere lesen, die lieber im Heimatland bleiben: Deutschland marschiert, Burschen heraus, So hat sie Gott geschlagen, das sind die Titel der gerade sehr populären Romane in Erinnerung an den Untergang Napoleons vor 100 Jahren. Aber – es ist Paris! Ein gewisser Roland Garros fliegt über das Mittelmeer, aber hier fliegen die Herzen.
In dieser Stimmung nun streift H.D. durch den 8. Bezirk und findet das alles wirklich schön. Er ist in bester Laune, vermögend, und hat auch einiges vor. Er wird ab und zu zur Jagd eingeladen, er legt wert auf sein Äusseres, er möchte wie so viele Paristouristen vor und nach ihm etwas mitnehmen, was es daheim nicht gibt, und andere in Neid und Erstaunen versetzt. In der Rue de la Pepiniere, Nummer 14, residiert eine englische Firma, und dort wird er vorstellig, schaut sich deren Silbersachen und Koffer an, und gibt dann einen Spezialauftrag: Einen Koffer für Kosmetik und auch für die Jagd, nicht einen dieser winzigen Dressing Cases für Damen aus Krokodilleder, sondern einen echten, grossen Koffer, 18 Kilo schwer, das trägt ja alles die Dienerschaft, mit allem, was man so braucht, wenn einen französische Bekannte auf ein Wochenende in ihr Landhaus einladen. Man will ja auch den Töchtern gefallen, also sollte genug Platz für mehrere Anzüge und Reitstiefel sein. Aussen glattes Rindsleder in Hellbraun, und darüber ein Leinenüberzüg, um den Koffer zu schützen.
Billig ist das nicht, aber es ist 1913, die Finanzkrise von 1907 ist überwunden, und damals gibt es noch keine Flachbildschirme, keine iPhones und nach drei Jahren veraltete Digitalkameras, man braucht nicht jedes Jahr einen neuen Rechner, und die Kleider erwirbt man auch nicht für eine Saison. Das Geld, der Reichtum des H.D. muss sich andere Wege suchen, Porzellan vielleicht oder Kronleuchter, eine Vollsavonette vielleicht oder eben auch ein Koffer, mit Holzrahmen, gefüllt mit Bleikristall und dem besten Leder, das man bekommen kann. Sieht auch in hundert Jahren noch wie neu aus, behauptet der Verkäufer, und innen wirs alles mit Schweinsleder ausgeschlagen. Es ist 1913. Es ist Sommer. Es ist Paris. Das Leben ist schön. Der Auftrag dauert zwei, drei Wochen, aber H.D. hat genug Zeit zu warten. Der Koffer aus bestem englischen Hause wird ihn auch 1914, 1915, 1916, 1917 in den Urlaub begleiten, denkt er, im Zug wird er Europa durcheilen und lachen über jene Spinner aus Russland, die sich in ein Passagierflugzeug setzen, wo man solche Koffer natürlich gar nicht mitnehmen könnte – aber was bringt einem die Eile des Fliegens, wenn man am Ziel kein Pfund Silber hat, und sich aus Kartonagen pflegen muss?
Die Geschichte, wie wir wissen, wollte es anders. 1913 war die letzte Saison für Deutsche in Paris, 1914 plünderte man in Berlin französische und in Paris deutsche Geschäfte und wollte die jeweils andere Nation schnell und nachhaltig besiegen, wie es in den blutrünstigen Romanen stand. August Macke und Franz Marc starben in Frankreich, und die Russen bauten die Passagierflugzeuge in Bomber um. Vielleicht war H.D. zu alt, um noch in den Schützengräben sein Leben geben zu müssen, für Gott, Vaterland und all die anderen sinnlosen Dummheiten, aber so makellos, wie sein Koffer erhalten ist, hatte er kaum Gelegenheit, ihn zu benutzen. Etwas Parfüm ist einmal ausgelaufen, die Schutzhülle ist sehr staubig, aber viele Gegenstände wurden offenkundig nie benutzt. Die Helferlein für Jagd und Ausritt etwa: Die Monogramme auf dem Elfenbein der Stiefelanzieher sind nicht angerieben, der Flachmann mit dem Becher im Fuss riecht nach nichts, er ist unbenutzt wie 1913 – jenes Jahr, in dem, wie die englischen Silberpunzen verraten, dieses für einen derartigen Koffer ungewöhnliche Stück hinzugefügt wurde.
In der Schreibmappe ist neben dem Schreibgerät aus Silber und Elfenbein auch Löschpapier; darauf findet sich die Unterschrift einer Waltraud, aber niemand, der mit H.D. gezeichnet hätte. Wirklich benutzt wurde auch nur das Mäppchen für die Maniküre; Rasierpinsel, Bürsten, ja sogar die Streichhölzer warten immer noch auf jemanden, der sie verwendet in der Art, wie es 1913 von H.D. gedacht wurde. Aber dann kam der Krieg, danach die Inflation, der Börsenkrach von 1929, dann Hitler und mit ihm der Völkermord, der dafür verantwortlich ist, dass wir heute bei alten Koffern mitunter nicht an feine Wochen in Nizza oder Karlsbad denken, sondern an Viehwaggons und Auslöschung. Es kamen dann die Flugzeuge, in denen man keine Koffer mit 18 Kilo Lebendgewicht mitnehmen konnte, die Kofferträger starben aus, die Autos hatten zu kleine Gepäckabteile, und die Erben des H.D. wussten am Starnberger See mit dem Koffer auch nichts mehr anzufangen, als ihn in seinem Leinenanzug verstauben zu lassen, und sich nicht darum zu kümmern, wenn sich Flüssigkeiten auflösten und das englische Silber schwarz anlief.
