Die metaphysische Krise, die sich unseres ganzen Volkes bemächtigt, in Profit umzusetzen.
Yvan Goll, Sodom Berlin
Es mag für einen, dessen Wahlheimat der Tegernsee ist, seltsam klingen, aber ich kann mit Wasser nichts anfangen. Ich schwimme nicht gerne, für das Surfen gibt es viel zu wenig Wind, das Segeln ist ebenso teuer wie kompliziert, und am Strand trifft das ungeliebte Element Wasser auf die mir weitgehend verhasste Spezies Mensch, und die hindert am Lesen. Der See war eigentlich als nette Dekoration zu den Bergen gedacht, ich schaue ihn gern an, und er trennt die Bewohner von Bad Wiessee und Rottach-Egern von mir. Leider steht nicht jeder dem Wasser so ablehnend gegenüber wie ich, und darunter sind so gut wie alle Gäste, die “an den Tegernsee” als “an einen See mit Strand fahren” missverstehen. Ich habe lange Tage am Strand zwischen plärrenden Kindern überlegen können, wie ich dem entgehe, und fand letztlich in einem alten Familienalbum zwischen stolz vorgezeigten Automobilen und Pelzmänteln die Lösung: Ein Faltboot.
In Westdeutschland gehört das Faltbootfahren zu Opas vergessenen Freizeitfreuden. Vor dem zweiten Weltkrieg war es ein Volkssport, danach wurden die Boote aus einer Stoffhaut über Eschengerüst langsam von Plastikbooten und anderen Attraktionen wie dem Auto verdrängt. Die Veteranen modern oft vergessen in Schuppen und Kellern vor sich hin; sei es, dass die alten Herrschaften nicht mehr hineinkommen, sei es, dass die Erben kein Interesse mehr zeigen. Ein Faltboot jedoch passt zerlegt auf den Gepäckträger meines Cabrios, es hilft, dem Strand und den Lärmenden zu entgehen, es befriedigt die wassersüchtigen Gäste, und am Ende erwarb ich über das Internet exakt jenen Faltboottyp, der schon frühere Generationen meiner Familie erfreut hatte: Ein Pionier 520-Z von 1958, gefertigt im nahen Bad Tölz. Und es kam so an, wie man es sich wünscht: Sauber verpackt, gereinigt, gepflegt und – bei über 100 Einzelteilen keine Selbstverständlichkeit – komplett. Der Vor- und Zweitbesitzer hatte sogar seine Telefonnummer mitgegeben, mit der Bitte, ihn anzurufen, ob mit seinem “Pöppchen” auch alles gut gegangen sei.
Ich packte es aus, kontrollierte die Teile, und war sehr angetan von der Präzision der Fertigung, von der eleganten Gestaltung, und von der Sorgfalt, mit der dieser Veteran durch von einer Familie die Jahrzehnte gebracht und schliesslich auf die Reise zu mir geschickt wurde. Das Wort “Anstand” kommt einem da in den Sinn, dieses in weiten Kreisen gar nicht mehr geläufige Wort, allenfalls vielleicht mit einem ironischen Unterton, ist es doch zu oft durch den Mund von Populisten gegangen, wie es auch dem “Respekt” sicher bald ergehen wird, wenn man nicht mehr die Achtung vor einer besonders sorgfältigen Verpackung damit verbindet, sondern die Sprachderivate bildungsferner Schichten. Früher bedingten sich beide Worte; man hatte nur Respekt (oder Reschpekt, in Bayern), wenn man auch Anstand zeigte.
Zum Anstand etwa gehörte es, dass man im Winter als Hausbesitzer selbst den Gehweg räumt. Ich kenne das nicht anders, meine Grossmutter machte das bis ins hohe Alter selbst, und als es für sie zu schwer wurde, übernahm ich die Arbeit. Es ist vollkommen unvorstellbar, das andere tun zu lassen, denn es ist nun mal die Aufgabe des Hausbesitzers, vor seinem Haus für Ordnung zu sorgen. Es war, das gebe ich zu, in diesem Winter nicht die reizvollste Aufgabe, als es nirgendwo mehr Salz gab und das Eis Zentimeter um Zentimeter von Hand weggehackt werden wollte. Das Wetter richtet sich nicht nach Besuch und Tagesabläufen, es ignoriert Winterreisepläne und zwingt zu Nachtschichten, aber es ist die Pflicht, so steht es in den Verordnungen, und man würde das Gerede bekommen, wenn man ihr nicht nachkäme. Dafür ist man Hausbesitzer. Man macht es selbst.
