Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das Versagen des heiligen Feuilletons deutscher Nation vor dem Westviertel

Journalismus gehört ohnehin in besseren Kreisen nicht zu den Traumberufen für den Nachwuchs. Wenn aber dieser Berufsstand mal wieder versagt, ist es für die Familien solcher Problemfälle doppelt schwer, damit vor anderen Eltern zu bestehen, deren Kinder etwas Anständiges - reiche Geschiedene, Schönheitschirurg, Anwalt, Banker, vielleicht sogar Maurer - gelernt haben. Gerade ist es mal wieder so weit, weniger wegen der Plagiatorentätogkeit von Frau Hegemann, als vielmehr wegen des wirklich peinlichen Betragens derer, die den Fall schön reden, um weiterhin als unfehlbar zu gelten.

Saubreit und fett stand die Fläche im Raum.
Airen, Moment

Meine Eltern und ich leben in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es dauert immer etwas, bis die grossen Nachrichten und Debatten zu ihnen dringen, die bei mir sofort auf den Bildschirm drängen. Dafür wüsste ich sehr wenig vom Tratsch meiner kleinen, dummen Heimatstadt an der Donau, wenn ich meine Eltern nicht hätte; Steuerhinterziehungen, detailgenau Beschreibungen der Kriege zwischen Schwiegermüttern und -töchtern, neueste Liebschaften unwürdiger Natur, ein versagender Modearzt und die neuesten Küchentrends, das alles findet in rasend schneller Zeit im Westviertel Verbreitung. Im mittlerweile notorischen Fall der Plagiatorin Hegemann hatte ich einen beträchtlichen Vorsprung: Ich schlichtete gerade im Schneetreiben ein paar neue Festmeter Buchenholz, nach denen die Katzen ob des kalten Winters maunzten, denn nur die Holzofenwärme behagt ihnen – als meine Mutter vor die Türe trat und mich fragte, ob ich schon mal etwas von einer Hegemann aus Berlin gehört hätte.

Ja, sagte ich.
Und ob ich wüsste, was für ein Zeug die schreibt, und dass sie es auch noch klaut.
Ja, sagte ich, ich habe sogar dazu schon etwas geschrieben.
Darüber schreibst Du, fragte sie mit leichtem Entsetzen.
Ich finde das auch schlimm, also habe ich mich davon distanziert, betonte ich.
Aha, sagte meine Mutter. Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn sich die FAZ für so etwas hergibt. Das ist ja grässlich.
Ich biss mir auf die Lippen und murmelte etwas von der Notwendigkeit, sich auch mit so etwas auseinander zu setzen. Ich sagte nicht, dass das heilige Feuilleton deutscher Nation versagt hatte: Nicht nur so ein wenig versagt, oder etwas falsch lag. Es hat systemisch versagt.

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Ich könnte meiner Mutter vielleicht noch das Prinzip des Hypes um das Buch erklären. Jahrelang mühte sich das heilige Feuilleton deutscher Nation ab, aus den Schreibschulen des Landes vom Open Mic über das Literaturinstitut in Leipzig bis in die Klagenfurter Abgründe neue junge, weibliche Literaturhoffnungen zu entdecken, die sog. Germanistinnenliteratur schrieben. Geschichten von und über junge Frauen mit Modeproblemen vom Ekzem über die Kotzbrechsucht und Magersucht bis zu anderen Auslösern für wortkarge, aber angeblich tief gründende Innerlichkeit. Das heilige Feuilleton deutscher Nation jubelte, die Prinzesschen wurden bepreist, durften Stipendien geniessen und wurden nach zwei Jahren spätestens durch neue Prinzessinnen mit neuen Figuren und neuen Krankheiten ersetzt, deren Bücher auch niemand lesen wollte. Dann verfasste eine schreibunfähige Musik-TV-Moderatorin ebenfalls einen Roman über so eine Figur mit Ekel vor sich selbst, nur eben nicht mehr tiefgründig, sondern obszön, und verkaufte das weitgehend am heiligen Feuilleton deutscher Nation vorbei in riesigen Mengen. So also, begriff das heilige Feuilleton deutscher Nation, geht das mit Prinzessinnen, die nicht verramscht werden.

