Orgien! Orgien! Wir wollen Orgien!
Asterix und der Kupferkessel
Als ich 16 Jahre alt war, warfen mich meine Eltern aus dem gemeinsamen Urlaubsnest. Sie gaben mir Geld und Reiseschecks, ich packte meine Tasche, und sie brachten mich zum Bahnhof. Ich stieg in den Zug, und am nächsten Morgen war ich in Florenz. Das Abenteuer war gering, ich kannte schon alles, mietete mich im üblichen Hotel ein, besuchte kurz Pineider, um Geschenke zu kaufen, und strolchte den Rest der Zeit durch Museen, Kirchen und die Ruinen von Fiesole. Das entsprach – und entspricht – meiner Vorstellung von einem schönen Urlaub, ich sass stundenlang im Theater oberhalb des Arnotales und war sehr andachtsvoll. Ich schloss die Augen und hörte oben in den Rängen, wie unten die japanischen tuschelten. Die Grillen zirpten, die Sonne schien, und am Abend begann Florenz zu funkeln.
Heute würde ich vielleicht anders reisen. Die Uffizien, deren römische Marmorplastiken nicht wirklich übermässig gute Kopien griechischer Originale sind, würde ich womöglich mehr unter dem Aspekt der Kunstsammlungsgeschichte betrachten, und stünde ich vor der Ringergruppe, würde ich wissen, dass ich es hier nicht mit dem Inbegriff von Kunst zu tun habe, sondern nach Meinung der klassischen Archäologie eher mit einem minderwertigen Beispiel des hellenistischen Manierismus, der hierzulande sehr verpönt ist, wenn es nicht gerade um den allerdeutschesten Pergamonaltar geht. Mir jedoch ist das egal: Ich nehme alles. Im Museum und bei mir daheim.
Dort stehen Dutzende von Museumsreplikaten herum, in Jahrzehnten bei Trödlern, Ausstellungen und im Internet erworben, dazu Stiche von Ruinen und italienische Veduten auf Papier und Leinwand. Ab und an belohne ich mich mit einer dieser Kleinigkeiten, deren Preise zumeist atemberaubend hoch sind – man sollte nicht glauben, dass es sich hier nur um Gipsabgüsse handelt, aber sie sind begehrt und selten. Ein kleines Sammelgebiet für eine kleine Gruppe von Menschen, die gebildet sind und sich das Vergnügen leisten können. Entsprechend lustig geht es bei mir durcheinander, Polyklet neben einem Alexanderkopf, eine Büste des Wagenlenkers von Delphi neben dem Kopf des Fauns aus Pompei, ein kretisches Idol neben einem Sargrelief aus spätrömischer
Jetzt ist es gefallen, das böse Wort. Spätrömisch. Zwar zeigt mein Relief einen Zug der Juden durch das rote Meer und einen ertrinkenden Pharao, wie zu jener Zeit nicht selten und obendrein bei anständigen Leuten in den besseren Vierteln der römischen Metropolen beliebt war. Aber einem Politiker einer liberalen Partei namens Westerwelle hat es gefallen, die späte römische Kaiserzeit mit Dekadenz in Verbindung zu bringen. Nicht im Sinne des “Zerfalls” der klassisch römischen Kultur, jenem Sinne also, den “Dekadenz” in der Wissenschaft hat, sondern im Sinne der Hängematte auf anderer Leute Kosten (die mir auch nicht unbekannt ist), Dekadenz in der Variante der Sandalenfilme oder was sonst der Politiker so von der Kulturgeschichte des Alten Europa mitbekommen hat, . Es muss wenig sein. Sehr wenig. So wenig, dass man sich gewünscht hätte, der Politiker hätte auch Eltern gehabt, die ihm eine ordentliche Erziehung hätten angedeihen lassen.
Manche werden dem Politiker vorwerfen, er sei ein Hetzer und diskreditiere mit seinen Einlassungen zur Verteilung staatlicher Gelder weniger reiche Menschen; ich aber finde, dieser Politiker ist etwas viel Schlimmeres: Er ist ungebildet. Ungebildet deshalb, weil er den eigentlichen Sinn des Wortes Dekadenz kennt, das er missbräuchlich verwendet. Und weil er keinerlei Ahnung von den politischen Herausforderungen jener Epoche hat, die man als spätrömisch bezeichnet, und die vom Zerfall alter Strukturen geprägt ist: Die römische Reichskrise ab dem 3. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung hatte ihre Ursachen nicht in einem ausschweifenden Luxusdasein der Römer, sondern in einer ganzen Reihe von aussen- und innenpolitischen Veränderungen, denen mit dem alten System der Kaiserzeit nicht mehr beizukommen war. Germaneneinfälle im Norden, der Krieg gegen die persischen Sassaniden im Osten, Abspaltungstendenzen im Nahen Osten und in Frankreich, innenpolitische Wirren und Aufstände – die spätrömische Epoche hatte genug andere Sorgen, als dass sich irgendeine Schicht dem reinen Luxus hätte hingeben können. Entsprechend wenig luxuriös sind gemeinhin die Funde aus dieser Epoche. Es waren sehr schwere Zeiten, und in der schlimmsten Zeit, der 2. Hälfte des 3 Jahrhunderts, war es keinesfalls sicher, dass das Reich überleben würde.