Und undenkbar wäre es, sich an andere zu wenden. Man räumt durchaus bei den Nachbarn mit, wenn die im Urlaub sind, aber nie würde man jemanden bei der Stadt anfordern. Zum Hausbesitzerstolz gehört es eben, nichts von anderen zu verlangen, und für sich selbst zu sorgen. Und dann tritt der ungebildete Herr Westerwelle auf und sagt, dass man ja Arbeitlose das Schneeschippen besorgen lassen könnte. Auf Staatskosten. Um jene asozialen Vertreter der Hausbesitzerzunft zu entlasten, die lieber anderer Leute gebrochene Knochen riskieren, als ihrer Pflicht nachzukommen. Eine Person, die für einen Vortrag mehr als 7000 Euro von der LGT Bank Schweiz AG bekam – eine Tochtergesellschaft jener Bank, die im Zentrum der Liechtensteiner Steueraffäre stand – möchte die immobilienbesitzende Elite von Aufgaben und Kosten entbinden. Was, genau betrachtet, nicht weniger als eine Einladung an Besitzer mehrerer Immobilien ist, zukünftig auf Angestellte zur Schneebeseitigung zu verzichten – wenn die entlassen werden, kommt eben der Staat mit Arbeitslosen vorbei. Anstand? Respekt?
Zum Anstand gehört es in besseren Kreisen eigentlich auch, dass man Fehler eingesteht und nicht vertuscht. Sonst bekommt man Ärger mit den Eltern oder, wenn die es nicht merken, nicht in den Himmel. Idealerweise läuft das in besseren Kreisen nach dem Vorbild der christlichen Kirchen ab, mit den Bestandteilen der Beichte, der Reue, der Busse und der Vergebung. Auf diesem Mechanismus der Moral baut der Anspruch der ethischen Überlegenheit der besseren Gesellschaft auf: Nur durch ständige Einsicht in die eigenen Verfehlungen und die Bereitschaft, sich zu bessern, bleibt man oben an der Spitze und sichert den Abstand zu den Prolls, dem Pack, den niedrigen Schichten, die sich nicht um die Gebote und die Moral scheren und, wenn sie ertappt werden, auch noch alles abstreiten.
Kurz, die sich in etwa so benehmen, wie die katholische Kirche und gewisse Ordensleute, die nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass all die Untaten an ihren Einrichtungen längst verjährt sind. Jedes Mal aufs Neue. Immer und immer wieder. Die gleichen Kreise, die das moralische Rüstzeug für die bürgerliche Moral liefern, die gleichen Kreise, die über sinkende Einnahmen aus der Kirchensteuer jammern und vom Staat einen Ausgleich für ihre finanziellen Verluste durch Abtrünnige vom Glauben fordern. Anstand? Respekt?
Neben einem gewissen Stolz auf den eigenen Besitz und Stand und einem gewissen moralischen Rüstzeug wähnt sich die Elite auch im Begriff des richtigen Kulturbegriffs. Zu diesem Zweck gibt es, wo andere Popstars und Groschenromane haben, richtige Kommissionen und Vereine, Akademien und Förderprogramme, Preise und Laudationes. Eine grosse Nummer in diesem staatlich reichlich alimentierten Kulturbetrieb ist der Poet, Preis- und Titelsammler Durs Grünbein, der zum Fall der Plagiatorin Helene Hegemann in dieser Zeitung mit geringschätzenden Blick auf deren Kritiker zu Protokoll gab (https://www.faz.net/s/RubBE163169B4324E24BA92AAEB5BDEF0DA/Doc~E840FC9CB389A43038939D310DD3237C8~ATpl~Ecommon~Scontent.html):
“Fällt eigentlich niemandem auf, was für ein hässlicher Biodiskurs das Ganze ist? Der wahre Rassismus tobt sich augenscheinlich heute zwischen Jung und Alt aus, zwischen vitalen Welpen und kulturkonservativem Friedhofsgemüse.”