Und stürzte sich begierig auf Helene Hegemann, die in allem noch etwas schärfer zu sein schien. Noch jünger. Noch authentischer. Noch krasser, Noch härtere Geschichte. Noch kaputterer Charakter der Hauptfigur. Noch mehr Ekel und Hass und Verzweiflung. Gut, sie kam zwar nicht aus Leipzig und auch nicht aus Klagenfurt, aber dennoch aus dem gleichen Betrieb wie man selbst, man wusste, wer der Vater ist, den Wunderkindstatus hatte sie schon von anderen, durch den Betrieb geförderten Projekten, und was sie so sagte, klang auf die Art klug, die das heilige Feuilleton deutscher Nation so schätzt: Jung und doch altklug, und stand im Buch nicht auch das eine oder andere über Philosophen, von denen das heilige Feuilleton deutscher Nation auch schon was gehört hat? Hatte sie nicht den perfekten Betriebsstallgeruch? Und stammte das Werk nicht von den bekanntesten deutsch-berliner Literaturagenten Eggers und Landwehr, wo jeder einen kennt, der auch dort ist? War nicht die Lektorin eine Berühmtheit unter den Lektoren? Und gab sich nicht der Verlag auch alle Mühe? Was auch immer den Ausschlag gab, der Apfel war so verlocknd, dass das heilige Feuilleton deutscher Nation zugriff und schluckte.

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Und den Apfel nicht mehr aus der Speiseröhre bekommt, nachdem ein paar Leute aus dem Internet, nicht aber all die klugen Vertreter des heiligen Feuilleton deutscher Nation gemerkt hatten, dass mit dem Buch und der Autorin etwas faul ist. Hätte das heilige Feuilleton deutscher Nation nicht unisono geschrien, dass dies der beste Apfel aller Zeiten ist, würde es ihn vielleicht ausspucken – aber wer sollte dann noch glauben, dass das heilige Feuilleton deutscher Nation unfehlbar wäre? Und nun sitzt also das heilige Feuilleton deutscher Nation da, glotzt alle mit Kuhaugen an, die es ob der Fehlleistung auch anstarren, würgt am Apfel und überlegt, wie es da wieder rauskommt, ohne das Ding auf den Tisch zu kotzen und damit einzugestehen, dass es auch nur ein paar nicht unbescheiden auftretende, aber nicht allzu kompetente Leute ist, die in einem Betrieb zusammenkleben und dadurch höchst anfällig für die Tricks von Verlagen sind. Verlage, die das heilige Feuilleton deutscher Nation so gut berechnen können, dass sie Frau Hegemann für ihr plagiiertes Machwerk einen, wie Gerüchte besagen, nicht niedrigen sechsstelligen Vorschuss zahlen und fest damit rechnen, dass das heilige Feuilleton deutscher Nation den Rest besorgt.

Soweit, so erklärbar. In den deutschen Westvierteln sitzen weder Unmenschen noch Idioten, und gerade diese Zielgruppe des heiligen Feuilletons deutscher Nation sieht es sicher gerne, wenn sich die medialen Dienstboten ordentlich benehmen und einsichtig sind. Es wäre eigentlich gar nicht so schwer, das Problem aus der Welt zu schaffen: Man müsste aufklären, warum es passierte und sich für Fehler entschuldigen. Die Aufklärung könnte sogar eine sehr reizvolle Aufgabe sein, sind die Fragen doch so offensichtlich, dass man sie einfach aus den Leserkommentaren deutscher Feuilletonbeiträge ziehen könnte. Da kommen sehr schlaue Frage, wie: Warum haben die enorm gut bezahlten und frühzeitig involvierten Agenten nichts bemerkt? Warum hat das Lektorat nicht genauer geprüft? Nachdem der Vater das Buch, aus dem abgeschrieben wurde, für seine Tochter bestellte – kann es nicht sein, dass er noch grösseren Anteil an der Entstehung des Buches hat? Wer von den Rezensenten kannte schon vorher den Vater und/oder die Tochter? Wer wollte unbedingt der Entdecker eines neuen Stars sein, welche Eitelkeiten des Betriebs spielten eine Rolle, alles Fragen, die man stellen könnte, allesamt im Herzen des Kulturbetriebs, dessen Sachwalter das heilige Feuilleton deutscher Nation zu sein in Anspruch nimmt.

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Die Fragen wurden und werden, von ein paar Ausnahmen abgesehen, innerhalb des Betriebs so gut wie nicht gestellt, und wenn in der Frankfurter Rundschau eine Kritik daran steht, erscheint sie unter Pseudonym. Niemand nimmt die Beteiligten ins Gebet, und auf das grosse Sittengemälde, das die Mechanismen des Hypes erklärt, wartet man vergeblich. Statt dessen hat das heilige Feuilleton deutscher Nation einen anderen Beschluss gefasst: Es kann sich die Blamage nicht leisten, es kann sich die Diskreditierung des gesamten Stranges von der Autorin bis zu sich selbst nicht leisten, und das, obwohl der Verlag inzwischen am Ende des Buches Zeilen eingestehen muss, dass der Roman “weitere Zitate” beinhalten kann und eventuelle Rechteinhaber bittet, sich zu melden. Eine verlegerische Bankrotterklärung, aber das heilige Feuilleton deutscher Nation hat sich inzwischen auf Verlagslinie bringen lassen und spricht, nein sprücht höchgüstüg von Intertextualität und dem Recht auf Remix.