Aber es gelang, das Reich nach Aussen zu verteidigen und nach Innen zu festigen. Dazu gab es eine Steuerreform und neue, besser geeignete Verwaltungseinheiten, es gab flexiblere und kostengünstigere Militärstrukturen, und eine Neuordnung der religösen Belange. Es war nicht möglich, den kulturellen Standard früherer Zeiten zu halten, und noch unter Constantin war man in Rom gezwungen, den Triumphbogen mit geplünderten Friesen ältere Bauten zu schmücken. Aber das Reich überwand die Krisen und brach nicht zusammen, durch den Zerfall alter Strukturen wurden neue Lösungen gefunden, die den neuen Herausforderungen entsprach. Moderne Geschichtsforschung sieht deshalb in den besseren Aspekten der Spätantike nicht den fetten, fressenden Römer, der sich das Erbe verplempernd dem Untergang entgegenprasst, sondern eine evolutionäre Phase des Übergangs zum Mittelalter und zu Strukturen, auf denen sogar spätere Invasoren wie Goten, Langobarden und Merowinger aufbauen können, bishin zur karolingischen Translatio Imperii.
Natürlich gab es auch schon in der Spätantike ungebildete Idioten. Die meist von den besseren Víerteln betriebene Geschichtsschreibung des 3. Jahrhunderts ist voller Gift und Galle gegen die Kaiser dieser Epoche. Es handelte sich um gewissenlose Aufsteiger, die als kulturlose Heerführern Karriere machten, später in Krisenmomenten von ihrem Pöbel als Herrscher ausgerufen und gut behandelt wurden, solange es etwas zu verteilen gab. Gerade aber diese gierigen Horden und ihre Ansprüche machten es in dieser Epoche so schwer, sich der wirklich drängenden Probleme des Reiches anzunehmen. Wer als Herrscher nur überlebte, weil der eigene Mob zu ihm stand und gefüttert werden wollte, musste sich zuerst um diese Freunde und ihre Wünsche kümmern. Darüber blieb vieles, was für die Gemeinschaft wichtig gewesen wäre, liegen – aber was sollte man schon von einem illyrischen Strauchdieb und seiner raubgierigen Bande anderes erwarten, sagte man in den besseren Vierteln Roms.
Das alles ist lang her, aber vielleicht nicht so uninteressant, dass man es mit einem falschen Schlagwort wie Dekadenz zusammenfassen und entwerten sollte. Meine Eltern waren so nett, aus mir einen gebildeten Menschen zu machen, und ich habe das Glück, den Sachverhalt hier differenziert darstellen zu können – dieser Politiker jedoch ist nicht nur ungebildet, was per se schon schlimm genug ist, denn wer wird schon gerne von Menschen regiert, die ihr Geschichtswissen epochalen Werken wie “Conan der Barbar” oder Ähnlichem verdanken. Das besondere Elend in diesem Fall ist, dass der Politiker die Möglichkeit hätte, den Menschen Geschichte und ihre Lehren zu präsentieren, und statt dessen mit seiner gnadenlosen Nichtbildung den Mund öffnet. Hätte er das als Consul im spätantiken Rom gemacht, hätte man noch am gleichen Abend Gift bestellt und ein wenig mit dem Koch geplaudert. Wir sind über anderthalb Jahrtausende später kulturell natürlich höherstehend.
Gerade deshalb aber finde ich es wichtig, dass man sich mit Geschichte auseinandersetzt. Wer die Vergangenheit kennt, kennt auch deren Fehler, oder wie es der Historiker Georges Sorel es einmal so treffend sagte:
“Wir wissen vollkommen, dass die Geschichtsschreiber der Zukunft unfehlbar finden werden, dass unser Denken voller Einbildungen gewesen ist: weil sie eine vollendete Welt hinter sich sehen werden.”
Ich persönlich würde es fraglos präferieren, wenn diese unsere Welt einmal so hübsche Ruinen wie in Fiesole hinterlassen würde, gute Reden kluger Politiker, und man unsere öffentlichen Bildwerke auch schätzte. Aber dann denke ich an ein Bild von Herrn Westerwelle und versuche es mir in den Uffizien… Zerfall ist nicht schlimm, Zerfall gehört dazu, aber die Frage ist immer noch, wie man zerfällt, und wie man im Zerfall den Gebildeten in Erinnerung bleibt.
Begleitmusik: Dann nämlich hat man vielleicht auch das Glück, noch Jahrtausende später geschätzt zu werden. So ist es den römischen Dichter wie Catull, Vergil und Horaz widerfahren, die in der Florentiner Renaissance im – zugegeben, erfundenen – antiken Stil vertont und aufgeführt wurden. Danach vergass man diese Bearbeitungen wieder, aber das Ensemble Daedalus hat sich die Mühe gemacht, diese Stücke dem Vergessen zu entreissen, und Alpha bringt sie als CD unter dem Titel Musa Latina. Eine Warnung an mitlesende Politiker vielleicht – nicht leicht genug für einen Abend vor der Glotze mit Schwarzenegger, aber wenn ich dereinst wieder nach Florenz fahre, nehme ich die CD sicher mit.