Bislang waren Begriffe wie “hässlicher Biodiskurs” oder “wahrer Rassismus” eigentlich der Analyse von Rechtsextremismus und Xenophobie vorbehalten; hier nun wendet sie ein hochdekorierter und davon nicht schlecht lebender Kulturbetriebsfunktionär auf Personen an, die es wagen, auf die Probleme des Textklaus und des Unrecht rechtfertigenden Kulturbetriebs hinzuweisen. Die Namen des “Friedhofsgemüses” sind in diesen Kreisen allgemein bekannt, aber Grünbein ist nicht nur ein Förderer der Begriffsverwahrlosung, sondern auch noch so mangelmutig, die Namen nicht zu nennen, und sich hinter einer Beleidigung zu verkriechen. Vielleicht lernt man das als staatlich geförderter Stipendiat der Villa Massimo, dergestalt ein “Schlusslicht” hinter eine Debatte zu setzen – ich habe 2000 in Österreich über die blauschwarze Koalition gearbeitet, und kenne das eher von Jörg Haider. Der war ganz gross mit solchen “woass eh a jeda”-Wortspielereien, und wenn er dann doch vor Gericht stand, war alles nur ironisch gemeint. Anstand? Respekt?
Das Elend in all diesen Fällen ist, dass der eklatante Mangel an Anstand nicht dort zu verorten ist, wo er nach der Ideologie der besseren Kreise sein sollte – eben bei den schlechteren Kreisen – sondern recht weit oben an der Spitze genau dieser gehobenen Kreise. Würde sich ein Arbeitsloser im Winter mit einem Eimer Wasser einen bösen Scherz auf dem Gehweg machen, würde man die Polizei rufen. Gäbe es eine Häufung von Missbrauchsfällen in einem schlechten Viertel, würde man die verfehlte Sozialpolitik beschuldigen. Würde ein Rowdy aus einem Problemviertel andere grundlos als Rassisten beschimpfen, bekäme er in der Schule massiven Ärger, und die Eltern würden nachdenken, ob sie ihre Kinder nicht vielleicht doch zu den Jesuiten schickten. Und alle wären sich einig, dass man solche Probleme zum Glück nicht hat. Nun aber werden diese Probleme bei uns offenbar, sei es nach langer Vertuschung, als Arroganz eines sich unangreifbar wähnenden Betriebs, als Angebot zur Entledigung unangenehmer Aufgaben. Und irgendwie schafft man es nicht, mit den eigenen, hausgemachten Problemen so aufzuräumen, wie man das gerne fordert, wenn es andere Schichten betrifft.
Hier nun stellt sich eine spannende Frage: Warum sollte sich eine Gesellschaft eine Elite mit dieser öffentlichen Erscheinung leisten? Warum sollte man Arbeitslosenversicherung zahlen, wenn man nach der Kündigung im Republiksarbeitsdienst den Reichen die Folgen ihrer Versäumnisse beseitigen muss? Warum sollte man Kirchensteuern zahlen, wenn dort sexueller Missbrauch vertuscht wird? Und wie soll man die Notwendigkeit von Hochkultur vermitteln, die nur von wenigen genutzt wird, und deren Profiteure nicht einen Funken jenes Anstandes erkennen lassen, der in meinem sauber verpackten Faltboot zum Ausdruck kommt? Man sagt heute nicht mehr gern Worte wie Anstand und Respekt, sie klingen so unmodern, und vielleicht ergeht es ihnen wie der Faltbootfahrerei, es gibt nicht mehr viele, denen es etwas bedeutet, weil es offensichtlich auch anders geht, auf den Überholspuren, in den Rinnsteinen und Kloaken neben den Trümmern, die früher einmal die Fundamente der “Stützen der Gesellschaft” waren.