Die Blogger und Internetnutzer sind je nach Argumentationsschema mal die Generation, die diese Kultur geprägt haben, oder mal die fiesen Hasser, die Volker Weidermann von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschrieb – und darauf hinzuweisen vergass, dass er selbst in der Jury des Leipziger Literaturpreises sitzt, der die Bedenken wegen des Plagiats beiseite schob und das Buch auf die Short List setzte. Vergessen hat seinen Verwicklung auch Hegemann-Unterstützer Daniel Haas von Spiegel Online, dessen eigenes Buch ebenfalls bei Ullstein erscheint. Ein tolles Buch, liest man immer noch, ein wichtiges Buch, eine Stimme der Jugend, eine talentierte Autorin, lernt das endlich, Ihr blöden Leser und seid gefälligst still, wenn das heilige Feuilleton deutscher Nation das verkündet, was stimmt, selbst wenn es zum Himmel stinkt, und wenn Ihr tausend Kommentare unter die Beiträge schreibt: Es interessiert keinen. Es geht nicht um diese Frau, die ist fertig und durch, wird vielleicht noch bepreist und dann nicht mal mehr mit der Kneifzange angefasst, sobald sie vergessen ist – es geht allein um das unfehlbare heilige Feuilleton deutscher Nation, das Recht hatte und Recht haben wird. Wenn das Buch trotzdem toll ist, spricht nichts gegen die Unfehlbarkeit, und alle peinlichen Fragen über die Verfilzung des Betriebs sind nicht mehr nötig. Und nach der Buchpräsentation setzen sie sich hin und schreiben den nächsten Text über die ungehobelten Idioten im Internet.

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Nun schlichtete ich mein Holz im Westviertel und nicht an der Aussenwand des Springerhochhauses, und deshalb wäre es mir gegeben gewesen, danach beim traditionellen, hausgemachten Apfelstrudel einen schicklichen Vergleich zu bringen: Ich könnte meiner Mutter sagen, dass sich das heilige Feuilleton deutscher Nation bei der Lösung des Dilemmas an Gratians Concordia Discordantium Canonum orientiert – um 1140 hatte der Mönch Gratian versucht, Ordung in die bisweilen höchst widersprüchlichen päpstlichen Dekrete zu bringen und damit über dem Chaos des alten Kirchenrechts und inzwischen fragwürdiger Einlassungen der Päpste einen Mantel des Vergessens zu legen. Natürlich widersprechen sich die Dekrete immer noch, wie der Anspruch des heiligen Feuilletons deutscher Nation und seine tatsächliche, peinliche Erscheinung, aber immerhin, es ist Gratian, und der hat im Kirchenrecht bis heute gehalten. Man muss sich also nicht aufregen, es ändert sich nie etwas, und das heilige Feuilleton deutscher Nation hat sowieso immer Recht.

Denkt es. Mich allerdings erinnern all diese Leute nicht an Gratian. Eher an eine Bande besoffener Halbstarker, die eine zugedröhnte 17-jährige an das Steuer von Papas Auto gelassen haben, und die bei der Raserei, dem Gebrüll und Gejohle den Wagen der Rezipienten traf und verbeulte. Und nun quillt das erst schockierte, dann aber zumehmend von sich selbst berauschte Jungvolk von den Rücksitzen und schreit die verdutzten Rezipienten an, was sie eigentlich auf ihrer Strasse verloren haben, warum sie im Weg waren, warum sie nicht erkennen, dass alles in Ordnung war und warum sie es überhaupt wagen, hier einen Unfallschaden zu sehen, es ist doch alles prima und die Intertextualitätsbeule im Wagen muss so sein, und überhaupt seien sie schuld und hätten die Fahrerin irritiert, das arme Hascherl. Auf Einsicht und Entschuldigung wartet man vergeblich, es wird gebrüllt, zeilengekotzt und podcastgeschrien, damit diese Idioten endlich verschwinden und die Party in Papas Auto weitergehen kann, und der Verursacherin Freundin Radisch schreit auch noch die Nachdenklich an, das sei alles die Frauenfeindlichkeit alter Männer. Und jetzt sollen die Frager endlich verschwinden und das Maul halten.

Mir ist vollkommen unklar, mit welchem Recht diese Leute eigentlich glauben, sich bei meinen Eltern als Dienstleister für den Kulturbetrieb bewerben zu können. Ich weiss nur, dass mir dieses heilige Feuilleton deutscher Nation – in einem guten, alten Westviertelverständnis – entsetzlich peinlich ist.