Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die elegante Dolchstecherei am kalten Buffet

Gutes Benehmen ist leicht, wenn man dazu keine Alternativen hat. Leider hat die Moderne neben dem unregulierten Internet und seinen Spinnern, auf Randale getrimmten TV-Shows und Konzerten, bei denen gekreischt wird, auch noch zu allem Überfluss mit dem Buffet eine Essensform zur Mode gemacht, die nicht durch Gänge und Besteck reglementiert wird. Doch auch hier beweist sich der Angehörige der besseren Kreise durch tadelloses Benehmen, verfeinerte Technik und die Wahrung des gebührenden Abstands zum Pöbel, der hier leider nicht angehalten ist, sich mit dem Fressnapf unter den Tisch zu bequemen.

Mein Vater ist ein Appenzeller,
der frisst den Käs mitsamt dem Teller.
(trad.)

Im Gegensatz zu den in weniger guten Kreisen kursierenden Gerüchten ist es gar nicht so schwer, sich in der besseren Gesellschaft untadelig zu bewegen. Die bessere Gesellschaft hat klare Regeln und Dogmen, an denen alles vom Besteck bis zur Lebensplanung ausgerichtet ist; und durch diese Alternativlosigkeit ist anderes Verhalten erst gar nicht vorgesehen, und folglich auch nicht möglich. Man tut, was alle tun, und damit ist den Anforderungen Satisfaktion gegeben – der Rest ist das Kleingedruckte, und da kann es jeder halten, wie er will.

Neben der tadellosen, zeitlos-klassischen Kleidung ist eine Grundanforderung auch das angemessene Verspeisen der dargereichten Ergebnisse der Kochkünste. Auch hier kann man so gut wie nichts falsch machen; ein anerkennender Blick mit angedeuteter Verneigung zur Dame des Hauses, wenn man zum Silberbesteck greift, kann bereits Wunder wirken, ansonsten hält man sich sklavisch an die Menüabfolge, legt die Arme eng an, redet nicht mit vollem Mund, hält den Oberkörper gerade, legt die Ellenbogen nicht auf den Tisch und kaut die kleinen, zum Mund geführten Stücke mit geschlossenem Mund. Es ist, wenn man nicht gerade ein paar Monate in Berlin lebte, alles so einfach – solange es kein Vorspeisenbuffet gibt.

Bild zu:  Die elegante Dolchstecherei am kalten Buffet

Das jedoch ist heute oft gerade in Restaurants anzutreffen, und im Nahkampf über den Schüsseln zeigt sich schnell, wer Stil besitzt, und wer keine Kinderstube hatte. Am Buffet sind alle alten Regeln aufgehoben, der Schienenstrang der Etikette weitet sich zum wüsten Rennen, und das ist vielleicht auch der Grund, warum sich bei Medientagen, Empfängen der Landesvertretungen in Berlin und anderen die Gosse nicht ausschliessenden Veranstaltungen diese Nichtdarreichung von Essen durchgesetzt hat: So, wie am  Schweinetrog die Sau der Sau gleicht, ähnelt am Buffet der ein Business Lunch sparende Emporkömmling dem anderen, denn wo es nichts kostet, kann man nehmen und im Zweifelsfall auch stehen lassen, und wo man einmal zahlt, soll man den Teller möglichst überfüllen – man muss nehmen, was man kriegen kann.

Genau das ist der Unterschied zur besseren Gesellschaft, in der man bekommt, was man braucht, und was angemessen ist; nicht mehr, nicht weniger. Das Buffet ist dagegen eine Einladung an die Haltungslosigkeit, an die Gier, an die Zügellosigkeit, und wenn man das Pech hatte, am Abend davor im falschen Lokal handgemachte Tortelli con Zucca zu bestellen und dabei von deren Minderzahl unangenehm überrascht wurde, kann es auch dem Arbiter Elegantiae geschehen, dass er, hungrig und von der Fülle der Auswahl getäuscht, das ein oder andere zuerst übersehen, von einer Delikatesse jedoch bereits zu viel auf dem Teller hat, und somit gezwungen ist, mehr aufzuhäufen, als schicklich wäre – das sieht dann in etwa so aus:

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Generell sind noch gewisse Ordnungsprinzipien zu erkennen, es wurde nicht einfach aufgehäuft, sondern rundum stets Neues angelegt. Das lässt noch ein gewisses Minimum an Überlegung und Stil erkennen, immer noch Welten entfernt von jenen rutschenden Türmen, die man von Hotels mit Geschäftsreisenden kennt – dennoch, es ist zu viel, es ist zu voll, es ist zu schwer, und offensichtlich sah der Verantwortliche für dieses Ungetüm erst zu spät, dass die Gemüsecreme sehr gut zu den eingelegten Paprika, Pilzen, Zucchini und Auberginen passen würde, auf dass alles nicht in schwerem Olivenöl schwimmt. Kurz, es ist zu viel, zu üppig, zu wenig zurückhaltend und durchaus verbesserungswürdig.