Es ist nur ein Koffer, der in Pfaffenhofen auf dem Flohmarkt stand, und der mich, der ich die Jagd- und Trinkleidenschaft meiner Vorfahren vehement ablehne, natürlich sofort mit seinen Stiefelanziehern und dem Flachmann hinterhältig ansprang. Ein herrenloser Koffer, von einer alten Frau am Samstag verkauft und am Sonntag schon feilgeboten, ein vergessenes Versprechen an einer Weggabelung dieses Kontinents, an der man sich keinen übleren Fortschritt als jenen hätte vorstellen können, der auf uns gekommen ist. Wahrscheinlich hätte man die Habsburger und Preussens Militarismus auch so irgendwann weggefegt, der ganze Adelsplunder passte nicht in das 20. Jahrhundert, und als es dann nach all den Toten endlich zu einer Demokratie kam, kam es auch zu Massengeschmäckern und Discountern, zu Stangenware und Chinaimporten, zu Profit Centern und leichtem Gepäck aus Kunststoff und mit Rollen unten dran, mit eiligen Geschäftsfliegern vorne dran, die alle Welt über Twitter und anderes Prim@entum wissen lassen, wo sie gerade Hektik und billige Anzüge verbreiten. 1913, im Sommer in Paris, hat man sich das ganz sicher nicht so vorgestellt. Und wenn ich ehrlich bin, stelle ich mir die beste aller möglichen Welten, selbst wenn wir noch einmal davon gekommen sind, auch 2009 und 2010 nicht so vor.
Natürlich kenne ich bei solchen Gelegenheiten keinerlei vornehme Dsurüghaldung oder wie das heisst. Mitunter sagen manche, ich sei “retro”, aber ich hebe mit lieber an 18 Kilo einen Bruch, als dass ich das Klappern eines Rollwägelchens verbreite. Ich weiss auch, dass die Schattenseiten der “guten alten Zeit” Elend und Hunger in den schlechten Vierteln waren, und das Elend unserer Tage mit Glotze, Bildzeitung, Welt, HartzIV, in Polyester und Ikea versunken, ist ein durchschnittlich besseres Elend geworden. Ich möchte nicht die Syphilis haben, die H.D. vielleicht bei der angebrochenen Tochter seiner französischen Freunde erwarb, ich mag meine Gasheizung und den Umstand, dass ich das Netz für mich benutzen kann, ohne dass mich das Netz missbraucht. Ich würde niemals 1913 leben wollen, aber genauso, wie es 1914 eine bessere Alternative gegeben hätte, glaube ich auch, dass es sie 2010 geben wird. Und das würde ich gern suchen und finden. Und damit meinen leeren Koffer so füllen, dass er mit 97 Jahre Verspätung eben doch kein leeres Versprechen mehr ist.
Und da kommen Sie ins Spiel. Denn ich werde nicht einfach zusammen mit meiner in Dinglichkeiten bewährten Copilotin losfahren und ein paar historische Urlaubsorte aufsuchen, die H.D. nicht mehr gesehen hat. Was ich machen möchte ist: Eine angenehme Reise zu erfreulichen Ort, wo es jene schönen Dinge gibt, die Ihr und mein Leben bereichern. Ich möchte die Tuchweber in Biella sehen und die Trüffelsucher im Piemont, ich möchte in London Bankstern Wohnungen in der Schweiz verkaufen, die ich gar nicht besitze, und vom Profit Silberkannen erbeuten, ich will Handwerker sehen, die wissen, was sie tun und warum es genau so sein muss, ich will Trouvaillen und Preziosen, das Besondere und das Andere, ich möchte 2010 den Koffer vollstopfen mit allem, was es noch gibt und vielleicht auch noch lange geben wird, wenn sich nur genug finden, die Globalisierungskritik nicht als Phrase, sondern als Aufforderung zu Lust, Liebe und Lebensglück auffassen, und die die richtige Abzweigung von der Autobahn des globalen Containermarktes kennen. Der Koffer ist gross und leer, die Copilotin hat auch einen, und wenn Sie Ideen haben, wo man diese Menschen und ihre Dinge findet, um sie zwischen Schweinsleder zu betten – her damit: Es stand 1913 nicht geschrieben, dass sich das alte Europa in den Schützengräben zerfleischen würde, und es steht 2009 nicht geschrieben, dass wir als bei kik, Aldi, RTL, Springer und Mediamarkt enthirnte Barbaren vergessen, wofür es sich wirklich zu leben, reisen und erzählen lohnt.