Zum Glück nun fand sich dieses Buffet in Oberitalien, genauer, in Valeggio sul Mincio, einem kleinen Dorf zwischen Gardasee und Mantua, berühmt für seine Nudelspezialitäten und eine obszön hohe Restaurantdichte; wen es hierher verschlägt, der kommt nicht zum Hungern, Fasten und Darben, sondern allein der Völlerei und Prasserei wegen – und in Italien fällt es auch nicht so auf, wenn man in besserer Gesellschaft die dort üblichen Portionen nimmt. Im Gegenteil, die typisch deutsche Zurückhaltung käme hier einer Beleidigung des Hauses gleich. Trotzdem, ich befinde mich hier auf der Rückreise in nördliche Gefilde, sei nun geraten, wie man den Teller mehr als nur ausreichend befüllt, ohne dass es aussieht, als habe man gerade seine letzten unter dem Bett befindlichen Pfandflaschenvermögen eingelöst, und müsste sich nun bis zum Ersten auf einen Schlag sättigen.

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Generell gilt es, zu nehmen und nicht mit der dort liegenden Gabel zu stochern; jene gerade bei manchen, in der Regel eher zu dünnen Damen beliebte Unart, mit der das Essen Aller auf Konsistenz geprüft und dann doch nicht genommen wird. Schlimm genug, wenn das auf dem eigenen Teller passiert – am Buffet nimmt man, oder lässt es bleiben. Ausserdem verrät das Stochern einen eklatanten Mangel an Kenntnis dessen, was dort serviert wird. Ein kennerhafter Blick, ein Griff zum Löffel, mehr sollte man nicht tun, denn ein voller Löffel wirkt als erheblich weniger, als vier Löffel, mit denen einzelne Stücke herausgefischt werden. Es ist wie mit dem Schwarzgeld und der Schweiz: All zu oft sollte man am Übergang von A nach B nicht gesehen werden.

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Auswahl ist schön und erfreulich, aber stets ist zu bedenken, dass das Eingelegte – wie etwa die Artischocke – mehr Geschmack und Nährwert in sich vereint, als alles, was lose und jenseits aller Flüssigkeit ist. Im begrenzten Volumen auf einem Teller würde ein Berg Kartoffeln trotzdem sehr viel unmässiger wirken, er würde schon beim Auftürmen sehr viel mehr Zugriffe verlangen, als ein Löffel voller Gemüse in Öl. Es sieht nach mehr aus, als es letztlich ist, und genau das ziemt sich nicht. Kartoffeln sind billig und voluminös, Artischocken sind exquisit und obendrein Bestandteil jedes besseren Stillebens. Und möchte man wirklich viel nehmen, fällt die einheitlich dunkle und dezente Masse zudem weniger auf, als der Berg von buntscheckigen Erdäpfelwürfeln, selbst wenn man so unfein war, den anderen nichts anderes als das Anstandsstück übrig zu lassen. Das jedoch ist unumgänglich, um zu zeigen: Ich, ICH will ja gar nicht alles. (Auch wenn das Meiste und Beste für mich ist, und für Euch Andere reichen ja auch Pommes)

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Von einer Tarte dagegen nehme man, wenn überhaupt, immer nur ein Stück – alles andere würde unmässig wirken. Tarte hat im Übrigen auch den Nachteil, dass sie flach, sehr flach ist. Alles andere dagegen fällt auf, wenn es daneben hoch getürmt ist. Höhenunterschiede, von denen vielleicht noch etwas auf niedere Eben hinabläuft jedoch sind unbedingt zu vermeiden, denn erst dadurch wird die schiere Menge an Essen offensichtlich, wenn man vor aller Augen zu seinem Tisch geht. Deshalb versuche man stets, alle Bestandteile auf eine identische Höhe zu bringen. Auch kritischen Betrachtern bleibt damit das Ausmass der Selbstbedienung verborgen, es stellt sich eine gewisse Gewöhnung ein, wie an die übliche Klientelpolitik einer üblichen Besserverdienendenpartei.

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Nur schlecht kann man sich nun jedoch in den Raum stellen und verkünden, das sei dennoch alles gerecht so, schliesslich leiste man hier geordnete Aufbauarbeit auf dem Teller, und die anderen, denen die Reste bleiben, seien ohnehin nicht in der Lage, die einem gebotenen Dinge zu geniessen. Zu diesem Zweck nun steht jedoch der Salat auf dem Buffet. Man kann es weder sagen, noch sollte man es zeigen, aber mit einem grünen Mäntelchen wurden schon ganze Atomkraftwerkslaufzeitverlängerungen erklärt, und nun hier kann man davon profitieren wie von der Versorgeraktie nach der Wahl: Indem man den Berg gnädig zur Schauseite hin mit Salatblättern bedeckt. Ein voller Salatteller wirkt ganz anders, viel leichter und dezenter, als ein geplünderter Berg all dessen, was für andere nicht mehr übrig bleibt; es ist die Enthaltsamkeit über der Orgie, die Moral über deren alltäglicher Relativierung, der Anspruch über der tatsächlichen Durchführung, die zarte Krönung schwerer Brocken, und letztlich das, was uns von all den gierigen Fressern und Tellerüberladern unterscheidet:

Es fällt  nicht so auf. Und würden wir es nicht tun, die anderen würden es viel hässlicher machen. Und nun – wie wäre es noch mit Tortelli con Zucca?

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